Kolumne September 2022

Der göttliche Daumenlutscher
Zu den wenigen Heiligen, denen auch von evangelischer Seite eine gewisse Verehrung entgegen gebracht wird, zählt Franz von Assisi.
Er war ein Asket, so wie vor ihm noch keiner gewesen war. Er redete mit den Tieren. Wo bittere Feindschaft herrschte, suchte er den Frieden. Wo Aussätzige hinter den Rand der Gesellschaft gestoßen wurden, übte er liebevolle Umarmung.
So demütig und klein war er am Ende, dass er darüber groß wurde. Der von ihm gegründete Orden der Minderen Brüder, der Franziskanerorden, ist heute die größten Ordensgemeinschaft der Welt.
Im frühen 13. Jahrhundert zog sich Franz regelmäßig in eine Grotte am Monte Subasio in Umbrien an den Hängen einer steilen Waldschlucht zum Gebet zurück, um in der Stille seinem Gott zu begegnen.
Heute befindet sich dort das noch immer von Mönchen bewohnte, malerische Eremo delle Carceri. Was für ein wohltuender Kontrast zu der hektischen Pilger-Betriebsamkeit in Assisi, wenige Kilometer die Serpentinenstraße hangabwärts.
Enge Stufen führen den Besucher steil durch die Einsiedelei hinunter in die kühle Stille der Felsgrotte. An der Seitenwand findet sich - etwas unscheinbar - ein Bild, das mich bei der Betrachtung an Psalm 131,2 denken ließ:
„Ja, ich ließ meine Seele still und ruhig werden; wie ein kleines Kind bei seiner Mutter, wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.“
Dann stutzte ich. Wanderte nicht da, wie bei einem kleinen Kind, das sich so vollständig und selbstverständlich in den Armen seiner Mutter birgt, ein Däumchen in den Mund? Christus, der kommende Weltenretter, daumenlutschend an Mariens Brust!
Was für ein Urvertrauen strahlt dieses Bild aus. Was für ein starkes Motiv, das ich mich nicht erinnere, anderswo schon so wahrgenommen zu haben. Es ließ auch meine Seele für einen Moment still und ruhig werden. Geborgenheit. Seelenruhe. Was für ein Angebot. Was für ein Gottesgeschenk.
Ihr
Dr. Philipp Hildmann