Philosophie für heute

Thiemes Zettelkasten:

Die Zettel sammeln sich, die Zettel werden mehr und mehr – heraus kommen interessante und auf ihre Weise aktuelle, philosophische Gedanken und Betrachtungen von Dr. Christian Thieme. Zugleich lohnt es sich, diese Beiträge auch im Rückblick zu lesen, denn sie sind zeitlos. Bis heute erschienen und hier zu lesen sind:

  1. "Thiemes Abschied (07.12.2022)
  2. "Mein Teddy – Klammer um mein Leben" (05.12.2022)
  3. "Von Bildern und Büchern" (07.11.2022)
  4. "Ich Chef, du nix?" (15.10.2022)
  5. Sehnsucht (04.09.2022)
  6. Größe (01.08.2022)
  7. Windstille der Seele? – Leben (müssen) in der Gegenwart (02.07.2022)
  8. Jenseits der „Nützlichkeit“: Zwischen Babel und Pfingsten (03.06.2022)
  9. Spaß an Mathematik? (05.05.2022)
  10. Diplomatie. Verhandeln – seit Kriegsbeginn eine Kunst von gestern !(?) (11.04.2022)
  11. Fassungslos! (10.03.2022)
  12. Sein oder nicht sein: Spielen mit der Maske (28.02.2022)
  13. Mehr Konsequenz? (31.01.2022)
  14. Quittenversteher (28.12.2021)
  15. Der Mensch: deinós (δεινός)!? --- Oder: Was hält die Welt trotzdem zusammen (16.12.2021)
  16. Impfen, Stand 12/2021 (07.12.2021)
  17. Trauer, staatlich verordnet? (24.11.2021)
  18. Verlust der Wahrheit! --- oder: zurück zur Natur (28.10.2021)
  19. Entscheiden (28.09.2021)
  20. Mit_Verantwortung (29.08.2021)
  21. Bleiben Sie utopisch! (05.08.2021)
  22. Was soll eigentlich mal aus dir werden? (15.07.2021)
  23. Kinder impfen oder nicht: eine philosophische Frage (18.06.2021)
  24. Ehre! und Recht! oder vielleicht doch lieber Freunde bleiben! (01.06.2021)
  25. Zweimal "Fürstenspiegel": Zwei Ethiken, und dahinter zwei Menschenbilder (03.05.2021)
  26. Demenz – zwei Kolumnen im Doppelpack (16.04.2021)
  27. Blicke auf die (Un-)Endlichkeit (17.03.2021)
  28. Giovanni Pico della Mirandola – mein schillernder Held (12.02.2021)
  29. Das dünne Eis der Demokratie (07.01.2021)
  30. Glück und Erfolg im Neuen Jahr! (01.01.2021)
  31. Advent zu Hause (03.12.2020)
  32. Vorurteile (26.11.2020)

Wir wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,
Pfarrerin Dr. Anne Stempel-de Fallois und Pfarrer Johannes de Fallois


Reaktion erwünscht!

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Dr. Christian Thieme

Der geborene Niederpöckinger, studierter Mathematiker und Informatiker samt epidemiologischer Promotion war lange als Geschäftsführer einer Körperschaft im Gesundheitswesen tätig, Thieme kann aber auch den Abschluss in alten Sprachen und ein Studium der Philosophie vorweisen.
Besonders aus letzteren Quellen schöpft der Humanist Jahrgang 1952 für „Thiemes Zettelkasten“, den er auf unserer Homepage immer weiter füllen wird.


Ankündigung zur Neuerscheinung:
Die Windstille der vorletzten Station

von Christian Thieme

Mit Illustrationen und kleinen Texten von Frau Hermine Thieme

Klappentext
Thiemes Buch Band 3Ich glaube, es sind gerade dies die Momente, die mich mit dem Busfahren verbinden: Es ist ein kalter, nebeliger Morgen im November, 6:40 Uhr, und du sitzt auf einem kalten Stein an der Haltestelle von Bellezza. Stille, absolute Stille. Es ist stockfinster, nur die Laterne gibt von Ferne ein wenig Licht. Du bist müde und verfroren, denn auch im Haus war es seit Tagen nicht richtig warm. Kommt er, oder war er heute doch einmal zu früh dran? Du bist auf ihn angewiesen, denn ohne Bus kein Zug, und ohne Zug keine Reise. Der nächste Bus wäre zu spät, und ein Taxi rufen, hier hinauf - vergiss es … Natürlich kommt er, er kommt immer. Bis dahin wartest du und horchst.

Das Buch erscheint im LIT-Verlag, ISBN 978-3-643-15174-2, es kostet 24,90 €

 


Christian Thieme, Opas Zettelkasten – Band I

Wenn ein Ehemann, Papa und Opa anfängt, immer weitere Zettel vollzukritzeln und ständig hinter die Klappe seines Laptop abzutauchen, statt wie gewohnt am familiären Diskurs teilzunehmen, bleiben die Nachfragen nicht aus. Was schreibst du denn da die ganze Zeit? – Och…. mal sehen … Nein, so billig kom-me ich nicht davon. Also, ich schreibe über Erfahrungen, die ich in meinem Le-ben gesammelt habe, und verdichte sie zu lesbaren Texten – Also deine Autobi-ografie? – Nein, um Himmels willen. Wen würde die denn interessieren! – Aphorismen? – Nein, Texte – Ja, was denn dann für welche?
Thema meines Buches sind die Beziehungen zwischen Menschen, insbesondere die Beziehungen innerhalb der Familie. Der jetzt erschienene Band I widmet sich den Herausforderungen der ersten Lebenshälfte. Selber (noch) wachsen, andere (schon) wachsen lassen und beides miteinander zu verzahnen: Geht so etwas eigentlich? Die Antwort ist einfach: Es muss gehen, weil es dazu keine Alterna-tive gibt. Wollten wir mit allem abwarten, bis wir selbst „fertig“ sind, dann gäbe es bald keine Familien und keine Kinder mehr. So einfach ist das, und doch so schwer.

Thiemes Buch Band 1

Das Buch ist erschienen im Fromm-Verlag, ISBN 978-613-8-37493-0, und kostet 25,90 €.

Soeben erschienen:
Christian Thieme, Opas Zettelkasten – Band II

Wenn du schon nicht allen gefallen kannst, so gefall wenigstens dir selbst, singt ein amerikanischer Country-Song. Fand ich damals spontan gut. Jetzt stehe ich vor dem Spiegel und sinniere. Zuletzt habe ich mich in der Pubertät so kritisch angeschaut. Später ging es eigentlich ganz gut - aber jetzt passiert es mir wieder. Der Unterschied ist nur, dass ich damals auf Besserung hoffen durfte. Aufbau war angesagt. Und heute? Wahrscheinlich wird es mir in Zukunft immer schwerer fallen, vor dem Spiegel Gefallen an mir zu finden. Dabei ist das essenziell, ich MUSS mir gefallen! Opa zu sein ist schließlich eine gute, vergnügliche Sache, jedenfalls so etwa ab 10 Uhr, wenn alle Tabletten drin sind und der Tag langsam in Gang kommt. Warum diese Ironie, lieber Autor? - Weil ich ehrlich zu mir sein und nicht die Misstöne rhetorisch weglächeln will. Alles toll ist nicht und wird nicht plötzlich wieder sein. Aber mal ehrlich, wer hat das denn? War in der Pubertät alles toll, oder im ersten Job, oder ... - es war nie alles toll. Aber es kann immer gut gewesen sein, wenn ich es nur erkennen wollte, dass es gut war. Und jetzt ist es wieder so, dass es auf meine eigene Wahrnehmung ankommt.

Thiemes Buch Band 2

Das Buch ist erschienen im Fromm-Verlag, ISBN 978-613-8-37611-8, und kostet 25,90 €.


Thiemes Abschied zum 07.12.2022

Dr. Christian Thieme

„Philosophie für heute“ – ein Rückblick.

Nach gut dreißig Ausgaben von Thiemes Zettelkasten soll jetzt Schluss sein. Besser müsste ich sagen: will jetzt Schluss sein, aber das passt sprachlich nicht. Ah, endlich! – wird vermutlich kaum jemand sagen, aus einem einfachen Grund: Das Lesen war ja sozusagen freiwillig, und wer bis hierher ab und zu mitgelesen hat, fand meine Texte vermutlich nicht total daneben, sonst hätte sie oder er sie ja nicht weitergelesen. Methodisch gesehen ist das ein Beispielfall für den sogenannten Volunteer-Bias. Bias ist das Wort dafür, wenn in der Planung oder Durchführung einer Studie oder Erhebung etwas systematisch falsch läuft. Hier speziell geht es um den systematischen Fehler, der z.B. entsteht, wenn bei einer Sache nur die berücksichtigt werden, die sich spontan zu Wort melden. Deswegen habe ich keine rechte Vorstellung davon, bei wie vielen oder wenigen Menschen die Themen insgesamt welche Reaktionen ausgelöst haben. Wer mir dazu etwas schreiben möchte, ist weiterhin herzlich eingeladen! Ich freue mich darauf (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!). Rückwirkend kann ich natürlich nichts mehr besser machen. Aber solange das Leben weitergeht, geht auch das Denken weiter, und vielleicht ja auch immer wieder irgendwo das Schreiben.

Abschied von Thieme

Philosophie für heute war das Motto, das nebenbei gesagt nicht ich selber so formuliert hatte. Aber ich fand es schon einigermaßen passend, vielleicht etwas anmaßend. Und jetzt in der Rückschau?

Komischerweise hat sich der Zusatz für heute als der schwierigere Teil der Mission entpuppt. Denn kaum waren die Zettel halbwegs in Gang gekommen, fing die Welt an, verrückt zu spielen. Die Gefahr, ins Tagesaktuelle abzugleiten, lauerte immer wieder an jeder Ecke. Doch für das, was jeden Tag auf der Welt passiert, gibt es jeden Tag kluge und lesenswerte Kommentare, zu denen mein Zettelkasten nicht sporadisch alle vier Wochen einen weiteren hinzufügen muss. Das braucht niemand, einerseits. Aber kann ich denn andererseits über irgendeines der „unpolitischen“ oder „philosophischen“ Themen schreiben, sei es Quittenernte, Freundschaft oder Mathematik, während gleich nebenan die Bomben regnen, oder ein außer Rand und Band geratener Ex-Präsident mit der Spitzhacke auf seine eigene Demokratie losgeht, oder sich in Bergamo die Kühlhäuser mit den frühen Corona-Opfern füllen, um nur drei Beispiele zu nennen. Ich habe versucht, mit den Themen und mit meiner Art, sie aufzubereiten, die schwierige Gratwanderung zu bestehen. Damit hat der Zettelkasten ein etwas anderes Gesicht bekommen, als ich das anfangs erwartet hatte.

Philosophie für heute – mit dem Anspruch bzw. der Vorgabe, Philosophie zu treiben, hatte ich dagegen erstaunlich wenige Probleme. Das liegt nicht etwa an einer Überschätzung meiner Beiträge, sondern eher am Umgang mit dem Begriff Philosophie. Eine platte und fast resigniert scheinende Definition habe ich einst in einem Seminar gehört: Philosophie findet demnach statt, wenn diejenigen, die etwas betreiben, das, was sie tun, als Philosophie bezeichnen. Das ist zwar provokant überspitzt, aber trotzdem nicht ganz so doof, wie es sich zuerst anhört. Natürlich ist damit nicht die „Philosophie“ des Bordellbesitzers gemeint, wenn er etwa die Methoden, wie er seinen Machtbereich „sauber“ hält, als seine Philosophie bezeichnet. Aber es gefällt mir, wenn ich erzählt bekomme, wie die Erzieherin im Kindergarten mit den kleinen Enkelkindern philosophiert, und wie viel Freude die daran haben. Philosophie ist nichts Abgefahrenes und kein Minderheitenprogramm. Philosophie profitiert davon, wenn sie sozusagen demokratisiert wird.

Zugegeben, mit meiner Freude daran, immer wieder den Spuren und Wurzeln der Gegenwart nachzuspüren und sie zurückzuverfolgen bis in die Antike, habe ich meine gerade proklamierte Parole wahrscheinlich immer wieder Lügen gestraft. Insofern wäre ich vielleicht nie ein guter Angler geworden, weil ich an den Haken zu oft Köder gehängt hätte, die (nur) mir schmecken und nicht den Fischen. Aber das passt ja auch wieder nicht, denn ich wollte ja niemandem einen Haken ins Maul schmuggeln, an dem er oder sie hängenbleiben möge, wie es beim Angeln der Fall ist. Eher schon wie Bert Brecht in seiner Erzählung Der verwundete Sokrates über diesen sagt, dass er als Sohn der Hebamme seinen Gesprächspartnern lieber zu eigenen Kindern verhelfen wollte, als ihnen Bastarde anzuhängen, ihnen also fremde Gedanken unterzujubeln, die mit deren eigenem Denken nichts zu tun haben. So gesehen wäre ich lieber Sokrates geworden als Christian Thieme, aber jeder muss halt mit dem auskommen, was er hat.

Eines jedenfalls gehört zur Philosophie, und das ist die Wurzeltriebigkeit. Nicht Meinungen sollen im Vordergrund stehen, sondern die Wege des Denkens, aus denen ganz am Ende vielleicht fertige Meinungen resultieren. Oder neue Wurzeln, denn was ist denn beim Denken jemals „fertig“… Und dazu ein eigener, zuverlässiger ethischer Kompass, dessen man sich beim Denken in jeder Situation immer wieder bewusst wird. Das ist manchmal schwerer als gedacht.

Ich wünsche Ihnen ein gutes Jahr 2023, oder wenigstens ein so gut es geht Jahr – oh je, wie macht man aus so gut es geht ein Adjektiv?! Na, Sie wissen schon, was gemeint ist.

Alles Gute also!
Ihr Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 05.12.2022

Dr. Christian Thieme

Mein Teddy – Klammer um mein Leben

Auf dem Wandregal über dem Schreibtisch sitzt mein Teddy. Seit sie ihn mir zum 67sten Geburtstag renovieren ließen, hat er dort seinen Platz. Woher wussten sie …? – keine Ahnung, aber es war ein Volltreffer. Vor seiner Generalüberholung hatte er nämlich alle Jahrzehnte seit meiner Kindheit gut verpackt in einer Schachtel verbracht. Abstrakt war damit schon klar, dass mir der alte, fast zu Tode geliebte Teddy offenbar etwas bedeuten muss, aber wahrscheinlich nicht so viel, dass ich jemals selber die Initiative ergriffen hätte, ihn aus der Schachtel zu befreien. Woher also wussten sie…?

Klar, so ganz wie neu ist er in seiner Reha nicht mehr geworden, aber das bin ich ja auch nicht. Wir passen schon gut zusammen. Jetzt wohnt er auf dem Regalbrett und passt auf, was ich am Schreibtisch treibe. Für meine jüngsten Enkelmädchen ist es immer irgendwie prickelnd, Opas Teddy vom Regal zu holen und ihn vorsichtig lieb zu haben, wie sie auch einige der alten Bilderbücher lieben, die sie hin und wieder ansehen und vorgelesen haben wollen.

So hilft mir mein Teddy, nicht den Kontakt zu verlieren zu dem Kind, das ich einst war. Diese Rückbesinnung ist von nicht geringem Wert, denn achten und wertschätzen lässt sich am besten das, woran man sich erinnert und was man sich (noch) vorstellen kann. Dabei gefällt mir die Vorstellung, dass meine Kinder und Enkel physisch sehen können, dass auch der Opa, irgendwie der „Patriarch“ der Familie, der er natürlich niemals sein will, seinen eigenen Teddy besitzt und seine eigenen Bilderbücher. Teddy ist gut gegen zu viel Patriarchentum. Solange er nicht dazu führt, dass sich der Patriarch wider Willen aus seiner Verantwortung stiehlt oder am Ende noch kindisch wird. Doch keine Sorge, weder das eine wird er, noch das andere.

So sitzt er nun also dort oben, rundum auf Vordermann gebracht, und schaut mir beim Schreiben zu. Aber er schaut nicht nur zu: Wenn ich zu ihm hinaufblicke, erwidert er den Blick und fragt mich stumm, wann er denn endlich einmal selbst in den Zetteln zu Wort kommen darf. Ok, sage ich ihm: Heute, im voraussichtlich letzten Zettel, darf er!

Nein, stopp mal, wir sind doch erwachsene Menschen, und Teddys können bekanntlich nicht reden, nicht hören und auch keine Blicke erwidern. Der Kinder-Teddy vielleicht, denn für Kinder spielen die Grenzen der sogenannten Realität keine so große Rolle. Erwachsenen-Teddys jedenfalls können es definitiv nicht, und das hier ist ein ernsthafter Zettel, so ernsthaft wie die alle vorherigen, auch wenn er auf den ersten Blick anders daherkommt. Also sagen wir so: Ich selbst rede hier, nicht mein Teddy. Aber immer, wenn ich ein Stück geredet bzw. geschrieben habe, schaue ich ihn an und überlege, ob es passt.

mein teddy und ich

Mein Teddy, der Anfang

Meine Generation war vom Schicksal in jeder Weise begünstigt. Den Krieg nicht erlebt zu haben – im Jahr 2022 wird man mit solchen Sätzen vorsichtig. Also: Mit Krieg meine ich den zweiten Weltkrieg, und zu begünstigt muss man sich wohl neuerdings und deutlicher als je zuvor ein bis jetzt dazudenken. Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Ich sagte begünstigt und dachte daran, dass genügend Wohlstand war, um einen Teddy zu besitzen, aber gottlob noch nicht genug, um eine ganze Kiste von mehr oder weniger überflüssigen, zusätzlichen Stofftieren zu horten. So wurde aus meinem Teddy der Teddy, und eben nicht einer (unter vielen). Das war die Basis jener Freundschaft, die sich später als eine lebenslange erweisen sollte. Um meine Erinnerungen mit ihm soll es freilich jetzt nicht gehen.

Nur eines vielleicht: So knapp und wertvoll wie Spielsachen und alles andere waren auch Fotografien, und es ist kein Zufall, dass eine der wenigen davon mich, meine Eltern und meinen Teddy zeigt. Fehlender Überfluss ist die erste und wichtigste Voraussetzung, sich mit dem einzelnen Ding oder auch Menschen wirklich zu beschäftigen. 20 Teddys in der Kiste sind für wahre Freundschaft nicht weniger gefährlich als dutzendweise Facebook-„Freunde“.

Mein Teddy, die Mitte

Dass Teddybären im Normalfall Lebens-Abschnitts-Partner sind, weiß auch die Industrie. Selbst die auf Haltbarkeit statt schnellen Verschleiß bedachte Wirtschaft der 1950-er Jahre wäre nicht auf den Gedanken gekommen, einen Teddy für eine lebenslange physische Liebesbeziehung zu konzipieren. Mit anderen Worten: Gegen Ende seiner vorgesehenen Nutzungsdauer war mein Teddy kahl geliebt, mit lockeren Gliedern, aus deren Enden mangels verbliebener Haut die blanke Holzwolle quoll – Holzwolle! Aus heutiger Sicht könnte man ihn direkt einen Bio-Teddy nennen.

So war es fast zwingend, die Beziehung zum Teddy mit dem Eintritt in den zweiten und längsten Lebensabschnitt auf eine neue Basis zu stellen. Zum Liebhaben wurde er nicht mehr benötigt, und die Kinder, die dereinst vielleicht kommen sollten (und auch tatsächlich kamen), waren, dem wachsenden Wohlstand geschuldet, ausreichend mit eigenen Spielsachen ausgestattet. Entsorgen freilich kam nicht in Frage, und so reduzierte sich unsere Beziehung auf das Wissen, dass es den Teddy noch gab und ich mit ihm rein theoretisch etwas Neues beginnen konnte.

Männerrolle! Außen hart und innen ganz weich?

Müssen Männer allen Ernstes einen Teddy haben? Dürfen sie das überhaupt? Wozu soll er ihnen gut sein? – es kommt wohl darauf an, wen man fragt. Meine jüngsten Enkelmädchen finden es, bislang von keiner repressiven Norm beleckt, völlig normal, dass der Opa einen Teddy hat. Es fällt ihnen gar nicht als Besonderheit auf – so wenig wie der kleine Junge, der mit Begeisterung die Prinzessinnenkleider seiner großen Schwester trägt. Erst später kommen die Sätze dazu, die mit man beginnen und mit nicht enden, und ab da wird alles komplexer. Und spätestens im Laufe der Pubertät oder wenig danach wird das erste Leben, das unbekümmertnaive Leben der Kindheit, endgültig zu den Akten gelegt. Es beginnt jenes zweite Leben, das als „Erwachsener“. Zunächst, und deswegen die Anführungszeichen, ist das Erwachsensein nicht viel mehr als ein Anspruch, mit dessen Hilfe es gilt, sich im neuen Leben einen Platz zu erkämpfen und ihn zu behaupten und auszubauen. In dieser Phase erweist sich der Teddy als extrem hinderlich. Volljährig mit 18. Außen erwachsen. Und innen? In der Ukraine wird mit 18 schon gestorben. Und bei uns, in normalen Zeiten? Außen ist der Teddy weg, in die Kiste verpackt, wie bei mir, oder bei anderen im Kleidercontainer oder gleich im Müll, je nachdem. Und innen? Wann verschwindet es, das behütete Wohlgefühl der Kindheit? Und wann kommt es als heimliche Sehnsucht zurück? Da kann jeder bei sich selbst nachforschen. Ich stelle mir vor, dass manche besonders schlimmen Dinge kaum vorstellbar wären, nicht in Familien und nicht in der Weltpolitik, wenn doch jeder Erwachsene, zumal jeder Mann, seinen Teddy im Schrank (und im Kopf) behalten hätte…

Der Teddy und die Gefühle

Männerseele. Herbert Grönemeyer hat sich ihr in seinem Lied gewidmet und sich damit als einer von wenigen schonungslos an das Thema herangetraut: außen hart und innen ganz weich. Es geht um die Rolle, die Männer in ihrem Leben und in der Welt spielen. Aber noch vorher geht es um ihre Haltung zu sich selbst. Motoren und Autos und Formel 1 sind Männer-Themen, dazu, je nach Schicht, Segeln, Golf oder einfach Fußball, Karriere und beruflicher Erfolg und je nachdem, wie einer sich inszenieren will, Weiber. Aber Freiheit ist, wenn ich über meine wirklichen Emotionen so sprechen kann wie andere über die Technik. Manche mögen sagen, die Freiheit, über den Teddy zu sprechen, sei hart an der Grenze zur Narrenfreiheit, und da würde ich gar nicht widersprechen. Für mich jedenfalls gehört zur Freiheit, mich nicht zu scheuen, mit 70 einen Essay über den Zauber des Teddys für einen erwachsenen Mann zu schreiben.

Die Balance finden zwischen innerer Unabhängigkeit und äußerer Einhaltung von Konventionen. Zwischen der Verantwortung für mein eigenes Wohlbefinden, auch das seelische, und meinem Auftreten in der Welt, das nicht zuletzt von der Fürsorge für andere bestimmt wird.

Dürfte man die Bundesaußenministerin fragen, ob sie auf ihren Dienstreisen ein Kuscheltier mitnimmt? Man dürfte es nicht – es würde als Spott gedeutet: das ist die Genderfalle. Dürfte man einen ihrer Vorgänger, etwa Sigmar Gabriel, fragen, ob er damals eines dabei hatte? Spott würde dann als Motiv ausscheiden, die Frage würde lediglich als total dämlich empfunden. Es kommt mir bei diesem Gedankenspiel überhaupt nicht darauf an, ob ein Spitzenpolitiker oder eine Spitzenpolitikerin unterwegs oder am Schreibtisch tatsächlich je ein Stofftier dabei hatte. Zu 99,99 % wäre die Antwort Nein. Wenn schlimme Dinge geschehen sind, öffnet der tote Teddybär auf dem Boden die Herzen und Geldbeutel derer, die spenden sollen und es auch tun. Gut so. Aber was ist vorher?! Was wäre, wenn etwa Herr Putin in der Mitte seines weißen Monster-Tisches, der ihn als Person etwas bedeutender erscheinen lassen soll, einen Teddy sitzen hätte? Ja, dann könnte er seinen Krieg nicht führen. So viel Macht hat ein kleiner Teddy, und deshalb stört er allenthalben.

Wann ist ein Mann ein Mann? Grönemeyers Songtext, ich liebe gute Songs. Weil sie Fragen offenlassen dürfen, die ein Essay beantworten müsste, und weil sie dadurch mehr zur Reflexion beitragen als manchmal ein fertiger Text. Wann also ist ein Mann ein Mann.

Wie ist das also bei mir mit dem Teddy und der Rolle? – Zum Teufel mit Gender. Später, als Erwachsener, gibt ein Kleinkind das weiter, was es selbst erfahren hat. Und in modernen Familien kommt Geborgenheit von beiden Eltern, immer ausgeprägter. Das war nicht immer so. Meine Generation stand an der Schwelle.

Ich sehe mich mit unserem ersten Kind beim Spaziergang. Mutter Studentin, Vater Student, harmonischer Gleichklang der Rollen und Aufgaben. Ende der 1970-er Jahre war das. Und was war rund um uns herum? Wir, d.h. Vater und Kleinkind in den Isarauen, auf dem Spielplatz mit Sandkiste – heute Normalität. Damals war es das nicht: In der einen Ecke etliche Mütter, und und ziemlich verloren in der anderen Ecke ich, der seltsame Jung-Vater. Wurde ich belächelt oder war ich nur zu schüchtern? Das Problem saß in diesem Moment wohl gleichmäßig in beiden Ecken der riesigen Sandkiste. Teddy für alle: Die Elternzeit für Väter ist die Weiterführung des Gedankens und meiner damaligen Erlebnisse.

Mein Teddy, das Finale

Das Leben wird ruhiger. Der dritte (und letzte) Abschnitt lässt mir mehr Freiheit(en). Ich sehe, wenn ich zurückblicke, die Härte in der Mitte. Bei mir war es eine aufgezwungene Härte, und die ist nicht so hart wie eine von innen und aus Überzeugung gelebte. Das hat es erträglicher gemacht, aber trotzdem…

Kinder sollen Respekt vor mir haben. Aber doch nicht deshalb, weil ich erwachsen bin und sie nicht! Respekt durchaus ja, aber auf Gegenseitigkeit. Respekt vor den Bedürfnissen, den Stärken und auch den Schwächen des anderen Lebensalters. Das redet keiner blinden Symmetrie das Wort, weil es die nicht geben kann. Möchtest du jetzt die Sechsfach-Impfung oder lieber nach Hause gehen? – das ist keine Fiktion, das gibt es wirklich. Deshalb sage ich ausdrücklich dazu, dass ich das nicht meine.

Eines haben wir Erwachsenen den Kindern voraus: Wir wissen (noch), wie das war, Kind zu sein. Kinder können nicht wissen, wie es ist, erwachsen zu sein. Das verpflichtet die Erwachsenen, nicht die Kinder. Im Lateinischen hießen sie deshalb liberi, die Freien. Der hilflose Spruch Werde du erst mal erwachsen hilft ebenso wenig weiter wie der ebenso hilflose Versuch, an die Kinder Entscheidungen und Lasten zu delegieren, die sie nicht tragen können.

Es geht mir nicht darum, als Erwachsener immer noch wie früher mit dem Teddy zu spielen. Für mich ist mein Teddy Metapher oder Symbol für eine bestimmte Geisteshaltung. Oder ständige Ermahnung. Oder der Anker in meine Erinnerung. Andere finden dafür andere Metaphern oder Objekte. Darauf kommt es nicht an.

Wieder andere freilich vergessen die Kindheit und tun mit zunehmendem Alter zunehmend so, als wären Kinder fremde Wesen und man selbst nie ein Kind gewesen. Sie prägen das Bild einer vermeintlich kinderfeindlichen Gesellschaft, in der etwa extra Hotels für Erwachsene mit Kinderverbot die Norm wären. Faktisch gibt es das alles, aber ich glaube nicht, dass es jemals die Oberhand bekommen wird.

Die Kindheit war nach Jahren gemessen kurz, hat aber lange gedauert, die Mitte umgekehrt lang zu durchleben, aber im Rückspiegel kurz, weil eher ereignisarm. Und so erlebten wir, wie jedes durchlebte Jahr kürzer geriet als das vorherige, und wundern uns. Und nun das Alter: Will ich, dass das alles so weitergeht und jedes Jahr immer noch kürzer wird als das davor? Lieber mit den Kindern und jetzt den Enkeln immer wieder das Staunen der Kindheit zurückholen, die Welt immer wieder so faszinierend finden wir damals, und niemals aufhören mit diesem bohrenden warum, mit dem Kinder auf alles losgehen, was ihnen vors Rohr kommt, sich nicht mit Antworten, die keine sind, zufriedengeben: Wege, um die Jahre wieder länger und bunter werden zu lassen. Und nicht zu verhärten. Die Härte, die in der Mitte begonnen hatte, könnte sich weiter verschärfen. Bei manchen tut sie es wirklich, aber das ist gottlob nicht zwingend. Die selber Kinder und vielleicht Enkel haben, verhärten sowieso nicht so leicht. Zum Glück auch viele nicht, die selber keine Kinder haben. Sie alle zusammen sind das positive Gegengewicht gegen jede Form von aufkommender Gerontokratie, das ist das Wort für die Herrschaft der Greise, sei es in den Grünanlagen, im Wohnblock oder bei der Rentenversicherung.

Mein Leben ist doch ein Leben, nicht drei verschiedene!

Der Teddy hilft mir, lebenslang zurückschauen auf die Wurzeln, erfahrene Geborgenheit weiterzugeben und wegzukommen von der Wahrnehmung, als hätte der Mensch nacheinander drei Leben, die miteinander nichts zu tun haben. Wer selbst eine glückliche oder annehmbare Kindheit hatte – nur für diese kann ich sprechen – und seinen Teddy nicht vergessen hat, wird im Gedanken an ihn manche Dinge bewusst tun, andere unterlassen und wieder andere anders machen.

Seit dem Bestseller Per Anhalter durch die Galaxis wissen wir eine Menge unnützer Dinge, wie zum Beispiel dass die Zahl 42 die Antwort auf alle Fragen der Menschheit ist. Oder dass es im Weltall von Nutzen ist, stets sein Handtuch dabeizuhaben. Er weiß, wo sein Handtuch ist, gilt unter den Vagabunden des Weltalls als anerkennendes Statement für einen, der rundum kompetent ist.

Machen wir doch auf Erden was draus! Er weiß, wo sein Teddy ist: Gerne in der männlichen Form – dies hier war eine Betrachtung überwiegend für Männer und dabei wiederum überwiegend für die zweite Lebenshälfte.

Die Zeiten ändern sich, und die Teddy-Fraktion ist im Aufwind.

 

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Thiemes Zettel vom 07.11.2022

Dr. Christian Thieme

Von Bildern und Büchern

Apricale! Was für ein Ort! Die Häuser kühn an den steilen Berg geklebt, so kühn, dass eines von ihnen neulich einfach verloren ging. Zu weit hatte es sich im steilen Gelände vorgewagt, so dass es eines Morgens, als der Tag erwachte, einfach verschwunden war. Hinuntergefallen sozusagen. Abgestürzt. Nur die Mauer mit der Haustür war am Straßenrand kleben geblieben. Wollen wir hoffen, dass man sie gut gesichert hat, damit niemand versuchen konnte, durch die stehengebliebene Haustür das verschwundene Haus zu betreten. Und vor allem: Wollen wir hoffen, dass die Baufälligkeit rechtzeitig erkannt wurde und das Haus, als es sich auf den Weg ins Tal machte, bereits leergeräumt war.

Apricale in Ligurien – für mich ist ein „Klein-Siena“. Ich sehe den malerischen Dorfplatz, der kaum von Autos erreicht wird, eher von Vespa und Ape, und frage mich, wie ich bei diesem Anblick auf Siena komme. Eigentlich gibt es keinen plausiblen Grund, warum jemand bei diesem engen Rund, wo gerade einmal zwei Pferde im Kreis laufen könnten, an den großzügigen Platz in Siena denken sollte. An den Gebäuden jedenfalls kann’s nicht liegen. Mit ihnen lässt sich eine solche Verbindung kaum herstellen. Aber die Phantasie lässt sich keine Vorschriften machen. So nehme ich den Platz durch den Filter meiner individuellen Assoziationen wahr, und die sagen mir „Klein-Siena“. So etwas passiert offensichtlich nicht nur den Bildern, sondern manchmal auch den Plätzen (Auf die Bilder kommen wir gleich zurück). Hoch oben über dem Klein-Siena-Platz thront das Castello. Es ist ein Relikt aus dem 11. oder 12. Jahrhundert mit einem Turm, auf dessen spitzem Dach sie ein Fahrrad montiert haben: Frei stehend, Vorderrad himmelwärts. Indem es weder abrutscht noch umkippt, scheint es den Gesetzen der Physik doppelt Hohn zu sprechen. Kunst, von außen weithin sichtbar. Kunst auch innen, denn im Castello zeigen sie in jedem Jahr eine zwar im Umfang bescheidene, aber für den Besucher jedes Mal interessante Ausstellung.

Bild zeigt Bergdorf in den italienischen BergenQuelle: Von Alessandro Vecchi - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18857402

(Nichts als) ein Bild?

Mit den Bildern drinnen ist es wie mit dem Platz draußen: Sie werden lebendig, sobald Wahrnehmung und Assoziationen des geneigten Betrachters sie wachkitzeln. Zwar gibt es bei jedem Bild Aspekte, die nicht so sehr vom subjektiven Blick des Betrachters abhängen, wie zum Beispiel Technik, Epoche oder Marktwert – bei letzterem jedoch ist das schon wieder kompliziert. Was (oder wer) bewirkt denn, dass ein Bild als wertvoll gilt? Ich jedenfalls huldige der gnadenlosen Subjektivität. Für mich bin ich allein das Maß aller Bilder. Ganz nahe bei Picasso, der den Kunstbegriff mit seiner bekannten Metapher vom Stein erklärte: Im Auge eines Betrachters, der ihn in der Hand hält und betrachtend dreht und wendet, kann dieser Stein zum Kunstwerk werden. Zurück auf den Boden geworfen, ist er nichts weiter mehr als der Stein, der er zuvor gewesen.

Ja, Picasso! Oben im Turm hatten sie bei unserem letzten Besuch ein paar Arbeiten von ihm, und dazu auch eine Video-Installation. Auf ihr konnte man zusehen, wie der Meister von unsichtbarer Hand Bilder entstehen ließ, eines nach dem anderen, wie im Zeitraffer. Das „entstehen“ ist wörtlich zu nehmen, denn der Betrachter wird Zeuge der schrittweisen Fertigstellung. So fing ich nach kurzer Zeit an, in den Bildern eine Symbolik zu sehen, die neben mir in diesem Moment vielleicht kein anderer sah: Hier wurden vordergründig zwar einfach nur Bilder gezeigt! Könnte aber „in Wirklichkeit“ nicht jedes von ihnen ein real gelebtes Leben repräsentieren?

Da gab es Bilder bzw. Leben, bei denen gleich zu Beginn einige kräftige Linien gesetzt waren, von denen das Bild bis zur Fertigstellung „nicht mehr losgekommen ist“, so meine Lesart. Bei anderen war es mir, als hätten sie sich immer wieder neu erfunden. In meine Sprache übersetzt war das so, als hätten sie nicht nur ein Leben gelebt, sondern nacheinander mehrere. So ein Leben möchte ich haben. Nein, nicht einfach haben! Von selber kommt das nicht! Sondern: So möchte ich mir mein eigenes Leben gestalten! rief es in mir.

Und noch einen weiteren Stromschlag versetzten mir diese Sequenzen. Was nämlich würde ich normalerweise tun, sobald ein Bild, an dem ich lange gemalt habe, endlich fertiggestellt ist: Ich würde einen Schritt zurücktreten und es in Ruhe auf mich wirken lassen. Allein schon, um zu sehen, ob ich es wirklich für fertig halten soll. Was aber tat der Meister mir an! In derselben Sekunde, da der letzte Pinselstrich gesetzt war, geht das Licht aus, das Bild verschwindet. Warum hat er das so arrangiert? Konnte es dafür überhaupt eine andere Deutung geben als die, die ich gerade gefunden hatte? „Aus dem blühenden Leben gerissen“?

Aus dem blühenden Leben. Ist das gut oder schlecht? Wenn es kann, greift das Denken auf bekannte Muster zurück, die sich abwandeln lassen: Soll man beim Beten essen? – Nein. Aber warum nicht beim Essen beten?! Übersetzt heißt das hier: Will ich aus dem blühenden Leben gerissen werden? – Nein. Aber zugleich ich wünsche mir, dass mein Leben bis zum letzten Tag bunt und möglichst interessant bleiben möge, wie Picassos Bild! Wohl wissend, dass es Leben gibt, denen am Ende über viele Jahre die Kraft fehlt, mehr zu tun, als das Bild zu betrachten, das vorzeiten fertiggemalt oder einfach halbfertig liegengelassen wurde. Oder nicht einmal das.

Unabhängig von der Wirkung auf mich als Einzelnem gehört das Bild zu den ältesten Kulturgütern der Menschheit, von Picasso und der Gegenwart zurück bis in die Antike und noch weiter, mindestens bis in die Höhlen der Steinzeit. Als Unikate waren Bilder und Plastiken noch bis vor kurzem allein für lokale und soziale Eliten zugänglich, denen sie ihre Botschaften über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg anvertraut hatten. Erst in jüngerer Zeit entfalten sie durch Ausstellungen und millionenfache Reproduktionen ihre Breitenwirkung. Der Kultur mag das wohl insgesamt eher guttun, auch wenn vielleicht ein paar Fragezeichen zurückbleiben.

(Nichts als) ein Buch?

Pieve di Teco! Was für ein Ort! Der Kern stammt aus dem 12. Oder 13. Jahrhundert: Eine schmale Straße, links und rechts gesäumt von schattigen Arkaden mit ihren Geschäften, Bars und Lokalen, darüber mehrstöckige Häuser und rechts und links aufstrebend die steilen Hänge der ligurischen Berge. Unter den Arkaden machen sie an jedem letzten Sonntag Flohmarkt.

Manchmal sitzt da ein alter Mann, umgeben von Schachteln mit noch viel älteren Büchern. Leicht kommen wir ins Gespräch und unterhalten uns. Zuerst über die lateinischen Bücher – sie zu verkaufen, ist er ja gekommen –, dann über Latein schlechthin und alles Mögliche, trinken einen Espresso, reden über den Preis für eines der Bücher, danach vielleicht wieder über Latein, … Der alte Mann weiß genau, was jedes Buch (eigentlich) kosten soll, aber reden kann man ja immer, und so fanden mit der Zeit ein paar seiner kleinen Schätze den Weg nach Starnberg. Was mag so ein Buch in den letzten 300 Jahren erlebt haben? Wie viele Besitzer nannten es „für immer“ ihr Eigentum, ganz so, als würde die Zeit mit ihnen enden? Wie viele Kriege hat es überstanden, wie oft musste es aus dem Feuer gerettet werden? Durch Hunger, Dürre, Hochwasser, Kälte, Hitze, immer ist es da und sagt: Ich bin Kultur, ich lebe – bewahre mich und gib mich weiter!

Wozu ich die alten Bücher „brauchen kann“? Was bedeutet es, ein Buch von Thomas von Aquin in der Hand zu haben, so alt, dass es den Abstand zwischen ihm und mir halbiert? Was macht es mit mir, ein Buch zu besitzen, an dessen Innerem sich vor Jahrhunderten schon die Würmer sattgefressen haben? Das Buch als Datenträger? – Um den Inhalt zu lesen, brauche ich nicht das alte Papier. Und dennoch ist es (mir) wichtig? Das Buch als Gegenstand? – als Dokument der Zeit(en), könnte man sagen.

Umbrüche. An der Schwelle zur Neuzeit kam es zum Übergang vom geschriebenen Buch zum gedruckten. Oder war es umgekehrt: Markierte nicht gerade der Buchdruck den Beginn der Neuzeit? Schnell wurden die früheren Handschriften für den Alltag bedeutungslos. Heute sorgt die Digitalisierung für einen nicht weniger einschneidenden Umbruch als damals der Buchdruck. Gigantische Projekte sind angelaufen, um ganze Bibliotheken mit ihren Millionen von Bänden zu digitalisieren, und der Fundus an online lesbaren Büchern wird von Tag zu Tag größer. Auch ich profitiere gelegentlich davon. Könnte so den gedruckten Büchern ein ähnliches Schicksal bevorstehen wie einst den Handschriften? Einerseits schon.

Aber ist denn ein Buch immer nur „Content“? Ich würde da unterscheiden. Der größte Teil dessen, was ich zu lesen bekomme, ist morgen oder übermorgen bedeutungslos. Ob ich es auf Papier lese oder digital, ist eine Frage der Prägung. Die jüngere Generation ist mit dem Display aufgewachsen und braucht nichts anderes mehr. Der Wald dankt es ihr. Für manche ist ein Bibliotheksschrank nichts weiter als eine „Büchertapete“. Und wenn Wohnungsmieten unerschwinglich werden und jemand zudem noch berufsbedingt mobil sein muss, sind Bücher in der Tat das vorletzte, was er brauchen kann (das allerletzte wäre ein Konzertflügel). Mit anderen Worten: Der Lebensraum für Bücher wird kleiner. Vom Aussterben bedroht sehe ich sie trotzdem nicht.

Für mich sind meine Bücher Elemente einer winzigen, privaten Bibliothek, die allmählich zum Abbild meiner Biografie geworden ist. Zugleich inspiriert sie mich immer wieder neu, sobald ich in ihr „lese“. Zwischen den Büchern ist nämlich ein feines Netz gespannt, dessen Fäden allein ich sehen kann, weil ich der bin, der sie gespannt hat. Unsichtbare Querverbindungen, die nur mir gehören und nur für mich etwas bedeuten. Durch die Körperlichkeit der Bücher, durch ihre Standorte, ihre Nachbarschaft zu den anderen Büchern werden die Bezüge dargestellt. „Nach mir“ werden die Fäden erloschen sein, und was zuvor meine Bibliothek gewesen war, wird ein strukturloser Haufen von Büchern sein. Das haben der Stein von Picasso, der im Auge des Betrachters zum Kunstwerk wird, und nur dort, und meine kleine Bibliothek gemeinsam. Freilich, und darin liegt der Unterschied, haben viele dieser Bücher, ähnlich den alten Bildern, ihren Wert nicht nur im Auge des Betrachters, der sie als Teil seines persönlichen Kosmos sieht, sondern von ihm unabhängig als materialisierte Kultur.

Auch bei den Büchern spielten Unikate lange Zeit die ausschlaggebende Rolle. Die Bibliothek von Alexandria war legendär, und noch in der Renaissance war der Besitz von 100 oder 200 Büchern ein Zeichen von fürstlichem Luxus. Heute freilich sind die alten Handschriften nur noch für Spezialisten von Interesse. Früher und radikaler als bei den Bildern trat die Breitenwirkung in den Vordergrund – gut für die Bücher und wiederum gut für die Kultur, sicherlich mit weniger Fragezeichen als bei den Bildern.

Bücher und Bilder: Die großen Bewahrer

Kultur denkt nicht in Generationen. Gemessen an den Perioden, in denen sie lebt und sich entwickelt, ist unser Leben kurz. Wie aber überlebt sie alle Höhen und vor allem Tiefen des Menschengeschlechts? – An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu mir als Einzelnem. Denn jede*r kann zu ihrem Erhalt beitragen, indem sie oder er ein kleines Stück Kultur bewahrt und weitergibt, ideell oder materiell. Ich stelle mir jedes menschliche Leben im Hinblick auf die Kultur als ein auf den Kopf gestelltes U vor. Am Anfang wird, wenn es das Schicksal gut meint, gelernt. Nur Gelerntes kann weitergetragen werden. Danach folgt, kulturell gesehen, die Blütezeit, der nach oben gerichtete Bogen des umgekehrten U, und am Ende kommt es zum unvermeidlichen „Rückbau“. Wenn nun genügend dieser Bögen dicht nebeneinander stehen, kann es sich die Kultur auf ihnen wie auf einer stabilen Unterlage bequem machen, obwohl jeden Tag Individuen hinzukommen und andere ihren Abschied nehmen. Sobald aber dieses Kontinuum unterbrochen wird, verschwindet Kulturwissen, manchmal unwiederbringlich. Wie in der Antike musiziert wurde, werden wir nie mehr wirklich erfahren. Bücher und Bilder können dazu beitragen, Lücken zu überbrücken. Lücken, die gerissen wurden durch Kriege, Barbarei, blanke Not, pure Dummheit – viele Ursachen gab und gibt es, viele Gefahren lauern dem kulturellen Erbe auf. Die Renaissance war eine Zeit der immer neuen Entdeckungen. Ein antiker Text nach dem anderen kam nach Jahrhunderten neu zum Vorschein, überliefert nicht von Mensch zu Mensch, sondern allein durch die Schrift, von Mensch zu Schrift zu Mensch. Und weiterhin bleiben viele Texte verschollen, viele davon wahrscheinlich für immer. Aber wer weiß! Immer noch schlummern viele Texte in den Bibliotheken, entweder gänzlich unbearbeitet oder unentdeckt, weil sie später mit anderen Texten überschrieben wurden wie eine gelöschte Festplatte, deren ursprünglicher Inhalt sich nur mit kriminalistisch-technischer Akribie rekonstruieren lässt. Bis dereinst auch die letzten bearbeitet und zugänglich gemacht sein werden, können wir wohl immer wieder einmal Details unserer Geschichtsbücher ergänzen oder auch neu schreiben.

Ich als Kontinuum

Die bedeutendsten Bauwerke kann die Menschheit nur gemeinsam bewahren, genau wie das Ökosystem. Bilder und Bücher aufzubewahren und zu erhalten ist wie der Gartenteich, der zwar allein nichts rettet, aber doch Teil einer Mut machenden Bewegung ist. Zukunft setzt voraus, dass ich an sie glauben will – wissen können wir sowieso nichts, und konnten es noch nie. Und darum hänge ich an den alten Büchern und betrachte alte Bilder, unabhängig von ihrem aktuellen Wert auf dem Kunstmarkt, der sie manchmal zum Asset im Portfolio von Superreichen degradiert. Zur Zukunft gehören Demut und das Bemühen, Überkommenes zu erhalten, um es an die Kinder und Enkel weiterzugeben.

Post scriptum: Während ich letzte Hand an diesen Text lege, begegnet mir Hörfunk (Bayern 2 am 5.11.2022) ein Beitrag über den Denkmalschutz und die prekäre Situation unserer Baudenkmäler. Es war ein Fehler, so muss ich mir eingestehen, neben den Büchern nicht auch von den Häusern gesprochen zu haben – beim nächsten Mal wird es nachgeholt…

 

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Thiemes Zettel vom 15.10.2022

Dr. Christian Thieme

Ich Chef, du nix?

Der Anlass ist eher unbedeutend, aber das Thema lässt mir seither keine Ruhe. Es war, wie soll ich es sagen – ich habe kürzlich einen Gastarbeiter gesehen. Wenn sie wissen, was ich meine. Eigentlich ist dieses Wort aus unserem Sprachgebrauch verschwunden, aus gutem Grund. In meiner Erinnerung ordne ich es den frühen1960er Jahren zu, als unsere ausländischen Arbeitskräfte noch mehrheitlich aus Italien stammten und an das Projekt eines diskriminierungsfreien Binnenmarkts noch nicht zu denken war. Ein solcher quasi aus der Zeit gefallener italienischer Gastarbeiter ist mir jetzt begegnet. Er lebt und arbeitet in Deutschland und versteht dabei so gut wie kein einziges Wort Deutsch. So war es eine rechte Freude für ihn, als plötzlich jemand, nämlich ich, spontan auf sein Gegrummel geantwortet hat und er sich ein wenig in seiner Sprache unterhalten konnte.

Einer der frühesten italienischen Gastarbeiter gehört heute zu unserer Familie. Welches Leben hat er hier gelebt, welche Sprache ist „seine“ Sprache: Wir sprechen selten darüber. Ich hoffe, die Jahre und Jahrzehnte, auch die frühen, als ich ihn noch nicht kannte, waren für ihn gute Jahre. Ich hoffe es. Doch eine Portion Beklommenheit ist immer dabei, wenn ich mich an sporadische Bemerkungen von damals erinnere und mir den Umgang derer, die damals erwachsen waren, mit den Gastarbeitern vorstelle. Natürlich kann es ganz gut gewesen sein: Ich denke neben meinem jetzigen Verwandten an einen Freund, der über viele Jahre immer wieder einmal für uns gearbeitet hat: Alles, was sich aus Ziegel, Fliesen, Platten, Mörtel und Beton formen und gestalten lässt, hat er gemacht. Und er hat uns ganz nebenbei beigebracht, wie köstlich frisches, weißes Brot mit Salz und Olivenöl schmeckt. Heute gibt es das quasi überall, aber damals war es wie eine Offenbarung, jedenfalls für uns. An „seinem“ Brunnen, den er damals in unserem Garten gebaut und auf einem Stück nassem Zement voll Werksfreude signiert hat, fahre ich immer noch gern vorbei, obwohl wir längst schon nicht mehr dort wohnen. Aber bei aller Freundschaft, die Grundlage unserer Beziehung war unsymmetrisch.

Bild zeigt Illustration von einem Vorgesetzten der einen Untergebenen die Hand ins Gesicht drückt

„Ich Chef, du … – nein, da musste nicht zwingend das Wort „nix“ folgen, wie es auf dem bekannten T Shirt steht, auch damals nicht. Aber egal, was hinter dem „du“ folgt, eine latente Asymmetrie war stets vorhanden. Wie auch anders? Die Menschen aus Italien waren zum Arbeiten hierhergekommen, und das haben sie dann auch: Sie haben gearbeitet, hart und fleißig, und meistens mit ihren Knochen und Gelenken. Für uns war Lucio ein Freund, kein Arbeiter oder Gastarbeiter, bis er nach vielen Jahren in seine Heimat zurückgegangen ist. War es da noch seine Heimat? Und hat sich das halbe Leben hier in Deutschland für ihn gelohnt? – Schwer zu beurteilen, und von außen wohl gar nicht, zumal ich auch die sizilianische Alternative nicht kenne, das Leben, das er dort gehabt hätte, wenn er geblieben wäre, und an dem sich dieses Sich-Lohnen messen müsste.

All das kam mir wieder ins Bewusstsein, als ich nun jenem Italiener begegnete, einem wie damals, fast gänzlich ohne Sprachkenntnisse, und deshalb an einem Arbeitsplatz, der nichts weiter erfordert als eben zu „arbeiten“. Er hat sich gefreut, dass er sich ein wenig in seiner Sprache unterhalten konnte. Nicht zuletzt über das, was ihn bei der Arbeit belastet. Seine subjektive Sicht war das, seine Wahrnehmung, und wahrscheinlich gibt es auf der anderen Seite eine andere. Aber seine Sicht ist nun einmal die, auf die es für ihn ankommt. „Ausdiskutieren“ kann er ja nichts, und rechtfertigen kann er sich auch nicht, kann sich nicht zur Wehr setzen. Damit sind wir dann schon ziemlich nah dran an diesem „… du nix“.

Zeitsprung. Wir befinden uns im Jahr 1970, München-Hauptbahnhof, Expressgutverteilung, Nachtschicht. Mit anderen Worten: Ganz unten, räumlich und auch sozial. Kellerräume wie damals wird es dort nicht mehr geben, jedenfalls nicht für diese Nutzung, und auch die Arbeit wird heute anders ablaufen. Ausgelagert an einen Paket-Dienst wahrscheinlich, bei dem wir unser Gepäck vor der Abreise abgeben, um es am Zielort zweit Tage später wieder in Empfang zu nehmen. Die Orte und Tätigkeiten mögen sich geändert haben, und die Italiener sind heute meistens keine Italiener mehr, aber sozial wird es immer noch so sein wie damals, im Ablauf anders, aber sicher nicht schöner. Ich gestehe, dass ich die Paketautos seit Wallraffs Report mit anderen Augen sehe, obwohl ich es auch ohne Wallraff schon damals hätte besser wissen können. Wir Menschen wollen halt nicht immer alles wissen, was wir eigentlich wissen könnten.

Bleiben wir unter dem Hauptbahnhof von damals. Oben ist ein Zug eingelaufen. Ein paar Arbeiter entladen den Gepäckwagen, so etwas gab es damals noch, und stapeln das Transportgut auf den vorgesehenen Anhängern. Wenige Minuten später zieht sie ein Elektrokarren in unsere unterirdischen Gefilde. In der Mitte des Kellers werden sie abgestellt und warten, einer nach dem anderen, auf das Umladen der Koffer und Kisten. Rundherum nämlich stehen neue Anhänger bereit, postiert unter Schildern mit großen Nummern, und auf sie wird das ankommende Gepäck verfrachtet. Jede Nummer steht für eine andere Strecke: Mühldorf, Freilassing, Lindau, was auch immer. Der Chef allein kennt die Zuordnung von Nummern und Bestimmungsorten. Hinter dem jeweils zu entladenden Anhänger steht er, stimm- und auch sonst gewaltig, und organisiert die Verteilung. Mit der Hand oder einfach mit der Fußspitze deutet er auf das nächste Gepäckstück und plärrt die zugehörige Nummer. Dominanz pur. Auf der anderen Seite die Reihe der Arbeiter, gefühlt Sklaven, die nach der Reihe das jeweils bezeichnete Stück aufheben und wegtragen müssen. So weit, so gut oder auch nicht gut. Aber es kommt noch besser.

Manche Wägen stehen nämlich weit entfernt in der Tiefe des Raumes, andere gleich nebenan. Manche Pakete sind schwer, sehr schwer, und andere federleicht. Federleicht und weit weg – eine kleine Erholung. Schwer und weit weg: wenn der „Ich Chef – du nix“ gnädig ist, sagt er die Zauberformel „zwei Mann“. Wenn nicht, heißt es Zähne zusammenbeißen und schleppen. Und überhaupt: auf welches Paket wird er deuten, wenn ich jetzt gleich an der Reihe bin? Fast immer gibt es Auswahl – für ihn, niemals für mich. So geht Machtausübung ganz unten.

In der Pause sehe ich gestandene Männer weinen. „Ich nix Angst vor Arbeit, aber wenn …“. Für mich kaum auszuhalten. Mich hatten sie offenbar gemocht, ich hatte am eigenen Körper nichts zu leiden. Aber jenes willkürliche Zwei Mann kann ich bis heute nicht vergessen.

Als Schüler habe ich verschiedene Jobs ausprobiert, dort im Bahnhof, auf der Baustelle, im Supermarkt, auch im Büro. Es sind Erfahrungen, die meine Wahrnehmung von Arbeit geprägt haben. Die Zeit ist kurz gewesen, rückblickend jedenfalls, und bald war ich bei denen mit dem weißen Kragen und dem täglich frischen Hemd dabei. Zeitlebens behalten habe ich das tiefe Misstrauen gegen alle, die mit dem Knüppel der ökonomischen Notwendigkeiten die Arbeitsbedingungen dort ganz unten bestimmen, in der Regel verschärfen, ohne vielleicht selbst jemals auch nur eine Woche lang dort ganz unten gewesen zu sein. Gern würde ich jedem, der seine abstrakten Kennzahlen predigt, vor allem der Armada der smarten Nachwuchs-Unternehmensberater die Frage stellen: Wie lange Hauptbahnhof? Und das ist ja nur mein kleiner, bescheidener Einblick. Es wird schon damals (noch) schlimmere Plätze gegeben haben als meinen.

Solche Erfahrungen waren für mich prägend. Natürlich nicht sie allein, aber ich habe sie auf- und angenommen. Deshalb habe ich ihnen auch den Titel und einen großen Teil des Textes gewidmet, obwohl ich das Thema jetzt erweitere. Heute ist der Umgang mit unseren ausländischen Arbeitskräften immer noch ein Brennpunkt, und gleichzeitig frisst sich der Niedriglohnsektor immer weiter hinein in den gesamten Arbeitsmarkt. Die Basisleistungen in der sogenannten Realwirtschaft, von deren Funktionieren wir Tag und Nacht abhängen, werden immer wertloser (für die, die sie zur Verfügung stellen). Verdient wird anderswo, vorzugsweise mit virtuellen Produkten, deren Wert fürs menschliche Dasein mir niemand plausibel erklären kann.

Passend zu meiner Begegnung mit dem aus der Zeit gefallenen Gastarbeiter versetzte mir die ministerielle Glamour-Hochzeit auf der Luxus-Insel kurz danach einen weiteren Kick. Reiche Leute heiraten anders als arme, und wie es aussieht, rechnet sich der Glamour-Bräutigam von Sylt den Reichen zu. Soll er – vom Ministergehalt jedenfalls wird keiner reich. Reich, das ist, wenn ein Fußballprofi, wie unlängst berichtet, sein Haustier per Privatjet zwei Flugstunden weit für eine Behandlung beim Tierarzt transportieren lässt. Das ist nochmal eine andere Hausnummer, als wenn ein Minister lediglich den Oppositionsführer und vielleicht noch ein paar weitere A- oder B-Promis per Jet einfliegen lässt… Sollen sie alle! Den Fußballprofi zahlen seine Fans und Follower, sollen sie. Als anstößig empfinde ich es freilich, wenn ausgerechnet der Finanzminister, der von Amts wegen die leeren Staatskassen verwaltet, und ausgerechnet im Krisenjahr 2022 so hemmungslos Reichtum zeigt. Die anderen, die ganz unten malochen, können doch nicht unterscheiden, was privater und was „staatlicher“ Reichtum ist, und darauf so wenig Rücksicht zu nehmen, ist taktlos.

Der Kontrast ist unfassbar groß. Die Unbekümmertheit, mit der das Thema Mindestlohn von den sogenannten bürgerlichen Parteien jahrelang weggeschoben wurde, wie sich hinter den angeblichen ökonomischen Notwendigkeiten versteckt wurde, habe ich nie ertragen. Das war und ist ethisch unanständig, ganz einfach. Wobei ja das sich-Verstecken hinter dem Markt und seinen ökonomischen Notwendigkeiten längst als Schutzbehauptung entlarvt ist. Der Mindestlohn ist eingeführt – zwar in der Höhe und in der Umsetzung noch nicht zufriedenstellend, aber immerhin. Deutschland ist dadurch nicht verarmt und die Wirtschaft hat es weggesteckt. Ja, die jetzt kommende Erhöhung auf 12 Euro wird zusätzliche Inflation verursachen, das darf man den Sachverständigen schon glauben. Aber was bedeutet das: Mache Produkte und Dienstleistungen werden zukünftig den Preis haben, der bei einer nicht unanständigen Entlohnung notwendig ist. Wobei ich von bzw. in einer Ökonomie, deren Bestand davon abhängt, dass Menschen für skandalös niedrige Löhne schuften müssen, nicht leben wollen würde. Vielleicht hat ja die gleiche Argumentation von der Gefährdung der Wirtschaft schon bei der Abschaffung der Sklaverei im Amerika des 19. Jahrhunderts stattgefunden – damals ging es quasi um Arbeitskräfte mit dem „Stundenlohn“ von Null Euro…

Seit 1970 hat sich die soziale Landschaft verändert. Der Egoismus ganz oben ist hemmungsloser und teilweise widerwärtiger geworden, und zugleich hat sich der Sozialstaat stellenweise seine eigene Nachfrage geschaffen. Beides darf ich so sagen. Wäre ich Politiker, müsste ich den letzteren Satz meiden. Aber um ungerechtfertigte Inanspruchnahme geht es ohnehin nur am Rande. Die Politik der vergangenen Jahrzehnte und vor allem der globale Trend haben uns in eine Lage gebracht, in der der Staat nicht mehr alles gewährleisten kann, was Einzelne sich subjektiv nachvollziehbar wünschen oder für sich einfordern, und auch nicht alles, was Sozialpolitiker in ihre Programme schreiben, und manchmal nicht einmal das, was man mit guten Gründen als objektiv gerecht ansehen kann.

Dauerhafter Wohlstandsverlust

Dieser Tage schrieb der Sachverständigenrat Sätze, für die jede Partei postwendend abgewählt würde: Wohlstandsverlust droht. Wir könnten ärmer werden. Erneut führt das natürlich zu der Frage: Wer genau ist „wir“? Oder präziser gefragt: wer ist nicht „wir“, wer schafft es, sich den Notwendigkeiten (weiterhin) zu entziehen? Bei den frustranen Versuchen, die Steuerflucht und Steuerhinterziehung drastisch einzudämmen, wird sich kaum viel bessern. Zum Teil sind das ja ohnehin nur Lippenbekenntnisse. Die Bewegung „Tax me now“, in der eine Gruppe wohlhabender Menschen öffentlich dafür eintritt, höher (!) besteuert zu werden, ist immerhin ein kleiner Lichtblick im Dreivierteldunkel des Superreichtums. Steuerpolitik ist nicht mein Thema, aber eines ist offensichtlich: Solche Initiativen stellen die Ehrlichkeit der anderen in Frage, derer, die unter dem Vorwand der angeblichen ökonomischen Vernunft jegliches Zugeständnis an die gesellschaftlichen und ethischen Notwendigkeiten ablehnen.

Erst Corona, dann Krieg und dazu nun auch Krise: Die Schere zwischen Arm und Reich ist weit offen, die Prognosen sind schlecht. Es droht eine länger anhaltende Rezession, und gleichzeitig bzw. trotzdem werden an allen Ecken und Enden die Arbeitskräfte knapp, nicht nur hoch ausgebildete Fachkräfte. Das ist das Szenario. Und was höre ich: Ich höre, dass mein Staat Unsummen in die Hand nehmen wird, das Geld meiner Enkel, um uns Heutigen mit „Doppel-Wumms“ vorzugaukeln, dass alles vielleicht gar nicht so schlimm wird. Ich höre täglich die Diskussionen, was zu tun sei, um das Los derer zu mildern, die keine Arbeit haben, aber nur wenig dazu, was zu tun sei, um sie in Arbeit zu bringen. Und was höre ich über die Bildung? Was tut mein Staat, um den seit Jahren absehbaren Lehrernotstand zu beheben? Wo ist der Doppel-Wumms für unsere Zukunft?

Eigentlich böte die aktuelle Notgemeinschaft aus marktliberalen und demokratisch-sozialistischen Kräften die historische Chance, eine Politik auf den Weg zu bringen, die sich gleichzeitig an beiden Enden des ökonomischen Spektrums den Notwendigkeiten stellen würde. Nebenbei: Das Attribut sozialistisch ist nicht von mir und ich verstehe es nicht als Beschimpfung, wie es viele tun. Die SPD selbst nennt in ihrem Hamburger Grundsatzprogramm den demokratischen Sozialismus als Ziel ihrer Politik. Tatsächlich jedoch tun rot und gelb nichts anderes, als die jeweiligen Klientelinteressen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, und der Dritte im Bunde schaut hin- und hergerissen zu. Das grüne Ziel eines Doppel-Wumms für Modernisierung und Klimaschutz ist sowieso schon außer Sicht.

Und so passiert, was immer wieder passiert: Was die Politik in der Gegenwart nicht zu lösen vermag, weil sie es nicht lösen will, besorgt sie sich einfach der Zukunft. Und das ist der Grund, weshalb mich der dumme Spruch vom Doppel-Wumms so empört: Es ist der Versuch, die Lähmung einfach für ein weiteres Jahr mit geliehenen Geld zuzuschütten, buchstäblich. Wobei wohl auch ein Wechsel von Rot nach Schwarz nichts an der Misere ändern würde. Und manche Mittel werden ja auch über den Tag hinaus wirksam sein, das will ich nicht negieren.

Im Kern geht es nicht um Tagespolitik und auch nicht um Ideologie, sondern um Mut und Anstand. Am Pranger steht, bzw. an den Pranger gehört der mentale Zustand unserer Gesellschaft, die sich nicht mehr ernsthaft bewegen will und in der kaum einer mehr bereit ist, jenseits der wohlfeilen Rhetorik einen echten persönlichen Beitrag zu leisten. Unten nicht und oben erst recht nicht. Einen solchen einzufordern ist dann und nur dann gerecht, wenn er sich an alle richtet, und nicht isoliert an eines der beiden Enden der Einkommensskala. Die Politik, und zwar quer durch die Farben, sollte sich verpflichtet fühlen, Egoismen und Klientelschutz schrittweise abzubauen, statt sie im Gegenteil mit opportunistischen Populismen weiter zu befeuern. Mehr als erste Schritte verlangt ja sowieso keiner, denn die Gefahr einer (rechts-)Radikalisierung ist real. Doch mit kurz wirkenden Subventionen allein bannen wir sie nicht.

Ja, uns wird es 2023 schlechter gehen! Und nochmals ja, der Staat wird nicht alles leisten können, was im Sinne der Gerechtigkeit willen wünschenswert ist! Und ja zum Dritten, ohne zumutbare Zugeständnisse ganz oben – „Tax me now! – wird es nicht reichen! Statt Doppel-Wumms wäre das die richtige Botschaft. Wenn wir sie befolgen (würden), würde es immer noch teuer genug, aber etwas weniger teuer als so, und mit einem weniger schalen Gefühl.

 

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Thiemes Zettel vom 04.09.2022

Dr. Christian Thieme

Sehnsucht – der Anarchist unter den Gefühlen?

Sehnsucht lähmt! – Draußen scheint die Sonne. Ich sitze im klimatisierten Sitzungssaal und höre dem Gelaber zu, mit dem andere mir die Zeit stehlen. Höre zu? Sagen wir, ich höre den Schall, aber nicht den Inhalt. Das Italienische zum Beispiel hat für beides eigene Vokabeln, das würde mich zwingen, mir Rechenschaft zu geben, was ich gerade mache. In meiner Sprache muss ich das nicht. Die Töne branden an mich heran, manchmal nehme ich Fetzen wahr, dann bin ich wieder weit weg. Mein Kopf ist nämlich schon dort, wohin der Körper erst in gut einer Woche darf: im Urlaub. Eigentlich wäre das Gequassel hier sogar wichtig, wenigstens aus dem Blickwinkel meiner beruflichen Verantwortung. Ich kann trotzdem nicht, ich schaffe es nicht.

Sehnsucht beflügelt! – Draußen scheint die Sonne. Ich sitze im klimatisierten Sitzungssaal und folge dem Verlauf der Diskussion. Lust habe ich momentan keine, und das Thema interessiert mich sowieso nicht. In gut einer Woche gehe ich in den Urlaub, das interessiert! Um aber im Urlaub wirklich abschalten zu können, werde ich vorher noch alles wegputzen, was meine Ruhe stören könnte. Deshalb bin ich konzentriert bei der Sache.

Zweimal frei erfunden, zweimal lebensnah. Welche von beiden Versionen „stimmt“ denn nun? Welche stimmt für mich? Gehört die Sehnsucht zu den Guten im Repertoire meiner Gefühle oder zu den Störenfrieden? Das werde ich jetzt ein für alle Mal klären…

Sehnsucht seit Anbeginn der Menschheit?

Bild zeigt eine Büste von Julius Cäsar mit geschlossenen Augen. Er träumt vieleicht von einer Weltherrschaft

Ein Blick in die Antike erspart das Nachdenken? – Vielleicht nicht so ganz, aber die eine oder andere Frage beantwortet sich da eventuell doch.

Antike, das ist die Welt der Schlachten, des Nachruhms, der ersten Philosophen, der Erfinder der Mathematik und ersten Entdecker der Naturgesetze, der frühen Staatenlenker und der beginnenden Geschichtsschreibung, der Ungleichheit und des Luxus – und auch der Sehnsucht? Wir wissen ja nur, was schriftlich überliefert ist. Vom Heimweh und der Sehnsucht verschleppter Sklavinnen wissen wir nichts, aber vorstellen können wir es uns. Alexander der Große, Cäsar, Cicero und Marc Aurel: vier grundverschiedene Männer, jeder auf seine Art bedeutend. Platz für Sehnsucht war, so stelle ich mir vor, bei keinem von ihnen – es sei denn, das Bild, das die Geschichte von ihnen zeichnet, wäre verkehrt oder unvollständig. Klar, einen Alexander oder einen Cäsar mag das Streben nach immer mehr Macht, ja nach Weltherrschaft, beflügelt haben. Das wäre dann eine (weitere) Spielart von Sehnsucht, aber hart am Übergang zum brennenden Ehrgeiz, vielleicht gar zur Besessenheit. Wobei sich die Liste der antiken Namen beliebig verlängern lässt, etwa auf die Riege der Denkenden und Schreibenden – exemplarisch denke ich an Aristoteles, Sophokles, Seneca oder Tacitus: Immer derselbe Befund? Einerseits.

Doch Antike, das ist auch das Heimweh des Odysseus, das man sich als Teil der Dichtung wohl ebenso real denken kann wie sein gleichzeitiges Vergnügen mit Kalypso, der betörenden Nymphe. Oder das anrührende Gespräch von Aeneas mit seiner in Troja gerade ums Leben gekommenen Gattin Creusa, bevor beide sich für immer trennen mussten – sie auf die letzte Reise, die Reise in die Unterwelt, und er hin zur Gründung der ewigen Stadt. Und auf dem Weg dorthin gleich noch Dido, die nach Aeneas‘ Abreise vor Liebe und Sehnsucht buchstäblich in Flammen steht. Oder Ovid, der seinem Heimweh in der Verbannung am Schwarzen Meer einen anrührenden Text gewidmet hat, der die Zeiten genauso überdauert hat wir seine Metamorphosen, von denen er selbst schon wusste, dass sie quasi unsterblich sein würden. Und natürlich die Epikureer, in allen Jahrhunderten verteufelt ob ihrer unbotmäßigen Hingabe an solche Dinge wie die tagträumende Sehnsucht:

Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen,
ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen,
nicht weil wohlige Wonne das ist, dass ein anderer sich abquält,
sondern zu merken, weil süß es ist, welcher Leiden du ledig.

Das genau ist bzw. war, um dem Ende vorzugreifen, die Sehnsucht, der ich in den letzten zehn, zwanzig Jahren meines Berufslebens zunehmend Raum gegeben habe. Der Text stammt aus Lukrez‘ Lehrgedicht De rerum natura in der Ausgabe des Reclam-Verlags Leipzig/Stuttgart.

Sehnsucht mag es also schon zu allen Zeiten gegeben haben, und das Verhältnis des Menschen zu ihr mag immer schon komplex gewesen sein, zumal, wenn sich Mensch und Mann in einem Wort übereinanderschieben, wie zum Beispiel im Englischen. Man(n) hat keine Sehnsucht zu kennen?

Der Tod und die Sehnsucht

Raus, nur weg aus diesem Leben! Oder hin, nur endlich hin zu jener guten Macht, die mich im Jenseits dereinst gnädig aufnehmen und von allem erlösen soll! Da haben wir auf engstem Raum zwei „Spielarten“ von Sehnsucht, die miteinander wesensmäßig nicht so arg viel zu tun haben, obwohl sie von außen kaum zu unterscheiden sind: entweder weg aus diesem Leben oder hin ins andere.

Das christliche Sehnen nach Erlösung, irdischer Trost der Schwachen und Verfolgten, von der Bergpredigt, den Urchristen nahtlos weiter zu den Gesängen der amerikanischen Sklaven und ihren rassistisch verfolgten Nachfahren bis ins 20ste Jahrhundert – was wäre ihr Leben ohne diese sehnsüchtige Gewissheit gewesen? Die Aufnahme von Pete Seegers Oh, freedom klingt mir in den Ohren, sobald ich daran denke: Volles Haus, vielleicht tausend oder mehr singende Menschen – Gänsehaut:

And before I′d be a slave
I'd be buried in my grave
And go home to my Lord and be free

Was ist das? Hat das Sehnen sie beflügelt (ihr Los zu ertragen) oder gelähmt (es zu verändern)? Oder hat sie Menschen, ich denke an die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, der Pete Seeger eine Stimme gab, im Gegenteil beflügelt, Ihre Angst abzulegen? Wie unübersichtlich ist das! Und wahrscheinlich lässt sich die Frage höchstens individuell beantworten, nicht für die ganze Gruppe. Und selbst für den Einzelnen oder die Einzelne wird es keine konstante Antwort geben, keine, die an jedem einzelnen Tag zutrifft.

Und das andere, die Sehnsucht nach Flucht aus dem Leben, wie verhält es sich mit ihr? Lassen wir doch mal die Hüllen fallen. Ulrich Roski sang ein liebliches Lied mit einem gänzlich unlieblichen Inhalt, dessen Grundtenor lautete:

Ich sitz' tief, tief in der Tinte
Und am liebsten wär′ ich to-ot
Am liebsten wär' ich to-o-ot.

Nein, schön ist das nicht. Aber jetzt mögen bitte mal alle die Hand heben, die diesen Gedanken garantiert noch niemals im ganzen Leben gedacht haben – meine jedenfalls bleibt unten.

Was nun also? Die Sehnsucht nach dem nahen Tod: Mal beflügelt sie, mal lähmt sie und manchmal ist sie einfach nur so da und haut dann wieder ab oder was?

Oder rein in das Leben eines anderen?

Rein in ein anderes Leben! Nicht mehr ich sein müssen! Lieber König Ludwig oder die Monika von nebenan oder wer auch immer! Lähmt mich solche Sehnsucht, oder beflügelt sie mich? So sein wie eine bestimmte Person, die ich immer vor Augen habe: Das kann mich antreiben, ihr ähnlich zu werden, oder mir allen Mut nehmen. Oder etwa beides abwechselnd? – Heute so und morgen so? Alles ist möglich. Und da ist der Gefangene, der über die Jahre seiner Gefangenschaft alt und grau und fast blind geworden ist, und der sich sein Leben lang an dem Gedanken aufrichtete, das die Frau am Fenster, die er da draußen von Ferne sieht, oder meint zu sehen, seine Frau sei, die er nur noch heiraten müsse – ein unglaubliches Lied von Lucio Dalla mit einem unglaublichen Text:

 E sognò la libertà  und er träumte von der Freiheit
 E sognò di andare via, via  träumte davon, wegzugehen, (weg)
 E un anello vide già  und sah schon einen Ring
 Sulla mano di Maria  an der Hand von Maria

Hätte der Mann in seiner Lage etwas Besseres tun können als das? Ist das tatsächlich ein trauriges Lied, so traurig, wie es spontan auf uns wirkt? Oder ist es am Ende ein Dokument der inneren Kraft?

Rein in ein anderes Leben! So vielschichtig ist das! Vielleicht bedeutet es Zurück in das Leben meiner Kindheit, oder Zurück in das Leben, als Helga noch bei mir war, oder Zurück in das Leben, als wir noch nicht in diesem fremden Land leben mussten. Selbst das Letztere ist noch immer vielschichtig: Bin ich beruflich in USA und plane gerade, mich wieder versetzen zu lassen, oder bin ich aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen und sehe keinen Weg mehr zurück: An der Oberfläche vergleichbar – Heimweh –, aber dahinter verbergen sich verschiedene Welten mit einem ganzen Spektrum von unterschiedlichen Gefühlen. Nostalgie übrigens ist ein Kunstwort aus dem 17. Jahrhundert, gebildet aus Nostos, dem griechischen Wort für Heimkehr, und eben dem Schmerz, der -algie.

Oder Rein in eine andere Welt! In eine Welt ohne Krieg, ohne Katastrophen, ohne die Dinge, die uns quälen! Diese Sehnsucht nach einer besseren Welt, verleitet sie mich zur Weltflucht oder trägt sie mich mitten hinein ins Geschehen, um selbst Hand anzulegen und mitzuhelfen? Und tut sie das, was sie tut, jeden Tag in gleicher Weise, oder gibt es da vielleicht Schwankungen? Mal alle die Hand heben, bei denen der Impuls immer, an jedem einzelnen Tag, in die gleiche, in die „richtige“ Richtung geht… – wiederum bleibt meine Hand unten.

Sehnsucht, utopisch oder nonverbal

Was bedeutet es, wenn Heinrich Heine in den wärmsten Farben den Frühlingstag schildert, um seinem Text Sekunden später eine ebenso überraschende wie makabre Wendung zu geben, wenn er schreibt:

Wünsche: bescheidene Hütte, Strohdach, aber gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mir die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden.

Quelle und Wortlaut: Zitate berühmter Personen: Heinrich Heine

Ist das Sehnsucht? Oder Ironie und Satire? Oder Hass? Oder von allem etwas? Wie sicher bin ich mir meiner Motive, wenn ich solche Gedanken habe? Bitte mal die Hand heben, wer noch nie jemanden sehnlichst zum Teufel gewünscht hat, ganz im Stil von Heinrich Heine, wenn auch wahrscheinlich weniger blutrünstig!

Und da ist die Person, die einem plötzlichen Impuls folgend alles hinter sich lässt, was bisher ihr Leben bestimmt hatte – ein unerschöpfliches Thema der erzählenden Literatur: Beispiele kennen wohl alle, die selber lesen? War da jemand nur „durchgeknallt“, weil er oder sie plötzlich aus allen Normen ausbricht? Hände rauf: Wer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten niemals danach gesehnt, eine solche Regung in sich zu entdecken? – Ehrlich gesagt weiß ich es für mich nicht mehr zu sagen, aber möglich wäre es. In diesem Fall hätten wir es mit einer Sehnsucht nach Sehnsucht zu tun. Oder gab es da eine jahre- oder jahrzehntelange latente Sehnsucht, über die die handelnde Person niemals gesprochen hatte, vielleicht nicht einmal mit sich selbst, und die just in diesem Augenblick zum Durchbruch kam? Last but not least sind wir damit auch beim Moment des Coming-out, wenn jemand seine von gesellschaftlichen Normen abweichende sexuelle Orientierung erstmals öffentlich macht, vor anderen und dabei vielleicht auch erstmals explizit vor sich selbst.

Oh, wie schön ist Panama!

Wie groß oder klein muss ein Impuls denn sein, um in mir eine Sehnsucht zu wecken, von der ich bis dato keine Ahnung hatte? Wirklich gar keine? Oder war da längst ein diffuses Raunen, eine sich bislang nicht artikulieren wollende Ahnung? Könnte es das nicht geben, eine Sehnsucht danach, dass es plötzlich einen solchen Impuls geben möchte, der alle diese Dinge mit mir und in mir anstellen könnte? Es scheint durchaus naheliegend, eine solche Art von Meta-Sehnsucht, also Sehnsucht nach Sehnsucht, anzunehmen, auch wenn das auf den ersten Blick paradox erscheint!

Da ist die Geschichte vom kleinen Bär und kleinen Tiger, die aus einem nichtigen Anlass dem Lockruf eines solchen spontanen Impulses – Panama! – folgen. Am Ende ihrer Reise lernen sie das, was sie haben, neu zu sehen, nämlich so zu sehen, dass sie ihren diffusen Traum von Panama nicht mehr brauchen. Kürzer und unpoetischer lässt sich Janoschs preisgekrönte Geschichte nicht zusammenfassen. Die tiefere Botschaft richtet sich, wie es bei guten Kinderbüchern manchmal geschieht, in gleicher Weise oder vielleicht noch mehr an uns Erwachsene: Traue nicht unkritisch jedem spontanen Gemütsflackern. Nicht jeder innere Lichtblitz bedeutet etwas. Wobei manchmal eben doch…

Und weiter?

Die Zielsetzung, mit der ich angetreten war, nämlich ein für alle Mal zu klären, wie der Impuls Sehnsucht denn nun zu bewerten sei, ob er lähmt oder beflügelt, hat sich als ziemlich lächerlich entpuppt. Das Vorhaben scheitert nicht nur im Versuch, allgemeingültige, von der jeweiligen Peron unabhängige Kriterien zu entwickeln. Sogar, wenn ich mich allein auf mich selbst konzentriere, kann ich die Frage nicht verlässlich klären. Was mir heute richtig und wichtig erscheint, widerlege ich vielleicht durch mein morgiges Verhalten, und umgekehrt. Das vor allem wollte ich mit diesem Rundgang durch den Garten der Sehnsüchte gern zeigen und schon in der Überschrift andeuten. Sehnsucht, der Anarchist unter den Gefühlen, der sich an keine Normen hält. Oder der Chaot, der selber nicht weiß, was oder wohin er will.

Trotzdem habe ich dabei etwas gelernt. Denn wenn es mir schon nicht möglich ist, die Frage vernünftig zu beantworten, ob und wann ich Sehnsucht in meinem Leben brauchen kann und wann nicht, so ist doch wenigstens eines geklärt: Die Sehnsucht als Triebfeder meines Lebens gering zu achten oder gar zu negieren und zu verteufeln, wäre ein schwerer Fehler. Sehnsucht kann mich als Person oder als Teil meiner Familie beflügeln und, soviel kann ich verraten, hat es manches Mal auch schon getan. Die eine Sache ist, das zuzulassen. Die andere, die Sehnsucht als Triebfeder auch explizit zu benennen. Seit ich mich vorzeiten dazu durchgerungen habe. lebe ich freier. Begonnen hat es tatsächlich mit jenen Versen von Lukrez, die ich mir als täglichen Ansporn – Stichwort: beflügeln! – ins Büro gehängt hatte. Auf lateinisch und im Schrank verborgen, denn sie waren allein für mich bestimmt.

 

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Thiemes Zettel vom 01.08.2022

Dr. Christian Thieme

Größe

Glücklich, wer sich noch nie in einer wirklichen Notlage befand, nie auf spontane Hilfe angewiesen und nie von der Größe eines Anderen abhängig war. Ist das tatsächlich ein besonderes Glück, oder einfach nur kein Pech? Bei der Gesundheit ist es ja genauso: Erst, wenn sie schwindet, zeigt sich ihr Wert. Vorher war sie einfach da. Kein Pech ist eine Art von Glück, die ich im Normalfall nicht die Bohne als wirkliches Glück wahrnehme. Kein Pech zu haben, ist mein Gewohnheitsrecht. Das gesicherte Umfeld ist Normalität und gehört zu meinem sozialen und biografischen Besitzstand. Über das Normale denken wir wenig nach.

Ach, wenn es doch wenigstens nur die Gedankenlosigkeit wäre! Manchmal befürchte ich, dass mich die gesicherten Verhältnisse, in denen ich leben darf, nicht nur nicht glücklich machen, oder wenigstens zufrieden, sondern eher behäbig, vielleicht sogar hochnäsig? Kann ich mir denn im Umgang mit meinem Glück über den Weg trauen? Jedenfalls brauche ich mir überhaupt absolut gar nichts darauf einzubilden, dass ich in eine Zeit, in eine Weltregion und dort obendrein noch in eine soziale Schicht hineingeboren wurde, wo ich noch nie um so elementare Dinge wie Unterkunft oder Essen betteln musste. Bisher.

In normalen Zeiten zwingt mich nichts und niemand dazu, über dieses Glück allzu sehr nachzudenken. Ein paar Rituale genügen, um mich immer wieder ruhig zu stellen, etwa eine „großzügige“ Spende vor Weihnachten. Wobei, das lehrt die Erfahrung immer wieder und überall, die Großzügigkeit bei denen am größten ist, die selber am wenigsten haben, wenn man die konkreten Taten an den jeweiligen Möglichkeiten misst. Ungemütlich wird die Sache, wenn die gewohnte Besitzstands-Ruhe so unvermittelt erschüttert wird, wie wir es gerade zweimal innerhalb von nur wenigen Jahren erleben mussten. Die Flüchtlinge sollen doch weg bleiben, sollen uns hier in Ruhe lassen – viele dachten so und denken es weiterhin – auch, wenn es nicht alle so freimütig sagen würden. Gehöre ich tief innen auch dazu? Je stärker ich mich von der Vorstellung leiten lasse, dass meine eigene, komfortable Position ganz oder teilweise auf eigene „Leistung“ zurückzuführen sei, desto leichter fällt es mir, Fremde von mir und meinen „Errungenschaften“ fernhalten zu wollen. Rassismus, Nationalismus und manchmal auch bestimmte religiöse Konzepte tuen da – allein oder in unheilvoller Allianz – ihr Übriges. Nein, diese Kritik mag andere treffen, aber doch nicht mich: Ich danke dir, lieber Gott, dass ich nicht bei Hartherzigen dabei bin, sondern bei den Guten! Hartherzig, das bin doch nicht ich! Da wüsste ich ganz andere!!!

Bin ich es wirklich nicht? Schaue ich denn als gut situierter Europäer, wenn ich mir alle Erdenmenschen in einer Reihe aufgestellt denke, wirklich und in echter Betroffenheit auf die Unzahl derer hinter mir, oder sind das Lippenbekenntnisse und ich schiele insgeheim vielleicht doch mehr auf die Wenigen, die neben oder vor mir stehen? Die Rück-Sicht, also die Sicht nach hinten, hilft mir, mich immer aufs Neue zu erden. Sie erinnert mich an meine ethische Verpflichtung für die, die im Leben weniger Glück haben. Ein Selbstläufer ist die Sache mit der Erdung freilich nicht, auch dann nicht, wenn ich schön artig jede Woche einmal nach hinten schaue. Letzten Endes könnte der Blick nach hinten/unten sogar das Gegenteil bewirken, wenn er nämlich meinen Hochmut stärkt, anstelle der Demut. Und wenn schon nicht hochmütig, dann gleichgültig. So ist das Leben. Der menschliche Verstand passt sich schnell an. Und jederzeit ist er in der Lage, eine Situation so lange umzudeuten, bis er genügend Gründe dafür gefunden hat, sich unbemerkt aus den eigenen Verpflichtungen wegzustehlen – solange nur das Herz es ihm erlaubt, indem es wegschaut und ihn bei der Alibi-Beschaffung nicht behindert. Deshalb ist es notwendig, nicht nur den Verstand zu trainieren, sondern in gleicher Weise das Herz.

Bild zeigt ein Roulette Spiel in einer Spielbank

Erinnern als Herzens-Training!

In meinem Leben gibt es eine Frau, die mir von Kindesbeinen an als Inbegriff der Größe erschien, obwohl ich ihr nie begegnet bin. Ich weiß nicht einmal, ob sie am Tag meiner Geburt noch am Leben war, und auch nicht, wo genau sie ihr Leben gelebt hat. Nur, dass es irgendwo auf der Stecke zwischen Dresden und Starnberg gewesen ist. Strecke sagt wenig: Nennen wir es „Fußweg“, denn genau das war es damals.

Ich kann die Geschichte von ihr und den anderen Wohltätern nicht wirklich erzählen, weil ich sie nicht selbst erleben musste. Meine Mutter, damals eigentlich schon seit Jahren in Kempfenhausen am Starnberger See. Ihre Eltern, meine Großeltern, in Dresden, im Bombenhagel alles verloren, alles zerstört. Bald nach Kriegsende hat sie sie hergeholt. Zu dritt waren sie unterwegs mit einem Fahrrad, auf dem sie ein wenig von dem schoben und zogen, was den Eltern lieb und teuer gewesen war. So viel eben noch da war und auf dem Fahrrad Platz fand. Zerstörtes Land, soweit das Auge reichte. Kaputte Häuser, und auch die Brücke über die Schlucht war in der Mitte entzwei und ohne Lebensgefahr nicht mehr passierbar. Mit einem Brett, in schwindelnder Höhe über den Abgrund gelegt, hatten die Leute aus dem Dorf sie begehbar gemacht. Begehbar? – an der Lücke hielten sie Wache, nicht nur den Aufwand missachtend, sondern auch die dauernde Gefahr fürs eigene Leben, um Tag für Tag verängstigten, fremden, oftmals schwachen Menschen über das Brett zu helfen, und sogar dem Fahrrad. Stattdessen hätten sie sich wohl auch um die Schäden am eigenen Hof kümmern können, wenn sie dem Verstand gefolgt wären, statt dem Herzen.

Weiter, immer weiter. Immer wieder Kopftuch aufsetzen, möglichst alt erscheinen, um sich vor Vergewaltigung zu schützen. Eine Frau ist gestorben, so haben sie sie hergenommen – meine Kinderphantasie hatte nicht ausgereicht, das Grauen zu entschlüsseln. Es war auch nicht für meine Ohren bestimmt gewesen.

Eines Abends ein Bauernhof oder Gut – ich kann es nicht sagen. Bis zum Abend füllt sich der Hof: Eine Rotte armseliger, nasser, zerlumpter und hungriger Gestalten hofft auf einen Schlafplatz und vielleicht sogar etwas Essen. Menschen zwar, aber in ihrer Not immer weniger Individuum und immer mehr anonyme, gesichtslose Masse. Wie zuvor an der Brücke und überall. Ja, Masse, und das vermutlich jeden Abend. Vielleicht hatte sich der Ort unter den Fliehenden herumgesprochen? In der erzählten Erinnerung sehe ich einen langen Holztisch, der vielleicht für Gutshof spricht? Rund um den Tisch die grauen Gestalten, schweigend, vielleicht stumpf, und wortlos auch die Bäuerin, während sie mit einem großen Topf um den Tisch geht und jedem Menschen ein Messer voll Schmalz auf die Tischkante streicht. In meiner 1950-er-Jahre-heile-Welt-Kinderbuchphantasie ist sie mollig mit roten Backen und trägt eine karierte Schürze, Inbegriff mütterlicher Geborgenheit. In echt war sie wahrscheinlich abgehärmt und genauso vom Krieg gezeichnet wie ihre durchreisenden Gäste. Dennoch hat sie es getan. Schmalz! Mitten im Elend ein Stück Luxus! Man muss vielleicht selbst in der Situation gewesen sein, um das Gefühl authentisch nachzuerleben. Schmalz. Ersatzweise vielleicht Heinrich Böll herausholen, Das Brot der frühen Jahre….

Einer dieser grauen, verängstigten, vom Schicksal erniedrigten Menschen war meine Mutter. Von ihr habe ich diese Fragmente aufgeschnappt. Viele Worte hatte sie nicht dafür, Grauen und Angst erzählen sich so schwer. Nur die Dankbarkeit ließ sie mich spüren, den Rest musste ich mir dazudenken. Oma und Opa hatten keine Zeit mehr, mir ihre Geschichten zu erzählen. Den aufkommenden Wohlstand konnten sie höchstens von Ferne noch erahnen. Wenn überhaupt.

Auf dem Weg nach Dresden sucht mein Blick noch immer die Lücke in der Brücke, unwillkürlich. Und dann sehe ich den Tisch, die Frau und das Schmalz. Kein Teil meines gelebten Lebens, und doch ein Stück von mir.

Die Wunden von damals sind nicht mehr. Und heute? Wäre ich der mit dem Schmalz? Würde ich an der Brücke stehen?

 

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Thiemes Zettel vom 02.07.2022

Dr. Christian Thieme

Windstille der Seele

Windstille der Seele? – Leben (müssen) in der Gegenwart

Europa brennt lichterloh, und mit Europa die halbe Welt. Es ist ein Zeichen der Stärke unseres Kontinents und zugleich sein Fluch, dass er nicht alleine brennen kann. Kein guter Moment, möchte man meinen, um in der Weltliteratur nach Schöngeistigem oder Erbaulichem zu suchen. Mag sein, dass sie uns eine Oase auf Zeit bietet, in die wir uns am Ende unserer Kräfte zurückziehen können? Das Dumme ist nur, dass nach der Auszeit alles wieder da ist: Nicht nur das Gemetzel in der Ukraine, sondern auch alle anderen Kriege und Katastrophen, die sowieso schon da waren und nicht einfach verschwinden, nur weil ein weiterer Brandherd dazugekommen ist: Der Hunger, das Leid der Uiguren oder der Menschen in Afghanistan, zumal der Frauen und Mädchen, um nur so viel herauszugreifen – und als Krönung über allem die ablaufende Uhr der Weltökologie. Sich mit Odysseus in der Grotte der zauberhaft-unsterblichen Nymphe Kalypso zu verstecken, oder den jungen Leuten aus Florenz zuzuhören, wie sie in Boccaccios Dekamerone vor der Pest auf ein Landgut flohen, wo sie sich zehn Tage lang die abgefahrensten Geschichten erzählten, oder sich mit Henry David Thoreau an den Walden-Teich zurückzuziehen, um in der Einsamkeit der Natur alle Gegenwart zu vergessen – es hilft ja nichts. Sobald ich die Augen wieder öffne, ist der Traum vorbei und alles so schlimm wie zuvor. Vergessen hilft nicht. Wir müssen die Dinge genauso bewältigen wie alle Generationen vor uns. Die Geschichte wird nie „fertig“, auch wenn der Traum davon so alt sein mag wie sie selbst.

Übrigens haben auch meine drei Gewährsleute aus Antike, Mittelalter und Neuzeit nichts verdrängt. Odysseus zog es vor, die Götter um Heimkehr zu seinem Hausstand und seiner sterblichen Frau zu bitten, an deren Seite er seinen wahren Platz im Leben sah, auch wenn er es bei der unsterblich schönen Nymphe sicherlich netter hatte und ihm dort niemand nach dem Leben trachtete. Auch die jungen Leute aus Florenz sind nach ihrer Auszeit in ihre pestkranke Stadt zurückgekehrt, und Henry David Thoreau war nicht nur der entrückte Romantiker, der ein oder zwei Jahre lang das Werden und Vergehen der Natur beobachtete und liebevoll dokumentierte. Alles, was er tat, war auch politisch. In seiner Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat findet er deutliche Worte zum Unrecht der Sklaverei, dem großen Thema seiner Zeit. Und einem Staat, der diesem Unrecht Vorschub leistete und es billigte, konnte und wollte er nicht als Steuerzahler dienen. Sogar einsperren ließ er sich deshalb, wenn auch eher symbolisch. Für mich ein Vorbild und zugleich einer von Amerikas wahren Helden.

Ohnehin bietet unser kulturelles Erbe nicht nur Erbauliches. Immer schon mussten sich Literatur, bildende Kunst und Philosophie gegen das permanente Damoklesschwert der Barbarei behaupten. In schlimmen Zeiten wurden sie gar in deren Knechtschaft gestellt. In den Sinn kommt mir eine Vasenmalerei aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert, die auf geradezu schockierende Weise zeigt, wie grausam Antike sein konnte, wenn man die archaischen Bilder erst entschlüsselt hat. Soldaten sind dort dargestellt, die ihre Kampfmontur schon abgelegt haben, und nur noch durch Troja ziehen, um die wehrlosen Frauen und Kinder abzuschlachten: Gerade das in unseren modernen Augen kindlich-Naive macht deren Schecken so schrecklich. Kinder, die an die Wand geklatscht werden, Mütter, die um deren zartes Leben flehen – alles sehr gegenwärtig und seit der dort dargestellten Eroberung Trojas tausendfach reproduziert. Gerade die Griechen wussten sehr gut, dass ihre aktuelle Ruhe jederzeit enden könnte und der eigenen Familie dann genau dieses Schicksal bevorsteht, Tötung, Vergewaltigung und Versklavung, wenn die Stadt sich im nächsten Krieg nicht zu wehren weiß und dem Stärkeren unterliegt.

Bild zeigt ein Reliefpithos aus Mykonos, siebtes Jahrhundert v. Chr., Mykonos Museum 2240. Detail einer einzelnen TafelKriegsverbrechen vor 2700 Jahren:
Die siegreichen Soldaten haben ihre Kampfmontur abgelegt und ziehen mordend durch Troja. Die verzweifelte Mutter muss hilflos zusehen, wie ihr Kind zerschmettert wird.
Das gesamte Gefäß, eine Kykladische Reliefamphora um 670 v. Chr., ist mit solchen Darstellungen belegt. (Mykonos, Archäologisches Museum)

Weiter kommt mir eine frühe Schilderung von Waffen in den Sinn, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts als wirkliche Massenvernichtungswaffen empfunden wurden: Erzählt wird dort von einem militärtechnisch noch nie dagewesenen und aus damaliger Sicht durch nichts zu übertreffenden Flächenbombardement der Florentiner auf Pisa, flankiert durch Belagerung, Hunger und alles, was den modernen Krieg gegen die Zivilbevölkerung kennzeichnet. Ausgerechnet von Florenz ausgehend, damals ein Hort der Kultur und des Humanismus …

Fast wahllos griff ich diese beiden Ereignisse heraus. Alternativ wird man lokal oder „global“ auf hunderte ähnlich schlimme Katastrophen stoßen, wenn man nur alle vorhandenen Quellen nebeneinanderlegt. Mit anderen Worten: Der Ort, wo das Gute und Schöne gedeiht, liegt meist nah bei der Stelle, an der oben am dünnen Faden das Schwert aufgehängt ist. In allen Jahrhunderten seit Beginn der Aufzeichnungen haben unsägliche Grausamkeit auf der einen Seite und andererseits die beharrlichen Versuche, dem Leben lebenswerte Aspekte abzuringen, nebeneinander her gelebt, ganz so, als würden sie voneinander niemals Notiz genommen haben – namentlich die Bestialität nicht vom hellen Licht der Humanität, und umgekehrt zumindest insoweit nicht, als das Humane niemals gänzlich aus dem Denken ausgelöscht wurde. In meinem Zettel vom 16.12.2021 ließ ich dieses Motiv bereits anklingen.

Und trotz ihres mehr als zweitausendjährigen Bemühens hat die Philosophie bisher keine Formel entdeckt, die in der Lage wäre, den Menschen mit rein diesseitigen Mitteln, und das ist ja das Spielfeld der Philosophie in Abgrenzung zur Religion, einen Weg zur seelischen Balance aufzuzeigen, der von allen als der bestmögliche anerkannt würde. Das ist auch nicht verwunderlich, denn schließlich resultiert das Bedürfnis nach Balance aus der Notwendigkeit, die unterschiedlichen Impulse abzuwägen, die auf jeden einwirken, positive und negative. Und die sind nicht überall gleich. Hochwasser kann jeden töten, aber unten am Fluss ist das Risiko anders als oben auf dem Berg. Das ist banal und vordergründig, aber auch in der Tiefe wird das Denken jedes Menschen von seiner religiösen und kulturellen Prägung und von den spezifischen Bedingungen seiner individuellen Existenz bestimmt, und daraus ergibt sich auch der individuelle Weg zur Balance. Einerseits. Und andererseits wird unser aller Leben mehr als jemals zuvor von wirklich globalen Faktoren bedroht, auf die wir Menschen entweder gemeinsame Antworten finden, oder gar keine.

Die mühselige Suche nach Balance, erster Teil

Alles in allem habe ich als Mensch der Gegenwart ein doppeltes Balance-Problem. Ich bin ein verantwortlicher Teil der Menschheit, die vor mir da war und nach mir weiter da sein wird (hoffentlich…), und zugleich ein Ich, ein individuelles, einzigartiges irdisches Leben, das vor Jahrzehnten begann und irgendwann in der Zukunft enden wird. Diese beiden Aspekte wollen in eine Balance gebracht sein. In welchem Umfang will ich mich in der Welt einbringen, mit meiner Zeit, meiner Kreativität, meiner Wirtschaftskraft? Welche Politik will ich unterstützen? Welche Risiken darf sie in meinem Namen eingehen? Welche Entbehrungen bin ich bereit hinzunehmen? Man sieht, sobald ich diese Fragen notiere, schiebt sich unwillkürlich der Krieg von nebenan über alle anderen Probleme und offenen Fragen, die vorher schon da waren und jetzt nicht einfach weg sind. Immer wieder muss ich mich zu allem neu positionieren.

Die Politik hat aufgehört, mir dafür ein Leitstern zu sein, wenn sie es denn jemals war. Doch, es gab solche Perioden. Was haben wir heute: Der Bundeskanzler verfolgt wahrscheinlich eine Richtung, auch wenn er sie nicht benennt. Die Außenministerin spricht eine deutliche Sprache, soweit ihr das innerhalb der Richtlinienkompetenz des Kanzleramts möglich ist, und das Angebot an alternativen Politikansätzen in der Opposition ist zwar kleiner als die Zahl der Abgeordneten, aber doch breiter, als die Zahl der Fraktionen es erwarten ließe, von diskussionswürdig bis abstrus – das ist Pluralität im Vollbild. Generell scheint mir die parlamentarische Trennlinie zwischen Regierung und Opposition aktuell weniger als je zuvor dazu geeignet, die unterschiedlichen Ideen zu den drängenden Menschheitsproblemen zu sortieren. Weniger als je wird das Regierungslager von gemeinsamen Ideen zusammengehalten, und mehr denn je muss die gemeinsame Pragmatik des Machterhalts es richten. Dabei wäre es sogar verfehlt, den Krieg als alleinige Ursache der Führungslosigkeit zu benennen. Die politische Führung war ja bereits von der vergleichsweise harmlosen Corona-Impf-Problematik überfordert. Mehr zu erwarten, wäre aber angesichts des diffusen Wählervotums trotz der berechtigten Kritik vielleicht nicht fair.

Meine persönliche Balance zu den brennenden Fragen habe ich auch so gefunden, denn Politik-Frust kann kein Alibi sein. In welchem Umfang will ich mich engagieren, wie aufrichtig bin ich über den Tag hinaus bereit zum Verzicht, wie bereit bin ich zum persönlichen und kollektiven Risiko – ich habe mich sortiert und stehe zu den Verantwortlichkeiten, die ich mit meiner Positionierung übernehme. Das ist etwas, das gerade jetzt jede*r für sich leisten muss, sichtbarer als früher. Niemandem bleibt es erspart, und niemand ist darum zu beneiden.

Die mühselige Suche nach Balance, zweiter Teil

Der Notwendigkeit, diese Balance zwischen mir und der Welt zu finden, kann ich überhaupt nicht entgehen, egal, wie ich es anstelle. In diesem mir steckt alles drin, was meine individuelle, nicht wiederholbare Persönlichkeit ausmacht, alles, womit mich dieser Anspruch immer wieder in Konkurrenz zum Gemeinwohl geraten lässt. Und selbst, wenn ich mich für gar nichts engagiere, zu nichts Stellung beziehe, habe ich mich positioniert, und zwar gegen alle, die selber etwas tun und dazu um meine Unterstützung ringen. Auch wenn ich nicht wählen gehe, habe ich mich entschieden. Dann stärke ich wahllos die, die ohne meine Mitwirkung gerade die Mehreren sind.

Dabei werden Zynismus und hemmungsloser Egoismus desto mehr zum Risiko, je schwieriger die Lage wird. America first, oder Italien, oder Deutschland oder jedes beliebige andere Land: gemeint ist immer nur: Mein voller Bauch first! So wird allein schon die Eindämmung dieser Parolen von den Rändern des politischen Spektrums zur Herausforderung und Aufgabe der anderen.

Ich und die Welt, das ist die erste Herausforderung. Die zweite ist die Suche nach der inneren Ruhe, die man entgegen allen Werbebotschaften leider nicht in der Apotheke kaufen kann. Die Pole, zwischen welchen wir unsere Balance wir finden müssen, lauten nicht „innere Ruhe versus Teilnahme am Weltgeschehen“. Wie wir es auch drehen und wenden, können wir überhaupt nicht umhin, uns zu der Welt, die uns umgibt und in der wir leben, in der einen oder anderen Weise zu positionieren. Erst wenn wir das bestanden haben, sind wir aufgerufen, unsere innere Ruhe zu suchen, unsere persönliche Windstille der Seele. So zeigt sich, dass die Suche nach Seelenfrieden überhaupt nichts damit zu tun hat, wie verantwortlich wir uns für unseren Planeten und den Frieden auf der Welt fühlen (wollen), und deshalb ist „Seelenruhe“ kein Kampfruf der Teilnahmslosen!

Stoiker, Epikureer oder Skeptiker?

Natürlich gibt es in der Philosophie, auf die ich mich hier (in Abgrenzung zur Religion) beschränke, mehr Denkrichtungen als nur die drei Genannten, auch schon in der Antike, und nach ihr hat das Denken ja auch nicht aufgehört. Sowohl die Stoiker und die Epikureer als auch die Skeptiker empfanden ihre jeweilige Weltsicht als ein in sich rundes Paket, als eine Lehre, die zur erstrebten Glückseligkeit führt, wenn sie nur konsequent verinnerlicht und ins eigene Leben integriert wird, und nicht als bloßen Katalog von Techniken. Modern ausgedrückt lassen sich die jeweiligen Bezeichnungen, die sie für den erhofften Zustand der Glückseligkeit benutzten, gemeinsam als Windstille der Seele interpretieren. Für uns Heutige hat sich der Blick auf die antiken Lehren freilich gewandelt. Darum unterhalte ich Heutiger mich gerne mit Marc Aurel, dem römischen Philosophen-Kaiser aus dem zweiten Jahrhundert, ohne mir freilich die Ontologie der Stoiker, also deren Vorstellung vom Aufbau der Welt und vom Jenseits, auch nur ansatzweise zu eigen zu machen. Mag sein, dass beim epikureischen Denken die Verbindung zur Ontologie enger ist, denn Epikur stützt sich auf die Lehre von den Atomen, die bereits von den sog. Vorsokratikern entwickelt worden war, und leitet aus ihr eine atheistische Weltsicht ab. Mit ihr wiederum begründet er seine hedonistische Lebensweise.

Unser modernes Denken und Leben will sich weder institutionell noch auf der Ebene der politischen, philosophischen oder religiösen Konzepte an eine Sache binden. Rückläufige Wählerbindung, schrumpfende Volksparteien und sinkende Mitgliederzahlen sowohl bei Parteien und Gewerkschaften als auch bei den Kirchen sind der institutionelle Ausdruck dieser Entwicklung – alles bekannt. Die Ursachenforschung führt für jede der betroffenen Institutionen zu spezifischen Ursachen. Dem übergeordnet jedoch scheint ein globaler Trend zu liegen, in den sich die lokalen Begründungen bequem einreihen: Als moderner Mensch bin ich zuerst einmal Individualist, und daher a priori skeptisch.

Der Zweifel ist so alt wie die denkende Menschheit, und die Philosophie des Skeptizismus verlieh ihm den frühesten Ausdruck. Tatsächlich kann, wer intellektuell redlich bleiben will, nicht umhin, immer wieder an allem zu zweifeln, was uns unsere Sinne und unser Denken als wahr vorspiegeln. Erst wenn ich den Versuch einstelle, Wahrheit zu erkennen, sagen die Skeptiker, kann ich die innere Ruhe gewinnen, mit der ich überhaupt existieren kann. Wie das im Alltag funktionieren konnte, spielt jetzt keine Rolle. Vom Grundsatz her gründet sich die philosophische Position des Skeptizismus auf die prinzipielle Unmöglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. Wer dagegen heute der Nachrichtenlage „skeptisch“ begegnet, bezieht sich auf die offensichtliche Schwierigkeit, wahrheitsgemäße Information zuverlässig von vorsätzlich gefälschten Nachrichten zu unterscheiden. Damit droht der moderne Skeptizismus von einer erkenntnisphilosophischen Denkrichtung zum wohlfeilen Alibi zu mutieren. Wer im „skeptischen“, in Wahrheit desinteressierten Wegsehgen den Schlüssel zum Seelenfrieden zu finden meint, hat sich vielleicht einfach davor gedrückt, genauer nachzudenken?

Lebensfreude?

Und wo bleibt sie dann, die Lebensfreude? Ohne sie will niemand leben, auch ich nicht, auch wenn ein einfacher, widerspruchsfreier Weg zu ihr anscheinend nicht gelingen kann. Hat uns das Nachdenken denn jetzt irgendwie weitergebracht?

Stoiker, so sahen wir, gehen vom Leid aus und davon, dass niemand dieses selbst beeinflussen kann. Vielmehr, so sagen sie, kommt es auf die Wahrnehmung an und folglich darauf, wieviel Macht über uns wir diesem Leid zubilligen oder eben nicht zubilligen. Windstille der Seele entsteht, wenn ich mich auf das konzentriere, was in meiner Macht steht. Als philosophische Position ist das für mich nicht haltbar, aber als selektiv angewandte Technik hat es mir in bestimmten, dafür prädestinierten Situationen oft sehr geholfen. Gut zum Ertragen, aber Lebensfreude entsteht daraus keine.

Ganz anders Epikur! Sein Leitstern ist die Freude. Freude am Leben ist sein Ziel, und nicht eine gute Seele, wie bei der Konkurrenz von den Stoikern. Aber dann kommt es: epikureische Freude ist nicht das Auf und Ab von Ballermann und Kater, sondern ein abgeklärtes Genießen, bei dem zur Freude auch gehört, sich vor dem Kater am nächsten Tag zu hüten. Diese Haltung bietet, wenn man sie von ihrer weltanschaulichen Basis löst, hilfreiche Impulse. Aber will ich das?

Und dann noch Neil Postman, der frühe Mahner gegen den Medienkonsum! Unter dem Titel Wir amüsieren uns zu Tode hat er bereits vor Jahrzehnten das (Un-)Wesen des Infotainment angeprangert, das darauf basiert, jede Nachricht, selbst eine über die ärgsten Katastrophen, umgehend zu relativieren, indem mit einem „und jetzt“ auf ein anderes Thema umgeschaltet wird. Nach Tagesschau und Kriegs-Special folgt ohne Übergang die live-Übertragung des Fußballspiels.

Und ich? Was macht das alles mit mir? – zunächst bin ich dankbar für die Vielfalt und dafür, wie sie mein Denken bereichern kann. Die live-Übertragung eines Fußballspiels in Kriegszeiten hat für mich per se keinen positiven oder negativen ethischen Wert. Es liegt in meiner Verantwortung, in welchen Kontext ich sie stelle. Erst durch mich, durch meine gesamte Lebensführung und meine Haltung gewinnt dieses Detail, dieses Spektakel, seine ethische Kontur. Beim Betrachter neben mir kann sie ganz anders sein. Es geht im Sommer 2022 mehr denn je darum, zugleich Ja zu sagen zur eigenen Verantwortung in der Welt und Ja zum eigenen Leben. Rettungssanitäter und Intensivmediziner, Psychologen, Notfallseelsorger und viele weitere Berufsgruppen erleben längst eine ähnliche Zerrissenheit im Spagat zwischen beruflichem Alltag und eigenem Leben. In diesen Wochen wird uns stärker bewusst, dass wir ausnahmslos alle von den Widersprüchen des Daseins gezeichnet sind. Und alles Denken, alle Techniken, alles was dazu beiträgt, die divergierenden Impulse zu versöhnen – all das hilft und ist wichtig.

 

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Thiemes Zettel vom 03.06.2022

Dr. Christian Thieme

Jenseits der „Nützlichkeit“: Zwischen Babel und Pfingsten

Was denken wir uns dabei, wenn wir statt Sprache manchmal Fremdsprache sagen und manchmal nicht. Auf den ersten Blick scheint der Unterschied belanglos, denn Chinesisch bleibt Chinesisch, egal wie wir dazu sagen. Aber etwas muss es doch bedeuten, sonst bräuchten wir nicht zwei Wörter. Und allein über die wörtliche Bedeutung von fremd kommen wir nicht weiter. Fremd ist uns jede Sprache, die wir nicht kennen, vertraut nur die Muttersprache. Vielleicht ist jemand mit zwei oder drei Sprachen aufgewachsen, aber mehr nicht. Und was heißt schon kennen? Wenn ich, ohne etwas zu verstehen, zumindest erkenne, dass das, was ich höre, Italienisch sein muss, oder Französisch? Oder wenn ich in einem Land Brot kaufen kann? Oder mit Hilfestellung einen Geschäftsbrief verfassen kann? Solche Überlegungen liefern Anhaltspunkte, aber keine echten Antworten.

AltgriechischEtwas geht noch: Latein oder Altgriechisch sind Sprachen, aber wenige würden sie wohl als Fremdsprachen betrachten. Offenbar spielt es eine Rolle, dass es für sie keine lebenden Sprecher mehr gibt. Jedenfalls keine, für die es die Muttersprache wäre. Und wie ist das dann bei Esperanto? Niemand hat es je als Muttersprache gesprochen. Ich würde mich subjektiv auch schwer tun, zu einem nicht kulturell gewachsenen, synthetischen Konstrukt wie diesem überhaupt Sprache zu sagen, obwohl mit Esperanto kommuniziert werden kann, wie übrigens auch mit einer Programmiersprache. Von Doktor Dolittle und der „Sprache“ von Tieren mal ganz abgesehen.

Ist Englisch eine Sprache oder eine Fremdsprache? Und wie ist es bei Portugiesisch? Und wie sehen wir das bei Gälisch, der keltischen Sprache in Schottland und Irland? Was genau bezweckt diese Unterscheidung, wofür ist sie gut? Als erstes fällt auf, dass offenbar in jeder denkbaren Antwort eine gute Portion Subjektivität mitschwingt. Was mir Muttersprache, nämlich Deutsch, ist für andere weit weg, außerhalb ihres Lebens sozusagen. Noch weiter weg als fremd. Vielleicht exotisch? Wobei das auch schon wieder schwierig ist. Das Prädikat exotisch verbindet sich nämlich mit unserer eurozentrischen Weltsicht. Wir hätten keinen Zweifel, dass Bilma-Kanuri eine exotische Sprache sei. Klammer auf: Ich habe sie mir im Internet gesucht, als Beispiel für das, was ich erklären will. Bilma-Kanuri wird in Niger von etwa 20.000 Menschen gesprochen, und für diese ist es die Muttersprache und Deutsch exotisch – Klammer zu.

Damit sind wir einen Schritt weiter. Die Klassifikation als Fremdsprache hat etwas mit Nützlichkeit zu tun. Bilma-Kanuri würden wir allein deshalb nicht als Fremdsprache „anerkennen“, weil ihre Kenntnis für 99,999 Prozent (bei uns) keinen praktischen Nutzen hat. Und auch für Deutschland keinen politischen Nutzen. Denn den gäbe es als denkbares Kriterium auch noch. In der EU gibt es 24 Amtssprachen, bei insgesamt etwa 200 gesprochenen Sprachen – wobei die Grenzziehung zwischen Sprache und Dialekt ein eigenes Kapitel wäre. Amtssprache ist also eine zusätzliche Abstufung in einem fiktiven Katalog von Nützlichkeiten. Für Minderheiten wie beispielsweise die Sorben ist es von großer Bedeutung, welche politische Relevanz ihrer Sprache – und damit ihrer Kultur und Lebensform!!! – zugebilligt wird.

Eine kurze Geschichte

Die folgende Geschichte kommt mir nur schwer über die Lippen. Sie handelt nämlich vom Russischen, und in diesen Monaten, vielleicht noch auf lange, gehört der Gedanke an das politische Russland und seine Untaten zum Widerwärtigsten, was einem gerade in den Sinn kommen kann. Jetzt aber erzähle ich vom Jahr 1966 oder 1967, als ich noch ein eigenwilliger und manchmal rebellischer Gymnasiast gewesen bin. Auch damals war das mit Russland besonders, wobei mir und wahrscheinlich den meisten westdeutschen Nachkriegs-Menschen der Unterschied zwischen Russen und anderen freiwilligen oder unfreiwilligen Bewohnern der UdSSR kaum bewusst war. In dieser Zeit hatte es sich der Christian, der ich damals war, in den Kopf gesetzt, als Wahlfach Russisch zu lernen. Dafür musste er nachmittags mit dem Radl ein ganzes Ende durch München radeln, zu einer anderen Schule, wo das möglich war, und das tat er dann auch mit Freuden.

Warum sage ich „der damalige Christian“: Menschen entwickeln sich (Gott sei Dank!), und der heutige Autor sieht die Dinge differenzierter als der damalige Christian. Trotzdem bin ich in diesem Punkt sehr einverstanden mit jenem damaligen Christian, so dass ich eigentlich auch wieder „ich“ zu ihm sagen kann. Warum also wollte ich neben Latein und Altgriechisch (und gezwungenermaßen Englisch) nun nicht wenigstens etwas Französisch lernen? Es lag nicht am Französischen und nicht an einem etwaigen Desinteresse an unserem wichtigsten Nachbarn. Klar wäre mir heute oft wohler, wenn ich so gut Französisch könnte wie Latein. Aber das ist keine Reue! Es ist eher wie bei lieber reich und gesund als arm und krank: Man kann manchmal nicht alles haben.

Was also hat es mir gebracht, Russisch gelernt (und großenteils wieder vergessen) zu haben: Das wurde ich damals natürlich auch schon gefragt, und die damalige Antwort begann immer mit Ja, mei, … Heute geht es etwas differenzierter. Ausdruck einer linken, prosowjetischen Gesinnung war es keineswegs, das vorangestellt. Im Gegenteil. Meine Abneigung gegen das, was „dort drüben“ vor sich ging, hat mich auf Distanz zu vielen gehalten, deren sonstige Gedanken ich eigentlich unterstützen konnte. Und manche Prominente, auch sehr Prominente, die heute ihre politischen Fehleinschätzungen der jüngsten Jahrzehnte erklären, mögen weiter zurückgehen und sich auch an die Fehl-Färbung ihrer damaligen Brille erinnern …

Zurück zur Sprache. Kein politisches Motiv, kein ökonomisches. Etwa dereinst studieren oder arbeiten in der Sowjetunion? Undenkbar war das! Inzwischen habe ich mangels Übung sowieso fast alles vergessen. Trotzdem kann ich den Nutzen heute noch erklären. Das Russische hat neben den alten Sprachen, neben Englisch und später Italienisch meinen Blick dafür geschärft, wie unterschiedlich Sprachen „ticken“ können, und was das für mich und die Sicht auf meine eigene Sprache bedeuten könnte.

Russisch war damals das Maximum dessen, was ich meinem Umfeld gerade noch erklären konnte, und unter diesem Druck stehend vielleicht auch mir selber. Ohne solchen Druck hätte es vielleicht auch eine „exotische“ Sprache wie eben Bilma-Kanuri werden können, wenn es denn angeboten worden wäre. Davon hätte ich in meinem Sinn wahrscheinlich noch mehr profitiert als von Russisch.

Im Kopf flexibel werden!

Ungefähr im selben Alter wollte ich die ersten älteren Bücher lesen, solche in der „alten“ Schrift. Das war ja sooo schwer! Heute registriere ich es nicht einmal mehr, welche Schrift ich gerade vor mir habe, aber damals war das eine echte Hürde. Die Vertrautheit mit der griechischen Schrift ist inzwischen ähnlich, limitiert allerdings dadurch, dass ich nicht dieselbe Vertrautheit mit den Wörtern und ihren Bedeutungen besitze. Aufschriften in kyrillischer Schrift muss ich mit Konzentration entschlüsseln, wobei ich z.B. in der Regel nicht einmal sicher erkennen kann, ob ich Russisch oder Bulgarisch vor mir habe. Aber je mehr Schriften dazukommen, desto niedriger werden die Hürden, die der Kopf zwischen den Denk-Kategorien eigen und fremd aufrichtet – und allein das ist schon der erste Nutzen! Wobei übrigens nicht einmal die intuitive Gleichung stimmt, dass ein Laut einem Zeichen entsprechen müsste. Allein das deutsche sch widerlegt es! Dafür ist im Russischen dem Laut schtsch und tsch jeweils ein einziges Zeichen zugeordnet, ein anderes dagegen bedeutet „gar nichts“, weil es nur die Aussprache steuert, und im Hebräischen beispielsweise werden keine Vokale geschrieben. Oder die Vorstellung dass es für jeden Laut nur eine Darstellung gäbe – Fehlanzeige. Siehe das s in der deutschen Kurrentschrift oder auch im Griechischen… Und von der Phonetik ist dabei noch gar nicht gesprochen – alles erst die Spitze vom Eisberg… Dabei kommt es mir jetzt nicht auf einzelne Beobachtungen an, sondern auf den Vogelflug. Was ist in anderen Sprachen bei einer anderen Sicht auf die Welt wichtig, was in meiner eigenen Sprache keine Rolle spielt ist, und umgekehrt? Und was lerne ich daraus?

Bereits innerhalb meines begrenzten Sprachen-Horizonts finde ich zu praktisch allen gängigen grammatikalischen Kategorien „abweichende“ Varianten. Abweichend sage ich dazu, solange ich das Eigene zur Norm erkläre. Diese zu relativieren, genau darauf kommt es an, weil das meine Weltsicht erweitert.

Allein schon die Frage, was zu einem Satz obligat dazugehört. Dass das Pronomen ich oder du fehlen kann, kennt man etwa aus dem Italienischen. Obwohl es, falls es besonders betont werden soll, doch wieder vorhanden ist. Im Deutschen gibt es das fehlende Pronomen auch, aber dann ist es Umgangssprache. Anderes Beispiel: Einem alten Römer war es egal, ob ein er oder eine sie etwas gemacht hat – Indiz für die männlich dominierte Weltsicht? Aber es ist nicht so einfach. Die italienische Geschichte mit dem simplen Titel Sola in casa transportiert eine ins Deutsche unübersetzbare Information. Der italienische Autor hatte gar keine andere Wahl, als dem Adjektiv sola ein Geschlecht zuzuordnen, hier also weiblich, und zwar unabhängig davon, ob ihm das an dieser Stelle wichtig war – in dieser Geschichte war es das tatsächlich. Auf Russisch wiederum brauchen manche Sätze kein Prädikat, ohne dass dies etwa schlechter Stil wäre (Wo Bahnhof?). Wahrscheinlich gibt es unter den tausenden Sprachen auch solche, denen das Geschlecht (natürlich oder grammatisch) eines Objekts unwichtig ist, oder bei denen vielleicht zwischen belebt und unbelebt unterschieden würde? Von einer solchen Sprache zum Beispiel würde ich sehr gerne ein anderes Denken lernen. Das Englische mit den Regeln zu Neutrum ist da ja partiell schon dran. Wenn nicht der geliebte Oldtimer plötzlich zur she würde…

Was haben wir noch: Der Gebrauch der Zeiten – alles andere als einheitlich! Einzahl und Mehrzahl – natürlich gibt es anderswo mehr als das! Aktiv oder Passiv – klar, dass es etwas dazwischen geben kann! Vier Fälle? – muss nicht so sein! In der indogermanischen Ursprache waren es acht oder neun, aus denen sich die einzelnen Abkömmlinge unterschiedlich bedient haben. In nicht-indogermanischen Sprachen gibt es sogar noch viel mehr. Wie lerne ich Finnisch mit 15 Fällen oder Ungarisch mit anscheinend über 30 („je nach Zählung“ fand ich dazu als Erklärung). Wie muss ich zuvor mein eigenes Weltbild erweitern, um ein solches System überhaupt in die Birne zu kriegen. Finnisch ist schwer, würde man dazu wohl sagen – ist das wirklich der Punkt? Und die Formen der Verkleinerung: Warum nicht auch solche der Vergrößerung – gibt es natürlich.

Dazu kommen, wenn man weiter in Sprachen eintaucht, zum Beispiel die Bilder und subtilen Wortbedeutungen. Als der vorige US-Präsident in Nordkorea mit einem unannehmbaren Vorschlag konfrontiert wurde, wurde seine Ablehnung übersetzt, er sei darauf nicht vorbereitet. Das konnte man bei ihm zwar vielleicht sogar unterstellen, aber gemeint hat er wohl not prepared im Sinne von nicht bereit. Über den Zusammenhang zwischen bereit in diesem speziellen Sinn und vorbereitet lässt sich gut nachdenken! Bei der Wanderung zwischen Sprachen ist so etwas Alltag, und, wie ich finde, immer bereichernd. Und die idiomatischen, überhaupt nicht wörtlich übersetzbaren Redeweisen sowieso. Sie gehören irgendwie immer zu den Zuckerstückchen beim Studium anderer Sprachen – als ständige Stimuli zum Nachdenken über die eigene!

Nach Babel

Nach Babel ist der Titel eines Buchs von George Steiner. Diesen Text zu schreiben, ohne irgendwo seinen Namen zu nennen, wäre sowieso nicht möglich. Erst von ihm habe ich gelernt, bestimmte Dinge zu sehen oder Dinge, die ich kannte, anders zu sehen. Der gymnasiale Unterricht in den alten Sprachen, besonders im Griechischen, war daran krachend gescheitert. Steiner stellt in seinen Texten den Reichtum heraus, der uns über die Vielfalt der Sprachen geschenkt ist, auch wenn kein Mensch diesen Schatz je auch nur annähernd allein heben könnte. Oben habe ich skizziert, in welche Richtung der Gewinn gehen kann, selbst wenn jemand nur mit dem Fernrohr aus großer Distanz darauf blickt, so wie ich.

Sprache oder Fremdsprache? – Bildung oder Ausbildung!

Für mich erklärt sich der Unterschied der beiden Bedeutungen aus der Erwartung, mit der ich einer Sprache begegne. Will ich sie mir aus praktischen Gründen aneignen, so, wie Milliarden Menschen notgedrungen ein globalisiertes, heruntergekommenes Nutztier-Englisch, dann habe ich die Fremdsprache. Zu ihr gehört als Pendant die Ausbildung, die sich von Bildung in eben demselben Aspekt unterscheidet wie die Fremdsprache von der Sprache. Da steckt keine abschließende Bewertung drin. Ich selbst habe mich von Jugend an intuitiv gegen die nutzenbetonte Fremdsprache und für die zunächst zweckfreie Sprache entschieden, und George Steiner hat mir Jahrzehnte später geholfen, meine Entscheidung zu erklären. Trotzdem könnte ich etwas mehr Fremdsprache schon gebrauchen, insbesondere das Französische.

Im Alten Testament war die „Sprachverwirrung“ der göttliche Dämpfer auf die menschliche Hybris. Vielleicht müssen wir uns denken, es sei die vorgezogene Strafe für den über jede globale und ökologische Vernunft hinaus expandierten ökonomischen Globalisierungswahn gewesen? Und bestünde die profane Sicht auf das so schwer zu erklärende Pfingstwunder dementsprechend darin, dass alle, die in der Welt gehört werden wollen, jenes von allen kulturellen losgelöste, banal-globalisierte Welt-Englisch sprechen und schreiben müssen? Das ganze als Strafe dafür, dass die Menschen an einem wirklichen gegenseitigen Verstehen offenbar kein Interesse haben – in welchen Sprachen auch immer – solange die Geschäfte laufen?

Bildung oder Ausbildung, Sprache oder Fremdsprache und als drittes Mensch oder Funktionsträger? Mit dieser Zuspitzung kann ich nur Widerspruch ernten. Ich selber würde ihr wohl auch widersprechen, wenn ich sie nicht soeben selbst ins Spiel gebracht hätte und somit nicht wüsste, was ich mit der Zuspitzung im Sinn hatte: Bildung ist als Underdog im Reich der Zweckdiener doch überhaupt gar nicht in der Position, irgendwie auch nur im Entferntesten auf Angriff zu schalten. Es würde ihr doch schon genügen, wenn sich das Klima dahingehend wandeln könnte, dass nicht mehr automatisch, reflexhaft und regelmäßig bei allem und jedem sofort die Killer-Frage käme: Wozu kann man das denn brauchen?! Und wenn nie mehr das unsägliche Wort Entschlackung fiele, wo es doch in Wirklichkeit darum geht, Bildungsinhalte zu liquidieren, die man in der Zweckdiener-Welt nicht „brauchen kann“. In ihrer überzogenen Orientierung am vordergründig Nützlichen geriert sich Bildungspolitik, wie mir scheint, manchmal eher als Risikofaktor für Bildungsangebote, statt sie zu fördern.

Sprachen sind die Spitze vom Eisberg. Wenn in Zukunft wieder der Konsens entstünde, dass die touristische und ökonomische Brauchbarkeit einer Sprache zwar ein sinnvolles, aber nicht das einzige Auswahlkriterium ist, und dass eine kluge Mischung verschiedener Kriterien, bei der sich niemand mehr dafür rechtfertigen muss, seinem Kind gegen alle Strömungen zum Beispiel das Altgriechisch nahezubringen, die beste Lösung für alle wäre, dann wäre es mir schnurzegal, ob die Dinger Sprachen oder Fremdsprachen heißen. Freilich gehörte dazu auch der politische Wille, ein Angebot zu erhalten oder aufzubauen, welches ein solches Bedürfnis ermutigt oder bei manchen eventuell erst weckt. Als Gesellschaft bekämen wir so wahrscheinlich das bestmögliche „Mix“, und jede*r Einzelne bekäme leichter die Chance, der zu werden, der er/sie ist – um augenzwinkernd den antiken Dichter Pindar zu bemühen…

Post Scriptum: Mein Freund seit Schülertagen UK hat mich in einer sehr hilfreichen Anmerkung auf meine Tendenz aufmerksam gemacht, gerechtfertigte Gedanken zu weit zu strapazieren. Sein mahnendes Wort zu meiner Sicht auf Sprachen (geschrieben aus dem Wanderurlaub in den griechischen Bergen!) gebe ich hier im Wortlaut wieder – er hat ja total Recht und niemals wollte ich diesen Aspekt ausgeschlossen haben:

Ich teile ganz deinen Blick auf Sprachen und Fremdsprachen, die unser Denken relativieren und die Sicht auf die Welt erweitern können und sollen. Im Bildungsbereich kritisierst du logischerweise die Eingrenzung auf anwendungsbezogene Sprachen und auf funktionale Lerninhalte. Ich würde noch jene Sicht von Bildung ergänzen, die neben systematischem und kritischem Denken auch die Kommunikation als bedeutend ansieht. Wenn der Gebrauch einer Fremdsprache zu größerem Einblick in das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen anderer Sprache führt, wie wir es in der Begegnung mit Griechen ein weiteres Mal jetzt erleben, bereichert es, "bildet" es, differenziert es Vorstellungen, lässt es mich gegebenenfalls meine Vorurteile hinterfragen. Das soll nicht heißen, dass Latein und Altgriechisch nicht weiterhin wichtig sind, nur möchte ich sie nicht den modernen Fremdsprachen gegenüber stellen.

 

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Thiemes Zettel vom 05.05.2022

Dr. Christian Thieme

Spaß an Mathematik?

Wer in der Schule mit Latein groß geworden ist und danach obendrein Mathematik studiert hat, hat es im Leben schwer. Sobald er sich anschickt, einen normalen Satz zu sprechen oder gar zu schreiben, kommt als erster Entwurf ein Monster heraus, bei dem alles stimmt – und das dementsprechend kein Mensch versteht. Alle grammatikalischen Bezüge werden korrekt sein. Einen Artikel oder ein Adjektiv zum Beispiel wird der arme Mensch notfalls lieber in der jeweils korrekten Form zweimal benutzen, damit grammatikalisch alles stimmt. Ein Beispiel gefällig? Gerade hatten wir eines, nämlich den obigen Satz „Einen Artikel oder ein Adjektiv …“ Es ist kein besonders gutes Beispiel, aber es passt schon. Viele würden in diesem Satz das zweite „ein“ weglassen.

Aber der arme Mensch muss sich nicht nur um die Grammatik kümmern, sondern zum Beispiel auch um Präzision, und an dieser Stelle kommt zum ersten Mal die Mathematik ins Spiel. Denken wir uns, einer sagt, dass es aus einer bestimmten unerfreulichen Situation einen Ausweg gebe. Was meint er genau? Gibt es eventuell auch weitere, oder will er uns sagen, dass es einen Ausweg gibt, und nur diesen einen? Beim Sprechen ist das kein Problem. Jeder wird den Satz so betonen, dass die Botschaft eindeutig ist, indem er entweder das Wort einen betont oder das Wort Ausweg. Manche aber sprechen nicht nur so, was völlig in Ordnung ist, sondern schreiben ihre Sätze auch mehrdeutig auf, als könnten sie darauf vertrauen, dass jeder Leser beim Lesen automatisch die richtige Betonung mithören wird.

Es genügt, eine Zeit lang aufmerksam die Nachrichten im Radio zu verfolgen. Früher oder später kommen solche Beispiele vor – nach meinem Eindruck eher früher als später. Aber ich bin halt sensibilisiert. Müsste ich Nachrichtentexte schreiben, so würde ich peinlich genau darauf achten, dass beim Vorlesen meiner Texte sinnwidrige Betonungen einfach nicht vorkommen können, auch wenn jemand sie unvorbereitet vorlesen muss, sozusagen „vom Blatt“. Darauf achten? Im Grunde müsste ich auf das Gegenteil achten. Ich müsste aufpassen, dass meine Nachrichten vor lauter Richtigkeit nicht richtig schwer verdaulich werden.

Was würde ich also schreiben, wenn ich die Sache mit dem Ausweg klar haben will: Entweder könnte ich zum Beispiel sagen, dass es doch durchaus einen Ausweg gibt, wobei es dann auch zwei sein könnten. Oder es kommt mir darauf an zu betonen, dass es nur einen einzigen gibt, aber diesen einen auch wirklich. Dann könnte ich sagen, dass es einen, aber auch nur diesen einen Ausweg gibt. Oder ich sage kürzer, dass es genau einen Ausweg gibt.

In der Mathematik würde man entweder sagen, dass für eine Gleichung eine Lösung existiert, wenn es evtl. auch mehrere sein können. Man kann dann auch sagen mindestens eine. Wenn es wirklich nur die eine Lösung gibt, würde man sagen, dass die Gleichung genau eine Lösung hat. Für beides gibt es sogar symbolische Schreibweisen. Ein gedrehtes E bedeutet, dass ein Objekt existiert, das die entsprechende Bedingung erfüllt, zum Beispiel eine Zahl zwischen 2 und 8. Wenn eine kleine Ziffer 1 angefügt ist, dann gibt es die betreffende Sache genau einmal, also Z.B eine Zahl zwischen 2 und 4. Hätte ich gleich mit diesen Symbolen angefangen, na ja: Mathematik versteht doch keiner…

Und was heißt eigentlich „Zahl“? So wie man zählt, oder so wie am Zollstock? Beim Zählen ist nur die 3 dazwischen, am Zollstock ist es stufenlos. Und überhaupt! Sollen bei der Vorgabe zwischen 2 und 4 die Ränder, also 2 und 4, dabei sein oder nicht? Meistens wirkt die Mathematik mit ihren Formalismen nur deshalb kompliziert, weil sie genau sein will. Eigentlich macht mir das die Sache doch leichter, aber irgendwie doch nicht immer. Vor allem die Umgangssprache profitiert manchmal davon, dass sie unscharf ist, entweder absichtlich oder unbewusst. Übrigens: genau ein Euro (und nicht 1,03 €) kommt in der Mathematik nicht vor. Wenn das Rechenergebnis lautet ein Euro, dann braucht es dazu kein genau.

Falscher Name, grüner Mond

Und es geht ja noch weiter. Denn natürlich soll mein Satz grammatikalisch korrekt und in der Aussage eindeutig sein. Vor allem aber soll er doch auch stimmen! Aber stimmen oder nicht, das liegt doch nun allein an mir, oder gibt es da schon wieder Mathematik? Der Mond ist ein grüner Käse – das stimmt sicher nicht. Wenn ich aber sage: Wenn ich Isolde von Tunichtgut heiße, dann ist der Mond ein grüner Käse, dann stimmt mein Satz, weil ich so nicht heiße. Jeder wird den Clou verstehen, ganz ohne Mathematik. Der Satz hat etwas Ironisches oder Witziges, weil er die Aussage ich heiße nicht Isolde von Tunichtgut mit dem Scherz vom grünen Mond besonders hervorhebt. Der Satz ist aber auch im Sinne der mathematischen Logik wahr, obwohl die Mathematik eher humorlos daherkommt. Die Regel heißt nämlich: „Der Satz aus a folgt b ist wahr, wenn a falsch ist“. Ohne das einführende Beispiel mit dem grünen Käse wäre das wohl ziemlich unverständlich gewesen!? Denn natürlich kann etwas Wahrem mathematisch nur etwas Wahres folgen, das entspricht der spontanen Erwartung. Aus etwas Falschem jedoch kann Beliebiges folgen. Ex falso quodlibet, so heißt die Regel auf Lateinisch. Aber Vorsicht! Wenn der heute pünktlich kommt, heiße ich Meier. Das sieht zwar auch aus wie Mathematik, hat aber eher den Charakter einer Wette. Der Betreffende könnte ja ausnahmsweise doch mal pünktlich kommen, es ist nur unwahrscheinlich. Von der Aussage er wird pünktlich kommen steht also nicht fest, ob sie wahr ist oder falsch.

Daher muss, sagt die Mathematik, zu dem Beispiel vom grünen Mond noch etwas dazu: Wer garantiert mir denn, dass der Autor dieser Zeilen nicht plötzlich doch Isolde von Tunichtgut heißt? Dann wäre unser wenn-dann-Satz nämlich falsch, weil eben aus etwas Wahren kein Unsinn folgen kann. Wir haben es also mit einer Aussage zu tun, die entweder wahr oder falsch sein kann. Wenn wir uns jedoch an Stelle von Ich heiße Isolde von Tunichtgut die Aussage denken 1 + 1 = 10, dann wird es einfacher. Dann weiß die Mathematik nämlich, dass diese Aussage auf jedem Fall falsch ist, und dann passt der wenn-dann-Satz auf jedem Fall.

Wirklich auf jedem Fall? Wir müssen dazu voraussetzen, dass sich die Gleichung nicht auf das duale System aus lediglich Nullen und Einsen bezieht, wie es im Computer benutzt wird. In diesem Zahlensystem nämlich wäre 10 (eins-null) die Schreibweise für die Zahl zwei …

Wer sich also lange genug mit Mathematik herumgeschlagen hat, hat sich nicht nur angewöhnt, sprachlich und logisch präzise zu sein. Vielmehr hat sich in seinen Genen auch noch festgesetzt, dass jede Aussage, sobald sie erst dasteht, auf mögliche Einschränkungen hin untersucht werden will, und dass jedes Mal zu prüfen ist, unter welchen Voraussetzungen sie gilt. Vielleicht entwickeln Sie mittlerweile schon eine Art von Mitleid mit dem, der unter all dieser Last ab und zu einen verständlichen Satz hinschreiben möchte? Ich kann das gern an die bis hierher durchgehalten habende Leserschaft zurückgeben: Danke, dass Sie noch dabei sind …

Ja, Herr Thieme, man merkt es ihnen halt immer wieder an, dass sie ein Mathematiker sind – Uupf! Was für ein Schwinger in die Magengrube! Habe ich doch das mathematische Handwerk seit dem Diplom kaum je nennenswert ausgeübt! Wie es kommt, dass ich trotzdem so leicht „erkannt“ werde, habe ich ja nun beschrieben. Und dann kommt an dieser Stelle zu allem Überfluss auch noch das Altgriechische ins Spiel. Andrea Marcolongo, eine italienische Griechisch-Professorin, hat in ihrem Buch Griechisch, die geniale Sprache beschrieben, woran sie es erkennt, wenn sie den Text eines griechisch geprägten Verfassers vor sich hat. Sie registriert als Insiderin sofort die häufige Wiederholung von abwägenden Sätzen nach dem Muster einerseits – andererseits. Solche Sätze hatten die alten Griechen in ihrer DNA und folglich dann auch in ihrer Sprache, oder waren Ursache und Wirkung umgekehrt? Wobei Latein allein ja auch schon wirkt. Was gibt es für den alten Römer Schöneres, als in seine Sätze jeweils alles mit reinzupacken, was im engeren oder auch weiteren Sinn dazugehört – jedenfalls ab und zu. Damit aber niemand meine Selbstironie im Umgang mit den alten Sprachen missverstehen möge: Griechisch würde ich jederzeit wieder lernen, und Latein sowieso. Obwohl beide das gefällige Schreiben nur manchmal erleichtern und es bei anderen Gelegenheiten geradezu boykottieren.

Jetzt wird’s kurzzeitig etwas haariger…

Mathematik, eine haarige SacheHätte ich mich in der Schule der Musik wirklich geöffnet, müsste dieser Zettel jetzt um einen weiteren Aspekt verlängert werden: Mathematik und Musik, Mathematik und J. S. Bach. Da es nicht so gewesen ist, bleibt mir nur übrig, auf Douglas R. Hofstadters Buch aus den 1980-er Jahren zu verweisen: Gödel, Escher, Bach. Escher und Bach kennen alle. Aber Gödel? – Kurt Gödel war eines der größten mathematischen Genies des 20. Jahrhunderts. Sein Thema war der Beweis, dass es keine regelbasierte „Grammatik“ geben kann, mit der sich systematisch alle in ihr möglichen Sätze („Wahrheiten“) hervorbringen lassen, ohne dass die Resultate widersprüchlich werden. Zu schwierig? – Dem Beweis Gödels folgen zu können, ist tatsächlich nur wenigen gegeben, und mit weniger als hundert Seiten Erklärung braucht es keiner auch nur zu versuchen. Nur so viel: Mit seinem Beweis zertrümmert er den philosophischen oder theologischen Traum, mit den Mitteln der Logik ein abgeschlossenes Gebäude aller existierenden Wahrheiten ableiten zu können.

Der erste, der diese Ide formuliert hatte, ist wohl der Spanier Raimundus Lulllus. In seinem zentralen Werk, der Ars Magna, versucht er schon um das Jahr 1300, den Erkenntnisprozess zu mechanisieren. Es ist ein abstraktes, kombinatorisches System, eine Denkmaschine, ein Vorläufer moderner Programmiersprachen (zitiert nach: www.deutschlandfunk.de/der-mittelalterliche-denker-raimundus-lullus-gott-mit-dem-100.html, Stand 4.4.2022, 22:00 Uhr).

Gödel light: Auf einer Insel lebt ein Friseur, der alle Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Frage: Was passiert mit ihm selber? Rasiert er sich, oder rasiert er sich nicht? – Viel Spaß beim Verrücktwerden… Solche selbstbezüglichen Aussagen spielen in Gödels Beweis eine wichtige Rolle. Und an dieser Stelle bringt Hofstadter die Analogie zwischen Gödels Theorem, Eschers Bildern und Bachs Musik ins Spiel: Bach mit seiner mathematischen Strenge der Komposition, etwa beim Krebskanon, und Escher mit jenen berühmten Konstrukten, die immer wieder in sich selbst münden. So didaktisch meisterhaft Hofstadters Idee auch ist – am Ende nützt auch sie nicht so arg viel. Und weil das so ist, werden wir weder Kurt Gödels Theorem noch dessen abstrakte Nähe zu Bachs Musik und Eschers Bildern weiter vertiefen.

Es soll ja weiterhin irgendwie Spaß machen, und Spaß an Mathematik, das geht wirklich. Manchmal steht nur die Angst vor der gefühlten Schwierigkeit im Wege. Und das Fremdeln mit den tausend Formalismen, die sich lange Zeit zwischen mich und meine Vorstellungskraft schieben. Hätte ich den spaßigen Gedanken vom Inselfriseur „mathematisch korrekt“ formuliert – schwupp, Spaß vorbei. Ich sage damit übrigens nicht, dass alle Menschen theoretisch Spaß an Mathematik haben müssten, aber das ist beim Weitsprung oder anderen Künsten auch nicht anders. Mit Training können viele vieles erreichen, wenn auch nicht alle alles.

Pythagoras und die letzte Vermutung von Fermat

a2 + b2 = c2. So hat es Pythagoras einst in den Sand gekritzelt, und seither lernen es die Kinder im Gymnasium. Mehr als 2000 Jahre später dachte ein französischer Hobby-Mathematiker, im Hauptberuf war er Jurist, darüber nach, ob das auch für andere Zahlen als 2 funktioniert, d.h. genauer, ob es auch dafür Lösungen mit natürlichen Zahlen gibt, also ohne Kommastellen. Und er fand: Es funktioniert tatsächlich nur mit 2 und keiner anderen der unendlich vielen Zahlen. Das schrieb er auf den Rand des Buches, in welchem er gerade las, und dazu notierte er, dass er dafür einen wunderbaren Beweis gefunden habe, der aber hier gerade keinen Platz hat – und starb. Und weil sich alles, was jener Pierre de Fermat in seinem Leben mathematisch je angestellt hatte, als richtig erwies, hat die Welt ihm auch das geglaubt. Mehr als 300 Jahre lang, und nach und nach haben die Mathematiker den Satz so behandelt, als wäre er schon bewiesen, und auch während meines Studiums war das noch so. Viele haben seit Fermat probiert, den Satz zu beweisen, und wunderbare Geschichten gibt es. Da ist der reiche Erbe, der sich um Mitternacht erschießen will, wohl aus Liebeskummer. Für die Stunden bis dahin verkriecht sich der Ärmste in seine Bibliothek, wo er auf das Fermat-Problem stößt. Als er wieder herauskam, graute der Morgen. Fermat hatte ihn gerettet. Mit seinem Vermögen errichtete er später eine Stiftung für den, der das Problem dereinst lösen würde. Seit wenigen Jahrzehnten ist es tatsächlich gelöst, und der Weg dorthin ist reich an weiteren, absoluten Wahnsinns-Geschichten…

Von Kamelen und Abgeordneten

Die Verpackung der folgenden Geschichte entnehme ich dem Büchlein von Karl Meininger, aus dem ich mich schon bei der Sache mit den Freunden und den Käslein im Juni 2021 bedient hatte (Ali Baba und die 39 Kamele, Oldenbourg-Verlag München und Berlin, 1941). Diesmal ist die Titelgeschichte dran, in der der alte Ali Baba, als es ans Sterben geht, den Kindern seine 39 Kamele vererbte, und diesen Nachlass mit einer derart seltsamen Teilungsvorschrift verband, dass die Erben ratlos umherstanden und sich keinen anderen Rat wussten, als die 39 Tiere allesamt zu schlachten, um wenigstens das Fleisch nach dem letzten Willen des Vaters aufzuteilen. Denn das Problem schien mathematisch unlösbar! Sollte laut Testament doch der Älteste die Hälfte der Tiere bekommen, also die Hälfte von 39, und der zweite Sohn ein Viertel, der dritte ein Achtel und die Tochter sollte, da sie unter dem Dach der Brüder lebt, ein Zehntel bekommen.

Als sie nun so dastanden und sinnierten, kam ein Freund mit seinem einen Kamel vorbei, hörte den Kummer und handelte. Er nahm sein eigenes Kamel, stellte es zu den 39 anderen und sagte: Macht euch keine Sorgen! Nehmt einfach mein Kamel dazu, dann haben wir das gleich. Du, ältester Sohn, nimmst dir die Hälfte, wie vom Vater angeordnet. – Aber das geht doch nicht, ich kann doch nicht einfach … – Wart’s nur ab!

Wir können es kurz machen: alle nehmen sich aus den Vierzig genau den Anteil, den der Vater für die Neununddreißig befohlen hatte, und, siehe da, alles ging genau auf, jeder hat seinen Anteil. Und der Freund? – Ja, der nahm sein eigenes Kamel wieder mit und zog mit ihm seines Weges. Zauberei? Ich will niemanden leiden lassen, daher hier die Erklärung. Der Freund hatte erkannt, dass sich die Bruchteile in Vaters Testament nicht ganz zu 100 Prozent ergänzten. Vielmehr war da etwas „Luft“ drin. Durch die Hinzunahme des eigenen Kamels konnte der Freund die vorhandene Luft gerecht auf die Kinder verteilen – gerecht in dem Sinn, dass die vielleicht ungerechte Vorgabe des Vaters nicht unterlaufen wurde. Aber wir wissen ja auch nicht, was der Vater sich dabei gedacht hatte. Seinen letzten Willen jedenfalls bekam er erfüllt, und geduldige Leser*innen mögen selber etwas herumrechnen, um den Zauber zu entzaubern.

So war das mit den Kamelen. Und die Abgeordneten? Stellen wir uns vor, es waren gerade Wahlen. Jede Partei hat einen bestimmten Prozentsatz bekommen, und nun sollen die Mandate verteilt werden. Das Problem ist das gleiche wie bei den Kamelen: die Prozente passen nicht zur Zahl der Mandate, und Abgeordnete wird man so wenig schlachten und stückweise aufteilen wollen wie Kamele. Um aber Abgeordnete nicht mit einer Kamel-Formel kompromittieren zu müssen, hat man für sie zwar ähnliche, aber etwas komplexere Rechenmethoden entwickelt.

Im Ergebnis ist es gleich. So wie die Erben zufrieden mit ihren Kamelen abzogen, so versammeln die Spitzenkandidaten nach der Wahl die ihnen durch Wählerwillen und Mathematik zugewiesenen Schäflein, und alle präsentieren sich irgendwie als Gewinner. Das verdanken sie wohl einer geheimnisvollen Form der transzendentalen, also jede Grenze der mathematischen Rationalität überwindenden Form der subjektiven Rechenkunst, die manchmal für fast jedes erwünschte Ergebnis den passenden Rechenweg zu finden scheint, sei es am Wahlabend, bei der Debatte über die Neuverschuldung oder überall sonst, wo Politik und Zahlen sich unermüdlich auf Neue in ihrer stets glücklosen Liaison versuchen ...

 

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Thiemes Zettel vom 11.04.2022

Dr. Christian Thieme

Diplomatie
Verhandeln – seit Kriegsbeginn eine Kunst von gestern !(?)

Der Krieg hat alles verändert. Zeitenwende sagt der Kanzler dazu. Offensichtlich hat er Recht, und das ist sehr schlimm. Das Lernen und sich-Anpassen freilich geht geschwind. Manche Dinge, die selbst Mitte Februar noch unvorstellbar waren, sind heute schon eingepreist im Haushalt der emotionalen Befindlichkeit. Hätten wir uns manches davon Monate oder Jahre früher schon vorstellen können, dann --- Was soll‘s, das weiß inzwischen doch jeder. Der Rückspiegel lohnt sich nicht. Hauptsache, wir lernen daraus! Denn: Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται (Ho me dareis anthropos u paideuetai) - der Mensch, wenn er nicht geschunden wird, bleibt unerzogen. Als pädagogisches Prinzip wird das keiner mehr unterschreiben. Wie aber lernt ein Staatsvolk? Wie lernen seine Repräsentanten? – Für beide ist nun Turbolernen angesagt.

Vieles hat sich seit dem 24.2.2022 verändert. Es dominiert das Bemühen um einen Spagat zwischen der grenzenlosen inneren Betroffenheit und andererseits einer verbal fein abgestimmten öffentlichen Reaktion, die man sich angesichts der politischen und ökonomischen Implikationen gerade noch (zu)traut. Dahinter stecken die banale Sorge um den eigenen Komfort und das früher oder später absehbare Bedürfnis, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Keine Sorge, es wird so kommen. Und ich spreche dabei sowieso nur von den Anständigen und nicht von den Opportunisten und Skrupellosen. Schon jetzt ist unser kollektiver Umgang mit der Krise ständig im Fluss, freilich noch in keine einheitliche Richtung. Nord Stream 2 war ein Wort, das beim Bundeskanzler, hätte er es vor dem 24.2. in den Mund nehmen müssen, offensichtlich einen allergischen Schock ausgelöst hätte. Heute, Tage oder Wochen später, ist es so selbstverständlich. Peinlich war das, nichts als peinlich. Der Betreiber der Pipeline war nach wenigen Tagen pleite, wie ich las, und alle Planungen laufen ab jetzt so reibungslos ohne Nord Stream 2, als hätte das Projekt nie existiert. Ho me dareis Bundeskanzler …

Es ist ja nicht so, dass uns jetzt irgendwer sicher sagen könnte, ob und ggf. wo wir im nächsten Winter ausreichend Gas herbekommen. Aber trotzdem wuchs sehr schnell der Konsens, dass es ohne die Kreml-Pipeline gehen muss. Die Basis dafür ist, behaupte ich, momentan noch echte Einsicht und nicht etwa die Haltung: Egal, die sollen mir mein Gas eben sonst wo besorgen. Wie lange wird diese kollektive Einsicht halten? Zumal derzeit kein einheitliches Meinungsbild existiert, bis zu welchem Punkt wir die Zuspitzung durchstehen wollen bzw. ob wir es uns „leisten können“, auch noch auf das restliche Kreml-Gas zu verzichten. Vielleicht nimmt uns die weitere Zuspitzung auch diese Entscheidung bald ebenso ab wie die zu Nord Stream 2.

Gegenspieler der Einsicht ist die Ermüdung. Wir werden dich niemals vergessen, ruft die Welt ihren prominenten Toten nach, um Tage später genau das zu tun, nämlich zu vergessen. Und so ist es auch mit den politischen Ereignissen. Man braucht nur die Nachrichten zu beobachten: Jedes Update zu einem bekannten Thema erfordert eine einleitende Kurzfassung des bisherigen Geschehens, obwohl das eigentlich allen präsent sein sollte. Nachgerade peinlich ist das, aber der Rundfunk wird schon wissen, warum er das macht. Beim Rückblick auf bereits länger zurückliegende Ereignisse wird es noch prekärer: Ach, wann war das nochmal, das mit Afghanistan? Und was genau war da los bei diesem Truppenabzug? Wie war das doch gleich nochmal mit den Ortskräften? Und wer war damals Außen-, wer Innenminister? Fehlleistungen werden schnell verziehen, weil sie vergessen werden. Nur dumpfe Stimmungen bleiben, und nur davor haben Politiker*innen Angst. Echte Fehler: kein Problem. Aber bloß sich nicht unbeliebt werden. Das eine hat nur manchmal etwas mit dem anderen zu tun.

Ich bin Teil des Problems. Ich spreche von Dingen, die ich höchstpersönlich an mir selbst beobachten kann. Wie gehe ich mit all dem um? Als „Mensch“ und als Autor: Welche Texte kann ich angesichts der Tragödie vor unserer Haustür noch aus dem Zettelkasten ziehen? Im März habe ich einfach mittendrin aufgehört zu schreiben und das Fragment unvollendet hochgeladen, als Zeichen der hilflosen Betroffenheit. Bis zum Erscheinen dieses Textes nun wird weitere Zeit vergehen und werden weitere Kriegsverbrechen ans Licht kommen. Und danach? Die fortbestehende Trauer monatlich wiederkehrend zu artikulieren, wird ermüden und niemandem helfen, eher im Gegenteil: Ermüdung kann das Gegenteil bewirken.

Demokratie braucht Konsens

Unsere freiheitliche Demokratie ist jedem autoritären und autokratischen Machtapparat überlegen. So sagen wir es uns gerade in diesen Tagen allmorgendlich vor. Und es stimmt ja auch. Gleichzeitig jedoch sollten wir uns jeden Morgen vorsagen, dass Freiheit nicht immer bequem ist. Demokratie lebt vom Streit und dann vom Konsens, der durch die Bereitschaft zum Kompromiss entsteht, und nicht vom Diktat. Je gravierender das Problem, desto mehr Konsens wird gefordert. Zweidrittel im Parlament, um die Verfassung zu ändern. Die Versuchung ist nicht gering, in Zeiten der Not ausnahmsweise doch lieber die politische Abkürzung zu nehmen, um dem Despoten, der alle demokratischen Rücksichten verachtet, ohne große Diskussion Paroli zu bieten. Den Älteren ist noch präsent, wie Helmut Schmidt die Flutkatastrophe in Hamburg gemeistert hat: Autokratisch und ganz so, als stünde er für kurze Zeit über dem Gesetz. Aber der Krieg nebenan ist keine Flut, die sich nach wenigen Tagen zurückgezogen haben wird. Ohne politischen Konsens, der immer wieder gepflegt werden will, kommen wir hier nicht durch. Das Bedeutet, dass Leute mitgenommen werden müssen, von denen man sich lieber kommentarlos abwenden würde – in Brüssel, in Berlin und den Ländern und auf der Straße sowieso. Das tut weh.

So groß, wie er jetzt noch ist, wird der Konsens trotzdem kaum bleiben. Nicht in Brüssel und nicht bei uns im Inneren. Wenn erst klar wird, dass der Staat eben nicht alle Beschwernisse und Verluste wird ausgleichen können, all das, was der Krieg und die Sanktionen an Belastung mit sich bringen, wird er schwinden. Niemand möge gegenteilige Erwartungen wecken. Denn mit immer mehr gedruckten Banknoten wird sich kein Haus heizen lassen, und essen kann man sie bekanntlich sowieso nicht. Und was kann eine Regierung schon anderes tun, als Banknoten zu drucken und Wechsel auf die Zukunft zu unterschreiben, wenn erst die Kasse leer ist! Also kommt es darauf an, den Konsens der Menschen auch in schwierig, ja sehr schwierig werdenden Zeiten über die Runden zu kriegen. Dazu braucht es angemessenes politisches Handeln der Regierenden und politische Einsicht der Regierten.

Welches politische Handeln richtig ist, um möglichst schadlos über die Zeit zu kommen – nachträglich werden wir es wissen. Das freilich wird uns jetzt nicht helfen, denn bald schon könnten sich die Spieße nach innen richten: Zum Beispiel Kinderarmut heute gegen die Armut der Ungeborenen, die dereinst alles das bezahlen werden, was wir heute verkonsumieren, damit zum Beispiel das Tanken für drei Monate etwas weniger teuer ist. Wir fangen bereits an so zu tun, als wäre die Krise nach diesen drei Monaten ausgestanden, oder als könnten Bundeshaushalt und Sozialkassen das Drucken von Geld über die ganze, noch unbekannte Dauer hinweg beliebig fortsetzen. Diese Politik wird, wenn erst die absehbare Ernüchterung einkehrt, mehr Konsens vernichten als sie anfangs geschaffen hatte. Gut, wie gesagt, dass andere diese Zielkonflikte lösen müssen und nicht ich. So kann ich an der Seitenlinie stehen und klug gemeinte Kommentare absetzen. So will ich meinen Beitrag freilich nicht verstanden wissen!

Ohne eine adäquate Kommunikation ist selbst die bestmögliche Politik von begrenztem Nutzen. Kommunikation ist mühsam, aber als Tribut an die Freiheit unabdingbar. Wenn überhaupt, so wird doch nur ein mündiges, informiertes Staatsvolk genügend Widerstandfähigkeit aufbringen gegen die Sirenenrufe von vermeintlichen Alternativen, die doch nur die Funktion haben, eben jenem strapazierten Staatsvolk angesichts des wachsenden Unmuts etwas in die Hand zu geben, womit es das eigene Gewissen zu zum Schweigen bringen kann, wenn der Bauch den Ausstieg aus allen Beschwernissen verlangt.

Normalität mit dem Kreml? – der Sirenenruf des Verhandlungstischs

Vorab zwei Dinge zur Klarstellung. Erstens: Das Folgende bezieht sich nicht auf die notwendigen Verhandlungen zu einem schnellen Waffenstillstand, sondern auf die heute schon laut werdenden Forderungen, möglichst umgehend eine Art von Normalität in unseren Beziehungen zum Kreml wiederherzustellen. Eine zweitbeste Lösung am Verhandlungstisch ist allemal besser als der Versuch, mit Waffengewalt die beste durchzusetzen. Ob es sich dabei tatsächlich um die zweit- oder sogar nur um die drittbeste Lösung handelt, spielt dabei nicht einmal die entscheidende Rolle. Um am Verhandlungstisch Menschenleben zu retten, darf erst einmal kein Weg zu lang sein. Für die Frage, welche politische und auch ökonomische Qualität die Beziehungen zu einem Kriegstreiber und mutmaßlichem Kriegsverbrecher zukünftig haben können, müssen andere Maßstäbe gelten.

In Afghanistan war die Welt nach den Jahren der Opfer und Kosten derart zermürbt, dass jede noch so fadenscheinige Perspektive ausgereicht hat, den hastigen Abzug zu rechtfertigen. Ein analoges Szenario könnte sich wiederholen, wenn das politische Verlangen, der weiter wachsenden Not durch vermeintlich „vernünftige Politik“ zu entkommen, erst massiv genug sein wird. Anders als in Afghanistan geht jetzt die Not zwar „nur“ von den eigenen Sanktionen aus, aber das spielt für das Ergebnis keine Rolle. Momentan sind es erst Einzelne, die dazu aufrufen, dem Angreifer durch Gespräche und ein naives Vertrauen auf die baldige Wiederherstellung des Völkerrechts den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es handelt sich bei ihnen wohl vor allem um die paar verbliebenen, einsamen Ideologen und die Schar Günstlinge, für die allein der persönliche Vorteil zählt. Sie sind Argumenten nicht zugänglich. Aber es kommen laufend andere dazu. Das werden Menschen sein, die den Verhandlungstisch entweder für eine realistische Option zur Problemlösung halten oder sich das bereitwillig einreden lassen.

Weltpolitik und der Lampenkauf am Flohmarkt

In dieser Lage wird es darauf ankommen, den Schulterschluss von Staatsvolk und Regierenden durch klare Benennung der trügerischen Mechanismen zu stabilisieren so gut es geht. Dabei genügt es eben nicht, wenn die Zusammenhänge lediglich einigen der politisch Letztverantwortlichen geläufig sind. Nein, an möglichst allen Stammtischen und an den Wahlurnen müssen sie verstanden werden. Um diese Mechanismen zu verstehen, bedarf es keines komplizierten Lehrbuchs. Ein Spaziergang über den Flohmarkt genügt.

Wie ich so zwischen den Ständen mäandere, entdecke ich eine Lampe, die ich gern kaufen würde. Das trifft sich gut, denn der Händler auf der anderen Seite würde sie gern verkaufen – dazu hat er sie ja mitgebracht. Unsere grundsätzlichen Interessen passen also zusammen, weil sie beide gemeinsam befriedigt werden können. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt. Im Detail sind sie zwar durchaus konträr, denn der Verkäufer will möglichst viel erlösen, während ich so wenig wie irgend möglich bezahlen will. Aber das ist lösbar. Denn wer als Käufer oder Verkäufer auf den Flohmarkt geht, wird diesen Ausgangspunkt akzeptieren und die Bereitschaft zu einer realistischen Einigung mitbringen. Andernfalls wäre er daheimgeblieben.

Nicht immer freilich kommen beide Seiten zusammen. Dann aber hat jeder von beiden die Freiheit, auszusteigen. Und andererseits können sich beide Seiten, wenn sie sich geeinigt haben, auf das Ordnungssystem verlassen, das ihr Verhandlungsergebnis absichert: Ehrlichkeit und Anstand, soziale Kontrolle, ein für beide Seiten verbindlicher Rechtsrahmen und notfalls dessen Durchsetzung durch Polizei und Justiz. Dieser Rahmen hilft im Prinzip sogar dann, wenn einer der Vertragspartner den anderen getäuscht oder betrogen hat.

Diplomatie als Flohmarkt?

Irgendwie schon, auch wenn manches anders aussieht: Wenn Leute beschreiben sollen, wie sie sich den perfekten Diplomaten vorstellen, kommt vermutlich genau das gängige Klischee heraus: Diplomaten sind immer perfekt gekleidet, ausgestattet mit hervorragenden Umgangsformen, parkettsicher und vor allem garantiert unverbindlich, eben diplomatisch. Wenn der Diplomat Ja sagt, so meint er Vielleicht. Sagt er Vielleicht, dann meint er Nein. Und wenn er Nein sagt, dann ist er keiner, sagt das Bonmot. Was soll er auch groß anderes machen, wenn die Regierung hinter ihm vielleicht mit einem unberechenbaren Veto droht? Wie es eventuell Teilen der russischen Delegation momentan zustößt? – reine Spekulation. Aber braucht man solche Diplomatie im Umgang mit Russland dann (noch)? Hat sie sich nicht spätestens in Februar 2022 in Rauch aufgelöst? Im Prinzip vielleicht nicht, aber man muss genau hinschauen.

Momentan geht es, das habe ich zuvor ausgeführt, vor allem darum, ihre Grenzen zu verstehen. Ob der US-Präsident mit seinen starken Worten gemessen an den Gesetzen der Diplomatie zu hundert Prozent richtig liegt, mag man diskutieren. Eine Botschaft jedoch stellt er klar heraus: Eine Diplomatie, bei der der Austausch von Artigkeiten zum puren Selbstzweck geworden ist, bringt die Welt nicht weiter. Was also müsste einer bedenken, der mit dem Kriegstreiber im Kreml jetzt oder später über eine „Normalisierung“ der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen verhandeln wollte: Der Flohmarkt liefert die Kriterien.

Zunächst ist zu prüfen: Wer verfolgt welche Ziele? Gibt es eine gemeinsame Grundlage, kompatible Ziele, auf deren Basis man die Verhandlungen führen kann? Die Frage klingt so unglaublich banal. Dieser Eindruck von Banalität jedoch ist verfehlt. Er resultiert einzig und allein aus unseren westlichen Annahmen von politischer Rationalität, die uns implizit so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir sie nicht mehr als Annahmen erkennen. Theoretisch können wir den Satz zwar nachsprechen: Im Kreml werden grundsätzlich andere Ziele verfolgt. Wirklich verinnerlicht haben wir ihn aber nicht, und darum laufen wir aktuell Gefahr, ihn bald wieder kollektiv zu vergessen und erneut den fatalen Trugbildern der letzten Jahrzehnte zu verfallen. Es ist die Geschichte von dem Jungen, der einen verzauberten Frosch findet. Der Frosch spricht ihn an und sagt: Küss mich, und ich werde zur schönsten Jungfrau, und nur dir allein zugetan!Unsinn, sagt der Junge, und setzt den Frosch daheim in sein Terrarium. Vielleicht wird er das Angebot ja dereinst verstehen, wenn er mehr Erfahrung hat? Auch der Kreml muss seine Erfahrungen machen, und das wird seine Zeit dauern. Bis jetzt wird der verzauberte Frosch, den der Westen ihm jahrzehntelang angeboten hat, nicht wertgeschätzt, eher im Gegenteil. Wandel durch Annäherung? – Igitt! Solange sich die Konstellation in Moskau nicht fundamental ändert, gibt es für Verhandlungen über eine Rückkehr zur „Normalität“ keine Basis. Die aber wäre die Grundbedingung für jeden Dialog. Schön ist das nicht, aber wahr.

Der zweite Big Point ist die Freiheit, auszusteigen. Die mag vielleicht der Vorgänger des US-Präsidenten für sich in Anspruch genommen haben, wenn er die Weltpolitik, selbst Amateur, vielleicht tatsächlich mit einem Flohmarkt und den Nordkoreaner mit einem Hobbyverkäufer verwechselt hat. Wer aber in einen seriösen Verhandlungsprozess eintritt, ohne die eigenen Perspektiven klar benennen zu können, handelt grob fahrlässig. Rasch werden Erwartungshaltungen geweckt, die, wenn sie sich als unerfüllbar erweisen, den Verhandler in eine fatale Zwangslage bringen. Leicht entsteht dann die „politische Notwendigkeit“, aus Moskau im Sinne der Gesichtswahrung irgendein Resultat nach Hause bringen zu müssen. Siehe Afghanistan und andere Gelegenheiten, was das Schicksal verhüten möge.

Der Rest – Durchsetzung, Rechtsrahmen, (Un-)lauterkeit – ist zwar weiterhin so, wie er auf internationalem Parkett eben ist. Das allein müsste niemanden vom Wagnis des Verhandelns abhalten. Die beiden genannten Punkte jedoch sind essentiell, und dabei spielt es keine Rolle, ob diese katastrophale Haltung des Kreml nur noch zwei Monate andauert oder weitere zwanzig Jahre bestehen bleibt.

Besonderes Nachwort

Dieser Text entstand in den Tagen und Wochen bis zum 10. April. Allein schon in dieser Zeit hat sich die Nachrichtenlage immer weiter verschlimmert. Kriegsverbrechen und Leichensäcke allenthalben. Bis dieser Text abrufbar sein wird, werden weitere Gräuel hinzugekommen sein.

Unbeeindruckt davon ist das, was ich befürchte, schon jetzt absehbar. Absehbar ist bereits, welches EU-Mitglied das erste sein wird, das offen aus der Gemeinsamkeit der halbwegs Anständigen ausscheren wird. Absehbar ist, welcher deutsche Ministerpräsident es sein wird – alles jetzt schon ungeniert oder kaum verbrämt angekündigt. Absehbar ist, welche Spitzenpolitiker aus den Parteien der Mitte dabei sein werden.

Erkennbar ist das Verhalten der Lobbyverbände, die, wie immer und überall schon, belegbare Tatsachen mit überzogenen Behauptungen auf eine Art und Weise vermengen, dass sie als gesamte Zunft – ich sage das auch aus eigenem Erleben, wenn auch in einer ganz anderen Branche – viel Glaubwürdigkeit verspielt haben.

Sie haben ja subjektiv sogar Recht: Politik ist bodenlos moralfrei und opportunistisch. Wohin die Mehrheit wankt, dorthin bewegt sie sich, und brüllt, wenn es ganz schlimm kommt, von dort ihre populistischen Parolen ins Volk. Nicht alle sind so, aber auch nicht wenige.

Mit diesem Text will ich diejenigen stärken, sowohl an der Basis als auch weiter oben, die sich davon nicht irritieren lassen und sich weiter um einen Weg der Solidarität und des Anstands bemühen, auch wenn der Gegenwind immer stärker werden wird. Und das ist alles, was an dieser Stelle getan werden kann.

 

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Thiemes Zettel vom 10.03.2022

Dr. Christian Thieme

Fassungslos!

(Ursprünglich vorgesehener Titel: Respekt, Regeln, Selbstkritik und Wissen: Unser Umgang mit Staat, Sport und Wissenschaften)

Thiemes Zettel vom 10.03.2022 Masken

Der ursprünglich vorgesehene Text beginnt hier: Das System Fußball steckt in einer veritablen Krise. Die Seuche hat die Kinder aus den Vereinen gedrängt, hat die Stadien geleert und die Fans von den Stammtischen vertrieben. Deren Zahl schrumpft, und der kommerzielle Fußball ist nicht mehr der Massenmagnet, der er bisher war. Schlimm für die Kinder, das mit dem Freizeitsport, sehr schlimm. Dem Rückschlag für die kommerziellen Perspektiven jedoch weine ich keine Träne nach – und der ist nicht (allein) auf Corona zurückzuführen. Hat nicht der Niedergang schon lange vor Corona begonnen? Und sind nicht im Zuge der Schrumpfung des Jogi, der ja vom Bundes-Trainer-Jogi-Gott-Idol rasant zum Buhmann eingedampft wurde, schon vor Corona millionenfach ehrenamtliche Nebenjobs als Teilzeit-Bundestrainer flöten gegangen? Und keine Besserung in Sicht! Bundesliga auf Sparflamme, Bezahlfernsehen so gierig wie nie und der neue Shootingstar am Fußballhimmel, der Hansi-Bundes-Flick, muss wohl zur Erlangung des „-Gott“-Attributs noch ein paar von den wichtigeren Spielen gewinnen, z.B. eine WM. Und wenn es auch nur die in Katar wäre … – da wären wir sicher nicht so pingelig, denn nach dem Spiel ist ja bekanntlich nicht nur vor dem Spiel, sondern ggf. auch nach allen Gewissensbissen. Fußball ist schon gut. Jeder kann dazu eine Meinung haben, und wer sich auch nur marginal mit der Materie beschäftigt, kann sich als Experte kaum ernsthaft blamieren, weder am Stammtisch noch am Spielfeldrand bei den Amateuren oder als väterliches Rollenvorbild für die E-Jugend.

War das jetzt fair? Satire soll eigentlich von schräg unten auf die Großen zielen, also beispielsweise auf die egomanischen oder einfach nur gierigen Sponsoren, die das internationale Big Business bestimmen und den Sport zugrunde richten. Aber ich wollte ja auch gar keine Satire schreiben, und ich kritisiere auch nicht die netten, manchmal stillen und manchmal etwas übermotivierten Fans – sie sollen ihre Freude behalten! Ich selbst schaue auch gern Fußball. Und Stichwort übermotiviert: Ist es denn ein Drama, wenn ein Profi, nachdem er allein in der kurzen Zeit zwischen seiner Fehlleistung vom Samstag und ggf. der medialen Schmähung am darauffolgenden Montag so um die 50.000 oder 100.000 Euro reicher geworden ist …  – ja, so ist das wirklich. Wenn er sich dafür also an ebendiesem Montag ein paar deftige Kommentare anhören muss, falls er denn überhaupt zuhört, das wird er schon aushalten. Ein militanter Fackelaufmarsch vor seiner Villa ist jedenfalls ungleich schwerer organisiert als vor dem Wohnzimmerfenster eines jener anständigen Kommunalpolitiker, die jeden Tag für lausige paar Euro Aufwandsentschädigung ihre Birnen hinhalten, und schlimmstenfalls die Birnen ihrer Angehörigen gleich noch mit.

Fußball als Weltmodell?

Der Fußball ist, soweit man ihn als Spiel und Sport betrachtet und nicht als kommerzielle Veranstaltung, regelbasiert, und zu den grundlegenden Regeln gibt es genügend Allgemeinwissen. Wie lange dauert ein Spiel, wo ist das Tor, wer darf den Ball mit der Hand berühren, und wo bzw. wann darf er es, wie viele Spieler gibt es und was ist das Ziel des Spiels. Je komplexer die speziellen Regeln werden, desto dünner wird zwar das Eis für die „Bundestrainer“, und ein Sport, bei dem weltweit Milliardenbeträge bewegt werden, will natürlich alles bis ins Detail geregelt haben, nichts im Unbestimmten belassen. Nennenswert Abbruch tut das der Wahrnehmung der Leute aber nicht, und nur um diese geht es mir gerade. Jeder kann nach jedem Spiel zweifelsfrei feststellen, wer gewonnen hat, auch wenn die Beurteilung noch so verzwickt war. Das funktioniert auch dann noch, wenn ihm das Ergebnis nicht gefällt. Alle Ermessensentscheidungen können auf der Basis gemeinsam anerkannter Kriterien diskutiert werden, auch von denen, die sie im Ergebnis für falsch halten.

Die Grundlagen, auf denen der Fußball basiert, ähneln insoweit den Grundlagen unserer staatlichen Ordnung: Es gibt Regeln, die ausnahmslos und für alle gelten und innerhalb derer jede Auseinandersetzung stattfinden muss. Das staatliche Regelwerk heißt freiheitlich-demokratische Grundordnung oder Konsens der Demokraten. Auf den ersten Blick ist beides dasselbe, aber auf den zweiten besteht ein Unterschied, und der liegt in der Verschriftlichung. Eine Grundordnung lässt sich rechtsverbindlich kodifizieren, ein Konsens nicht – so wenig wie Fair Play im Sport. Im Großen und Ganzen klappt das seit 1945 ganz gut, weil neben dem Geschriebenen immer genügend von dem Konsens vorhanden war, der alles trägt. Trotzdem könnten wir heute am Anfang eines Weges stehen, in der dieser Konsens, oder auch Common Sense, schwindet und das Verfassungsgericht als einzige, also nicht nur als eine zentrale, sondern als buchstäblich einzige gemeinhin anerkannte Institution übrig bleibt. Wenn überhaupt.

In der griechischen Welt, der wir unsere Maßstäbe großenteils verdanken, stand das ungeschriebene Gesetz, heute mehr oder weniger Floskel, noch gleichrangig neben dem geschriebenen, sowohl im moralischen als auch im politischen Sinn.

Dazu Klaus Bartels, Philosoph und klass. Philologe: Der unübersetzbare griechische Grundbegriff nomos bezeichnet alles, was allgemein in Geltung steht: Brauch und Sitte, Norm und Regel, Recht und Gesetz (*).

Speziell verweist Bartels auf das „ungeschriebene Gesetz“, agraphos nomos. Für das Verständnis ist entscheidend, dass nomos, wenn man es griechisch denkt, mehr als nur das positive Recht bezeichnet. Den griechischen Wortsinn von nomos nennt er deshalb unübersetzbar. Das ist auf den ersten Blick überraschend, denn natürlich entspricht nomos formal dem Wort Gesetz. Trotzdem stimmt es, weil sich das griechische nomos auf eine nicht mehr vorhandene Werteordnung bezieht.

(*) Klaus Bartels: Veni Vidi Vici, Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, Philipp von Zabern, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 15. Auflage, 2016.

Immerhin, das kodifizierte Recht und mit ihm die funktionierende, freiheitliche Gerichtsbarkeit, das ist schon nicht wenig! Trotzdem brauchen wir den Grundkonsens darüber, dass es im Staat verbindliche Regeln und unangefochtene Instanzen gibt, und dass sich jeder Meinungsstreit und jeder Konflikt innerhalb dieser Ordnung (und nur dort) zu bewegen hat. Wollte man dieses ungeschriebene Gesetz kodifizieren, also seinen Inhalt rechtsverbindlich aufschreiben, so käme Unfug heraus, wie zum Beispiel die Regel: Es ist verboten, die gesetzlichen Verbote zu ignorieren. Die geschriebenen Grundregeln einzuhalten ist ein über allem stehendes, nicht nur ungeschriebenes, sondern auch unaufschreibbares und zugleich unverzichtbares Gesetz.

Fußball, Staat und Wissenschaft

Der Charme des Fußballspiels beruht auf zwei simplen Dingen: die Regeln und Mechanismen sind bekannt und alle, die selber im Hinterhof gebolzt haben oder als Amateure aktiv sind, können die „Leistung“ der einzelnen Spieler recht gut einschätzen. 

Auch die Grundregeln der demokratisch verfassten Gesellschaft sind/wären unschwer zu verstehen. 99 Prozent verstehen sie ja auch, oder fast so viele – hoffentlich…. Es ist daher keine Frage des Könnens, wenn sie ignoriert werden, sondern in erster Linie wohl eine des Wollens.

Notwendige Regelwerke gibt es aber nicht nur für den Fußball oder das Zusammenleben im Staat, sondern überall, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, und folglich auch in der Wissenschaft. Bedauerlicherweise sind sie hier zwar nicht in der spontan wünschenswerten Form allgemeinverbindlich. Aber die Sache ist verzwickt, und die Debatte darüber, was noch Wissenschaft sei bzw. wo die Freiheit der Wissenschaft endet, rentiert sich kaum. Das Thema ist aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht befriedigend lösbar, weil nur die Wissenschaft selbst die Instanz sein kann, die ihre eigenen Grenzen definiert. Wollte man festlegen, wo Wissenschaft endet, müsste man vorher festlegen, wer bei dieser Festlegung mitreden darf. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz. In der Mehrzahl der Fälle klappt es ja trotzdem ganz gut, und den Rest muss die Gesellschaft wohl aushalten – freilich nicht zahnlos.

Ohne Regeln wird der Stand des Wissens zur Meinung

Zum Beispiel Corona: Das Problem mit Leuten, die die Pandemie mit wissenschaftlicher Anmutung zur Lüge erklären, leitet sich unmittelbar aus deren fehlendem Grundkonsens über die Regeln ab. Es handelt sich nicht einfach um Menschen, die bestimmte Ergebnisse anzweifeln. Die gibt es auch, und die sind nicht gemeint. Zweifel ist seit der Antike Teil des wissenschafts-philosophischen Prozesses. Man kann das festmachen etwa an der Denkrichtung der Skeptiker, deren immer weiteres Hinterfragen einer jeden Erkenntnis ab einem bestimmten Punkt zwar wenig „produktiv“ ist, weil es in eine unendliche Kaskade immer weiterer Fragen mündet, ohne je einen festen Boden zu finden. Aber immerhin bewegt es sich innerhalb des gemeinsamen gedanklichen Kosmos. Es zwingt alle Umstehenden dazu, ihre Aussagen so lange immer weiter zu plausibilisieren, bis „vernünftige Zweifel“ pragmatisch ausgeschlossen werden. Und an diesem Punkt, bei der Frage, was noch „vernünftig“ sei, ist Meinungsstreit logisch und erlaubt.

Das Problem sind diejenigen, deren „Zweifel“ sich darauf gründen, dass nicht allein bestimmte Theorien, sondern die grundlegenden Regeln des Denkens infrage gestellt werden. Man könnte es damit vergleichen, wenn beim Fußballspiel einer den Ball in die Hand nähme, ihn ins Tor trüge und dann sagte „wir haben gewonnen“, dem Schiedsrichter Korruption vorwürfe und abends mit 200 Hooligans den Marktplatz stürmte. Beim Fußball sieht jeder, dass das nicht geht.

Anders als beim Fußball gelingt es wissenschaftlichen Geisterfahrern immer wieder, die Gesellschaft mit Unsinn zu beschäftigen. Das Problem sind nicht einzelne Thesen, sondern der Weg dorthin. Es ist die grundsätzliche Herangehensweise, die sich bewusst außerhalb der methodischen und intellektuellen Spielregeln stellt und von dort genau wie die Hooligans auf dem Fußballplatz alles kurz und klein schlagen will. Natürlich sind Wissenschaftshooligans im Auftreten etwas vornehmer, manchmal.

„Alternativ“ wird dabei immer mehr zum Codewort für die Negation der jeweils einschlägigen Grundregeln: Im Staat die AfD, in der Wissenschaft und Medizin die „alternativen Richtungen“ und in der politischen Ethik die „alternativen Fakten“. Die Erfinder des Alternativen Nobelpreises sollten sich wohl besser nach einem neuen Namen für ihr Produkt umsehen.

Morgen weiter: Alternative Ansätze und das unbefriedigte Bedürfnis nach einfachen Wahrheiten, die intuitiven Irrtümer (post hoc, saure Gurken, Korrelationen). Keine Beleidigung der Eitelkeit: Anerkennen, dass es über die Bandbreite der Wissenschaft gesehen ausnahmslos für jeden Menschen Dinge gibt, die seinen Horizont übersteigen. Dagegen: Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe (René Descartes). Schulmedizin. Angebote an Laien und Demut der Professionellen.

Stopp – ich kann nicht mehr weiterschreiben ….

Meistens entstehen die Beiträge für den Zettelkasten mit genügend Vorlauf. Dadurch bleibt mir Zeit, um die Entwürfe mehrmals anzusehen, allein oder auch im Gespräch mit anderen. Das tut den Texten, wie ich hoffe, gut, und da sich die gewählten Themen nur selten auf brandaktuelle Vorgänge beziehen, macht das auch nichts aus.

So sollte es diesmal auch sein, und darum war ich meinem Zeitplan um ganze vier Wochen voraus. Der Moment, an dem ich nicht mehr weiterkonnte, war der Morgen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Stichpunkte für die nächsten Zeilen hatte ich noch angefügt. Das mache ich manchmal so, wenn ich länger unterbrechen muss, damit ich danach schnell wieder im Film bin. Der fehlende Rest existiert auch schon, als Entwurf auf Skizzenpapier. Vollenden kann ihn nicht mehr. Mit jeder geschriebenen oder noch zu schreibenden Zeile wurde mir deutlicher bewusst, wie sehr die Überlegungen zum respektvollen Umgang mit Regeln überall gelten – auch und gerade dort, wo das Leben von Hunderttausenden davon abhängt, und vielleicht sogar das Schicksal des Globus. Nichts ist so gnadenlos vom Grundkonsens der Akteure abhängig wie das Völkerrecht. Und der fehlt nirgends so bitterlich wie im Weltsicherheitsrat. In anderen Weltregionen ist das die täglich erlebte und erlittene Realität – im vermeintlich so sicheren Europa wurde es offenbar (zu) leicht vergessen. So sind die Menschen, und ich bin einer davon…

Vielleicht werde ich das abgeschnittene Ende dieses Zettels später in einem anderen Zusammenhang nochmals aufbereiten. Momentan kann ich nur zwei Dinge tun, nämlich nicht bis Ende März warten, sondern den Text sofort freilassen, und ihn mit einem schlichten Satz enden lassen:

Frieden für die Ukraine, und ein Leben (!) in Freiheit und Menschlichkeit für alle, die heute noch vom Krieg gepeinigt sind!

 

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Thiemes Zettel vom 28.02.2022

Dr. Christian Thieme

Sein oder nicht sein:
Spielen mit der Maske

Der Fasching geht zu Ende. Die Masken werden für ein Jahr weggepackt. Die Maske bleibt.

Ja, wir reden über die Maske, immer noch. Sie ist lästig. Sie hindert beim Atmen. Sie lässt die Brille beschlagen. Sie wird vergessen. Sie verdreckt. Sie ist FFP2 oder nur medizinisch. Sie ist notwendig. Sie ist nicht der Rede wert, jedenfalls keinen Artikel.

Am Anfang wurde überlegt, ob und wie man durch die Maske denn noch das Lächeln des anderen erkennt? Eine Welt ohne Lächeln wollen wir doch nicht. Wie also kann ich meine Mimik so „schärfen“, dass meine Freundlichkeit auch noch hinter der Maske strahlt? Mit den Augen, mit Gesten, mit Worten? – Wir haben es gelernt, es geht. Auch ohne sichtbaren Mund lässt sich lächeln. Die weiß-sterile Barriere zwischen uns und den Mitmenschen ist überwindbar.

Damit ist das Nachdenken über das Verhältnis zu unseren Mit- und Nebenmenschen um eine Dimension reicher geworden. Vielleicht mehr als früher fragen wir uns: Wer ist mein Nebenmensch? Wem vertraue ich, und warum eigentlich? Wir erleben die Maske als Barriere zwischen uns und unseren Mitmenschen, und bemühen uns zugleich, sie zu durchbrechen. Noch vor dreißig oder vierzig Jahren gab es Ältere, die die Barttracht mit der wohl eher fadenscheinigen Begründung verabscheuten, dass, wer einen Bart trägt, sein Gesicht verbergen wolle. In Wirklichkeit ging es damals wohl eher darum, erst gar keinen Anschein von Anarchismus, Kommunismus oder sonstiger Unangepasstheit aufkommen zu lassen. Ganz abwegig freilich wäre der Gedanke, wäre er ehrlich gewesen, wohl nicht. Mit der weißen Maske meldet sich das Motiv zurück: Wer bin ich, was sehe ich in mir, was sehen andere, was zeige ich, was würde ich vielleicht gerne zeigen, was verberge ich, was würde ich gerne verbergen …

Thiemes Zettel vom 28.02.2022 Masken
Ich muss mich ja nur vor den Spiegel stellen, und schon mutiert die Maske zur Barriere zwischen mir und „mir selbst“. Wer bin denn ich eigentlich? Das Problem ist wohl nicht neu, und der Klassiker für mich ist eine Zeile aus der Moritat vom Kryptokommunisten, geschrieben und gesungen von Dieter Süverkrüp im Jahre 1967. Jener Kryptokommunist verstellt sich den ganzen Tag lang und tut schlimme Dinge, um am Abend die Platte mit der H-Moll-Messe aufzulegen, weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein kann. Das ist es: Ich verbinde mich so intensiv mit meiner Maske, dass sie allmählich ein Teil von mir wird, und nicht einmal ich selbst mehr unterscheiden kann, was an mir Maske ist und was „echt“, oder ich es schlicht vergessen habe. Für mich ist das die Metapher auf Art unseres Umgangs mit anderen und uns selbst, unabhängig von Süverkrüps Ideologie und seinen für mich weder heute noch damals akzeptablen politischen Ansichten.

Etwas anderes sein, oder jemand…

Das Grundproblem ist simpel: Mein Leben ist vom Umtausch ausgeschlossen. Blöd ist das. Manchmal wäre es doch zu schön, etwas anderes zu sein, oder gleich eine bestimmte Person! Wie leicht dieser Wunsch in die Irre führt, demonstriert uns das Märchen vom Fischer und seiner Frau. Die Rolle der Maßlosen landet dort zwanglos-selbstverständlich bei der Frau, das haben wir Heutigen überwunden – haben wir es wirklich? Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Die Geschichte beschreibt allegorisch und eindringlich den Irrweg des nicht mehr zu stoppenden Haben-Wollens oder Sein-Wollens: Etwas reicher sein, noch reicher, und noch reicher, König sein, (der) Papst sein, Gott sein – alles geht, fast alles. Papst sein geht gerade noch, aber bei Gott ist im Märchen die Grenze überschritten, so dass die Frau zuletzt wieder in der kärglichen Fischerhütte landet.

Als Kinder haben wir viel Spiel-Zeit mit Rollenspielen verbracht, und im Fasching war der Raum der Möglichkeiten größer als sonst. Das war fein. Held oder Pirat sein, cool sein (ok, das Wort gab es zu meiner Zeit noch nicht, aber das Bedürfnis gab es immer), süß oder besonders lieb sein, stark sein – für alles gab/gibt es Rollenmuster und dazu passende Masken. Und Pirat zu sein bedeutete in diesem Moment, der Pirat wirklich zu sein, mit Haut und Haaren, und nicht nur zu spielen, dass man jetzt ein Pirat sei. Wer sich später im Erwachsenenalter erneut verkleidet, als was auch immer, tut es mit einem Augenzwinkern und will kraft Maske keineswegs in ein anderes Leben hinüberwechseln oder eine andere Person werden. Solche Träume werden eher im Verborgenen geträumt, ganz ohne Maske. Wirklich ohne? – Sollte man nicht eher sagen: Ohne sichtbare Maske? Denn was passiert denn, wenn die Tagträume überhandnehmen? Verfestigt sich denn dann nicht meine ganz normale, alltägliche Erscheinung zunehmend zur unsichtbaren Maske, hinter der im Kopf das „eigentliche“ Leben tobt? – Fragezeichen.

Fragezeichen sind praktisch, um Dinge zu behaupten, die sich nicht beweisen lassen, oder von denen der Sprecher sogar weiß, dass sie erlogen sind. Um so etwas geht es mir hier nicht. Meine Fragezeichen wollen erstens sagen, dass nicht nur der Verfasser dieser Zeilen, sondern niemand je die Gedanken eines anderen lesen kann. Dabei stiftet der Versuch, die Gedanken eines anderen zu erraten, in gleicher Weise Nutzen und Schaden, je nachdem. Allein das schon rechtfertigt die Fragezeichen, die zur Vorsicht mahnen. Hinzukommt, dass niemand genau die Grenze kennt, wann der gelegentliche Tagtraum in ein permanentes und übermächtiges Verlangen nach einem anderen Leben übergeht, so dass die äußerliche Normalität allmählich zur Maske gerinnt. Doch wer bliebe andererseits sein Leben lang ganz ohne Träume? – Wieder Fragezeichen.

…oder etwas nicht sein…

Sobald ich eine sichtbare Maske trage, bin ich etwas. Ich kann nicht einfach etwas nicht sein, ohne stattdessen irgendetwas anderes zu sein. Zum Beispiel kein Gott sein. Wenn im Märchen unser Herrgott auf Erden wandelt, oder die Göttin Athene in der Odyssee ihrem Schützling Odysseus beisteht, muss der Gott oder die Göttin, um nicht als Gottheit erkannt zu werden, (irgendeine) Menschengestalt annehmen. Aber Athene verkleidet sich nicht als Mentor, weil sie ausgerechnet Mentor sein will, sondern sie verdeckt durch die Maske lediglich ihre Göttlichkeit.

Bei Göttern ist die Sache einfach. Wenn es um Menschen geht, ist die Frage nicht immer so übersichtlich: Will jemand primär als das gelten, was er gerade zeigt, oder will er vor allem etwas verbergen, was er nicht zeigen will. Ich bin zu „weich“ für meinen Job und will, um das zu verbergen, stets besondere Härte demonstrieren. Nicht, weil ich ein Freund der Härte wäre, hinter der ich eigentlich gar nicht stehe, sondern weil ich nicht als weich und ängstlich gelten will. Also Pokerface. Also die Körpersprache trainieren. Also Rede- und Reaktionsweisen einstudieren – alles Maske. Ein Teil des Coaching-Business für Führungskräfte beschäftigt sich mit weiter nichts, als der Produktion von unsichtbaren Masken. Sozusagen im gleichen Atemzug raten andere dazu, „authentisch“ zu bleiben.

Es geht auch ohne Maske: Dirk Novitzki wurde als Kind, wie er berichtet, für seine Körpergröße gehänselt – bis er ein Weltstar wurde, sozusagen aus Rache (Entschuldigung, Dirk. Das würdest Du nie so sagen, und auch nicht so denken…). Weil er JA zu sich sagen konnte, benötigte er keine Maske. Gut, die 2,13 lassen sich ohnehin nicht verbergen, aber dadurch wird der Schritt, JA zu sich zu sagen, kein bisschen kleiner und kein bisschen einfacher.

…oder etwas nicht zeigen…

Etwas nicht sein oder etwas nicht zeigen – Der Unterschied ist schwer zu fassen. Die Schwierigkeit der Abgrenzung liegt u.a. im Verständnis des Wortes sein. Italiener sagen Ich mache Polizist. Hier bei uns bin ich Polizist.

Manchmal ist die Sache klar. Als Odysseus dem mörderischen Riesen Polyphem in die Hände fiel, stellte er sich als Niemand vor. Mit diesem naiven Trick hat er den bösen Zyklopen später ziemlich alt aussehen lassen, nämlich nach dessen Blendung, als das Ungetüm vor Schmerzen schreiend aus seiner Höhle stürmte und bei seinen Mit-Riesen um Hilfe flehte – Niemand hat mich geblendet!

Und wenn sich im Kuschel-Wohlfühl-Kino der 1950-er Jahre der Herr Generaldirektor, also quasi Gottvater, mit seinem Diener verwechseln lässt, dann hat daran nicht nur der Herr Generaldirektor himself seinen Spaß, sondern mit ihm auch alle Zuschauer. Und am Ende wird gern noch der belohnt, der sich von der Maskerade nicht abhalten ließ und den vermeintlichen Dienstboten so zuvorkommend behandelt hatte wie den Herrn Generaldirektor. Besonders dick fällt die Belohnung für diejenige aus, die den Frosch(könig) küsst.

Harmlose Späße sind das, Märchen- oder Kino-Träume. Doch wirklich harmlos ist das Leben eher selten, mit oder ohne Maske. Da ist z.B. der auf der Flucht aus Troja gestrandete Aeneas. Ein furchtbares Unwetter hatte ihn zusammen mit seinen Gefährten an eine einsame, unbekannte Küste verschlagen, und da sitzt er nun, genauso verzweifelt wie alle anderen – aber er ist der Chef, der genau weiß, dass es jetzt allein auf seine Leadership ankommen wird. So stellt er eine Zuversicht zur Schau, die er gar nicht hat. Wenn seine Leute an ihn glauben, werden sie sich entweder retten, oder, wenn nicht, hat seine Maskerade zwar nichts genützt, aber auch niemandem geschadet. Dagegen steht fest, dass wenn sie ihm nicht vertrauen und apathisch in Depression verharren, sie auf jedem Fall untergehen. Dann spielt es ebenfalls keine Rolle, was er ihnen vorgemacht hat. Die Entscheidung zur Verstellung, also zur Maske, ist taktisch also in jedem Fall richtig, und ethisch ebenfalls.

Da ist der verzweifelte Kaufmann, den ein unredlicher Kunde um die Bezahlung einer Lieferung geprellt hat. Deswegen ist der Kaufmann jetzt illiquide und kann seinerseits die Lieferanten nicht pünktlich bezahlen. Mit anderen Worten: Der Konkurs sitzt ihm drohend im Nacken. Eigentlich ist sein Unternehmen gesund, und wenn er vom nächsten Kunden die vereinbarte Vorauszahlung tatsächlich bekommt, und vom übernächsten nochmals, dann ist er gerettet, und keiner hat einen Schaden. Um sich zu retten, präsentiert er sich stabil und seriös. Wenn aber nur einer von beiden bezahlt, und der andere nicht, dann ist er erledigt. Und mit ihm geht auch der Kunde unter, der ihm vertraut und die Zahlung geleistet hat. Taktisch ist die Sache wiederum klar. Und ethisch? Wie würde ich an seiner Stelle handeln? – wohl ebenso, mit Bauchschmerzen…

Von hier aus führt die Treppe stufenweise in den ethischen Keller. Dort unten finden wir z.B. den skrupellosen Anlageberater, der Prosperität vortäuscht, obwohl er spätestens ab einem bestimmten Punkt auch vor sich selber nicht mehr leugnen kann, dass er unweigerlich pleitegehen wird, und dabei in Kauf nimmt, dass er immer weitere naive Kunden in den wirtschaftlichen Untergang stoßen wird, um selber noch ein Weilchen gut dazustehen. Wo, bitte, liegt die ethische Grenzlinie, an der unwiderruflich der moralische Abstieg beginnt?

Entgegen der spontanen Vermutung stellt die materiell greifbare Maske ein zwar häufiges, aber nicht obligates Requisit dar. Je gefährlicher die Maske, könnte man fast sagen, desto weniger Materie ist im Spiel, obwohl der Übergang unscharf ist: Gehört ein bestimmtes Requisit, etwa ein Sportwagen, bereits zur Maske oder ist er im betreffenden Fall einfach „normaler Alltag“?

…oder einfach andere betrügen…

Was ist die Beraubung einer Bank gegen die Gründung einer Bank: Bert Brechts Kritik, gesprochen von Mackie Messer in der Dreigroschenoper, hat schon gesessen. Manchmal wird die Maske umso körperloser, je größer das Ding, das sie maskiert. Das höhere Risiko für eine langjährige Haftstrafe trägt nicht der Erfinder von Wirecard, sondern der maskierte Räuber, der den Tresor in der Filiale um die Ecke ausnimmt. Offenbar halten wir körperlose Gewalt für weniger schwerwiegend als physische, selbst wenn sie riesige Folgen hat, und wohl auch physisch greifbare Masken, wenn sie unguten Zwecken dienen, für brisanter als körperlose.

Ich bin …

Ja, was bin ich denn nun? In der bunten Welt des Seins und der Masken sahen wir bei unserem Rundgang Authentisches und Verstellung nahe beieinanderstehen, so nahe manchmal, dass sich beide von außen kaum unterscheiden lassen.

Ich bin: Cogito, ergo sum – daran kann man sich festhalten. Und danach?
Ich bin ich (mia san mia) – ich habe meine Individualität und mein Selbstbewusstsein, jenseits aller Masken.
Nein, ich bin nicht Herr Maier (es muss eine Verwechslung vorliegen) – Lüge oder ehrliche Richtigstellung?
Entschuldige, ich bin doch nicht Herr Maier (ich verwahre mich dagegen) – Abgrenzung und Geringschätzigkeit. Ist sie gerechtfertigt oder Selbstbetrug?
Nein, nein, ich bin nicht der, von dem Sie meinen, dass ich es sei (Verwechslung, Charakter, Tarnung …) – das kann alles Mögliche bedeuten.

Ich bin authentisch? – wann bin ich es?

Die alten Römer hatten für Maske das Wort persona. Und dieses Wort hat es faustdick hinter den Ohren. Mit dem modernen Begriff von Person deckt sich das antike Konzept von persona nur marginal. Es stand nicht nur für Maske, sondern praktisch für das komplette Spektrum, das dieser Text ausleuchten will. Persona durch die Brille eines Lateiners konnte bedeuten:

  • Maske, Rolle, soziale Rolle, oder auch
  • Stand, Stellung, Rang, oder
  • Charakter, Würde, oder eben auch
  • Persönlichkeit, Individuum

Von der Maske des Schauspielers über die Rolle im Theater zur Rolle im Unternehmen, die sich mit Stellung und Rang verbindet, bis zum Charakter einer ganzen Persönlichkeit – alles steckt in persona. Eigentlich ist dies der ganze Zettel in einem Wort! Ist das nicht ebenso weise wie ernüchternd?

Hätten die alten Römer das Wort authentisch gekannt und in unserem Sinn benutzt, so hätten sie wahrscheinlich gesagt: Authentisch ist eine Fiktion, die im wirklichen Leben keine Entsprechung findet. Im wirklichen Leben ist persona angesagt.

Ist die Realität wirklich so beschaffen? Sind wir allesamt im übertragenen Sinn wirklich nichts als „Kryptokommunisten“, also Menschen, die ihre Maske sogar vor sich selber aufgesetzt behalten und am Ende nicht mehr sagen können, was „sie“ sind und was nur Maskerade?

Arbeiten wir daran, dass es nicht so sein möge. Fasching ist vorbei und FFP2, so hoffen wir, irgendwann auch.

 

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Thiemes Zettel vom 31.01.2022

Dr. Christian Thieme

Mehr Konsequenz?
Wird tatsächlich im neuen Jahr alles besser?

Im neuen Jahr werde ich… – ich nehme es mir diesmal fest vor… Oder wie steigert man das? Vielleicht "ganz fest"? Genau. Ich nehme es mir ganz fest vor. Ich werde konsequent darauf achten, dass ich auf jedem Fall…

******

Ok, das war letztes Jahr. Da hat es nicht geklappt. Dieses Jahr bin ich um eine Erfahrung reicher. Vor einem Jahr hat es nicht geklappt, und das treibt mich an. Dieses Jahr bleibe ich konsequent und lasse ich mich nicht nochmals von meinen Vorsätzen abbringen. Ihr werdet schon sehen! --- Wirklich? Sollen wir wetten? Ich wette, es wird wieder nicht funktionieren.

Vorsätze - Ab jetzt gesund leben

Warum behaupte ich das? Ich habe doch keine Ahnung, wer da spricht, und kenne nicht den Sachverhalt. Und klar, manche Vorsätze funktionieren einwandfrei. Warum also (vermutlich) hier nicht? Die Begründung will ich jetzt Stück für Stück entwickeln.

Heute so und morgen so

Wie liest sich diese Überschrift? Wie hört sie sich an, wenn sie laut vorgelesen wird? – Man wird es spontan wie folgt betonen: "Heute so und morgen so"! Das zweite "so" bedeutet dabei das Gegenteil des ersten, weil inhaltlich das Gegenteil von dem gemeint ist, was formal dasteht. Nämlich: Heute so und morgen genau anders. Aber Vorsicht! Theoretisch könnte auch die wörtliche Auslegung gemeint sein: "Heute so und morgen so", also morgen ganz genauso wie heute. Praktisch wird es dann zwar niemand so sagen, sondern zur Klarstellung noch etwas einfügen, etwa "Heute so und morgen immer noch so". Ich mag dieses Wortspiel aber trotzdem, weil es mit sprachlichem Humor eine tiefere Weisheit auf den Punkt bringt. Es ist die Erfahrung, dass die Entscheidung zwischen Konsequenz und Inkonsequenz manchmal schwerer fällt als gedacht.

Wenn das aber so ist, wie soll ich dann allgemein auf die Frage antworten, ob es denn besser sei, konsequent zu sein oder inkonsequent? – Nun, ich würde sagen, dass es in der Regel besser sei, konsequent zu sein, aber nicht unbedingt bis zur letzten Konsequenz. Habe ich damit etwas gewonnen? Zumindest steckt in diesem bis zur letzten Konsequenz das Eingeständnis, dass es nicht unbedingt sinnvoll ist, einen einmal eingeschlagenen Weg auf Biegen und Brechen bis zum (bitteren) Ende zu verfolgen. Viele Menschen empfinden es als Ausdruck ihrer Souveränität und Autonomie, auf die letzte Konsequenz zu verzichten, sobald die zu nichts mehr führt und eventuell sogar schadet. Andere halten bis zum allerletzten Moment an ihrem einmal eingeschlagenen Weg fest, aus Furcht, sich sonst vorschnell und unnötig von ihrem Ziel abbringen zu lassen. Das ist so, aber es bringt uns bei der Frage, was vorzuziehen ist, noch keinen großen Schritt weiter. Einen kleinen aber schon: Es kristallisiert sich nämlich heraus, dass die Frage nicht nur eine sachliche Dimension hat, sondern auch eine persönliche.

Die sachliche Dimension: Wann ist es konsequent, konsequent zu sein?

Inkonsequent verhalte ich mich, wenn entweder mein Verhalten nicht zu meinen Grundsätzen bzw. Vorsätzen passt oder wenn ich mich in vergleichbaren Situationen unterschiedlich verhalte (letzteres wäre eher inkonsistent als inkonsequent, aber das spielt hier keine Rolle).

Wann eine vergleichbare Situation gegeben ist, lässt sich nicht immer einfach entscheiden, und da liegt der erste Hase im Pfeffer. Warum, lässt sich leicht erklären: Wenn ich die letzten 7 Tage täglich einen Regenschirm dabei hatte, aber heute keinen, ist das konsequent oder inkonsequent? – Wenn es heute wieder genauso regnet, ist es inkonsequent. Wenn heute erstmals wieder die Sonne scheint, ist es konsequent. Denn mein Grundsatz lautet nicht "Ich nehme jeden Tag den Regenschirm mit", sondern "Ich kleide mich passend zum Wetter". Um Konsequenz oder Inkonsequenz zu erkennen, ist es elementar, den leitenden Grundsatz zu erkennen und sich nicht von einer Grundsatz-Attrappe ablenken zu lassen.

Jetzt aber der verzwickte Alltag: Wenn mein Grundsatz lautet, dass ich mich jeden Tag kalt dusche, egal ob ich gerade Lust dazu habe oder keine (meistens habe ich keine), soll ich mich dann "konsequenterweise" auch kalt duschen, obwohl ich 41,9 Fieber habe? Mein eigentlicher, sozusagen übergeordneter Grundsatz ist doch ein anderer! Er lautet "Ich dusche mich kalt, um mich gesund zu erhalten"! Vielleicht würde ein Arzt jetzt sagen, dass kalt zu duschen auch bei 41,9 Fieber gesund sei, aber ich glaube das jetzt mal nicht. Und damit hätte ich mich, wenn ich konsequent den nachgeordneten Grundsatz verfolgte, nämlich täglich kalt zu duschen, inkonsequent zu meinem übergeordneten Grundsatz verhalten.

Sobald mich meine Konsequenz in Konflikt zu einem anderen Grundsatz bringt, muss ich mir was überlegen. Einfach nur "konsequent" weiterzumachen, wird dann nicht ausreichen. Konsequenz geht dann nämlich in Sturheit über, und je "konsequenter" ich mich an die eine Sache klammere, desto mehr schade ich der anderen. So entpuppt sich der Satz Heute so und morgen so als der schlitzohrige Schalk, der er eben ist.

Konsequenz erfordert Augenmaß

Konsequenz, wenn sie ohne Augenmaß exekutiert wird, führt in die Irre. Die einfachen Beispiele sollten die Struktur des Problems sichtbar machen. Weiter erschwert wird die Abwägung von konkurrierenden Grundsätzen, wenn neben mir eine zweite Person im Spiel ist, gegen deren Interessen ich (m)eine eigene Konsequenz in Stellung bringe. In einem solchen Fall hängt die Urteilsfindung zusätzlich davon ab, wie ich die fremden Interessen gegenüber den eigenen gewichte.

Die Folgerung ist weitreichend: Wenn ich mich immer wieder vergewissern möchte, dass die Balance zwischen Konsequenz und Augenmaß noch stimmt, reicht es manchmal nicht aus, ausschließlich formale Kriterien anzuwenden. Aber just in dem Moment, da ich das formale, objektiv nachprüfbare Kriterium verlasse und ihm eine "Öffnungsklausel" zur Seite stelle, also Ausnahmen von meiner Regel zulasse, entartet mir die Öffnungsklausel leicht zur Hintertür für den inneren Schweinehund. Wenig später schon könnte meine einstige Konsequenz in einem Meer von Ausnahmen kläglich ersoffen sein.

Spielen wir dazu das Beispiel weiter: Ich hatte mich mit mir selbst geeinigt, dass ich bei 41,9 nicht kalt duschen muss. Wegen Gesundheitsgefährdung. Gut. Und bei 41,8? – ist doch klar. Kürzen wir es ab: Am Ende lande ich bei 37,1 mit derselben Frage – wenn ich mich selbst nicht rechtzeitig daran hindere. Aber wo, zum Kuckuck nochmal, bei welcher Temperatur soll ich mit den Ausnahmen aufhören? Im Leben geht es meistens nicht um das kalte Duschen, aber das Problem ist allgegenwärtig: Wo haben die Kompromisse und Ausnahmen ihre Grenze, wenn ich mich selbst noch ernstnehmen will. Finde ich keine Grenze, ist das Projekt Duschen bald Vergangenheit. Grenze? Ja, aber wo?! Die Frage ist einfach gestellt und schwer zu beantworten: Was will ich als Ausnahme vor mir selbst gerade noch gelten lassen: 41,9 oder 37,1 oder welchen Wert dazwischen? Und bedeutet dann ein solcher Grenzwert in jeder Situation wirklich dasselbe? Tut er natürlich nicht! Bei steigender Temperatur sieht es vielleicht schon wieder anders aus als bei sinkender? Mit anderen Worten: Die einzige Regel von Bestand kann nur lauten: Ich verfolge meinen Grundsatz mit ganzer Willenskraft und Energie und vertraue mir selbst, dass ich nur im notwendigen Umfang von ihm abweiche. In diesem Vertrauen in die Seriosität meiner angeblich echten Gründe (keine billigen Ausreden vor mir selber!) liegt der Hund begraben.

Das Beispiel mit der kalten Dusche gehört in die Rubrik Lebensregeln. Dazu gehört auch das Thema Rauchen oder der Vorsatz, auf das Auto "möglichst" zu verzichten. Beim Duschen gibt es, wenn ich konsequent sein will, zwar Ausnahmen, aber nur selten. Beim Rauchen-Abgewöhnen gibt es, je nach Strategie, ggf. "null Toleranz", um den Erfolg zu sichern. Beim sparsamen Gebrauch des Autos – na ja ….

Sie können jetzt mal zehn Beispiele notieren, wo konsequentes Verhalten wünschenswert wäre, gleichwohl mühsam, und jeweils dazu festhalten, welche Ausnahmen sie vor sich selber gelten lassen würden – und welche ggf. nicht. Der Vergleich mit ihrem aktuellen Verhalten der letzten Zeit könnte dann eventuell relativ "vergnüglich" werden. Aber das ist natürlich eine boshafte Unterstellung, für die ich mich postwendend entschuldige.

Die persönliche Dimension: Gestern beschlossen – heute umgesetzt?

Morgen früh werde ich um 4:00 Uhr aufstehen. Um den Satz zu interpretieren, muss man die Person kennen, die ihn spricht. Je nachdem, wer das proklamiert, ist für den nächsten Morgen nämlich ein unterschiedlicher Ablauf zu erwarten: Entweder tatsächlich 4:00 Uhr aufstehen, oder aber 4:10, oder 4:25, oder 4:30 usw. Oder das morgendliche Ergebnis ist überhaupt nicht vorhersagbar und folgt keiner Regel, so dass sich irgendeine Uhrzeit zwischen 4:00 und 8:00 Uhr ergeben wird. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Im Grunde hat dieses Phänomen, entgegen dem ersten Anschein, mit Konsequenz wenig zu tun. Es ist bzw. wäre zwar folgerichtig, also konsequent, wenn ich am nächsten Morgen das umsetze, was ich am Vorabend beschlossen hatte. Insofern gehört das Beispiel schon dazu. Aber es handelt sich hier um einen bestimmten Wesenszug, der meinen Umgang mit mir selbst bestimmt. Wie ernst nehme ich mich? Das meine ich nicht im Sinn von Humorlosigkeit, also Unfähigkeit, über mich selbst auch mal herzlich lachen zu können. Es geht darum, ob mein eigenes Wort vor mir selbst Gewicht hat. Bin ich mir selbst eine Autorität, dann hat mein Wort bei mir auch Gewicht: Morgen früh wird um 4:00 aufgestanden, wenn ich es gesagt habe. Oder ist es nur ein unverbindliches Gerede, was ich mir da vorsage? Aber von anderen erwarte ich trotzdem Respekt für das, was ich sage? Schwierig.

Was für ein Typ bin ich?

Gehörte ich zu jenen, die mit den eigenen Vorsätzen eher locker umgehen, hätte ich mir dieses Thema wahrscheinlich nicht ausgesucht – das ist logisch naheliegend, und darum verrate ich damit kein großes Geheimnis. Die Vorteile liegen ja auch auf der Hand. Ich denke über jede Frage einmal nach, möglichst wirklich nur einmal, überlege mir, was zu tun ist, und befasse mich danach mit anderen Dingen. Wenn es dann so umgesetzt wird, wie ich es beschlossen habe, bleibt ein Gefühl von Zufriedenheit zurück. Was aber, wenn sich die Wirklichkeit meinem Beschluss widersetzt! In diesem Fall wird es für mich ungemütlicher als für jemanden, der leichter bereit ist, beizudrehen. So ist mein Lernpensum mehr Flexibilität, während andere eher am Durchbeißen arbeiten können.

Freilich haben beide Mentalitäten auch Auswirkungen auf das Umfeld. Der Typus, der konsequent seinen Grundsätzen folgt, --- Ich beginne neu: Der Typus, der stur seinen Grundsätzen frönt, … Ja, die beiden Seiten der Medaille sind leicht zu verwechseln, Konsequenz und Sturheit. Ich suche nach einem eingängigen Beispiel und finde: Mülltrennung. Wobei ich schwöre, dass es nicht aus der eigenen Erlebniswelt stammt. Sowohl der konsequente Pedant als auch der entgegengesetzte Typus, alle beide beschäftigen sie ihr Umfeld.

Konsequenz ist eine Eigenschaft, bei der man nach zwei Seiten vom Dach fallen kann. Zum Glück ist das Dach ist in der Mitte mehr breit als spitz. Erst am Rand wird es brenzlig. Jede*r möge also dort Platz nehmen, wo er oder sie es bequem findet. Bequem ist der Platz dann, wenn ich es dort mit mir selber gut aushalte, und mein Umfeld mit mir. Der letzte Halbsatz könnte als Arbeitsauftrag für Paarbeziehungen verstanden werden.

Die merkwürdige Lage vier Wochen nach Sylvester

Wie war das jetzt bei Ihnen? Hat es an Sylvester gute Vorsätze gegeben? Haben sie bis heute "überlebt"? Ich stelle mir gerade vor, dass es bei ihnen geklappt hat. Dann herzlichen Glückwunsch, und: hold on! Bleiben sie dran!

Vielleicht haben sie am 31.12. um 23 Uhr 59 voll Melancholie die letzte Zigarette ausgedrückt? War es ein spontaner Entschluss von 23 Uhr 17, dann, so vermute ich stark, wird er nicht arg lange gehalten haben. Vielleicht aber war es ein von langer Hand grausam geplanter Coup gegen die eigenen Bedürfnisse – das kann klappen. Der Jahreswechsel ist in diesem Fall ja nur ein mehr oder weniger zufälliger Stichtag. Es hätte auch das fünfte Jubiläum im neuen Job sein können, oder zwei Jahre Partnerschaft oder einfach: morgen, überfallartig. Wesentlich ist, dass die Entscheidung tief innen vorbereitet war. Wenn nämlich eine*r das, was er/sie sich als Vorsatz vornimmt, tief innen eigentlich gar nicht will, helfen weder Konsequenz noch Eidschwüre. Wenn der Wille zu hundert Prozent da ist, setzt die Konsequenz, die ich bei der Umsetzung an den Tag lege, das Sahnehäubchen oben drauf. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ich will in Zukunft mehr auf Pünktlichkeit achten? Dann sollte ich zunächst die Ursachen verstehen, warum das immer nicht klappt. Ich gehöre zu denen, die lieber suchen als aufräumen? Ich sitze zu viel und bewege mich zu wenig? – es wäre müßig, alle Unarten aufzulisten, die sich jemand gern abgewöhnen würde, oder alle positiven Handlungen, die zu selten stattfinden. Die Katze fällt immer auf dieselben Füße: Ich muss verstehen, was mich bisher ausgebremst hat, und dafür sorgen, dass das Hindernis verschwindet. Egal, ob es in mir selbst liegt oder im Umfeld. Und dann, wirklich erst dann hilft mehr Konsequenz mir dabei, Kurs zu halten.

Darum hat ein guter Vorsatz die größte Chance, wenn er im Kopf gründlich vorbereitet ist, wenn er zugleich für mich realistisch ist und wenn ich ihn wirklich will. Wenn diese Kriterien erfüllt sind, ist der Stichtag (also z.B. Sylvester) das Unwichtigste am ganzen Projekt. Das ist der Grund, warum ich eingangs behauptet habe, dass die meisten Sylvester-Vorsätze scheitern würden: Wenn der Stichtag ausgerechnet Sylvester ist, dem Trend oder gar sozialen Druck folgend, spricht viel dafür, dass der gute Vorsatz nicht unter die Oberfläche dringt und innen nichts findet, woran er sich festhalten kann. Dann ist er, während wir uns hier unterhalten, vielleicht bereits erloschen.

Das ist freilich kein Grund, sich zu ärgern oder enttäuscht zu sein. Das Jahr hat 365 Tage, und jeder von ihnen ist richtig, sich etwas Gutes vorzunehmen und es, nachdem es gut vorbereitet wurde, mit aller Konsequenz und Willenskraft zu verfolgen.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 28.12.2021

Dr. Christian Thieme

Quittenversteher

Ich sitze am Küchentisch und schneide. Offensichtlich empfiehlt fast jedes auffindbare Quitten-Rezept eine etwas andere Art der Vor- und Zubereitung. Diesmal: waschen, die pelzige Schicht abrubbeln und danach die Früchte nicht mühsam schälen, sondern samt Schale aufschneiden. Das kernige Innenleben entfernen, den Rest in Stücke schneiden und dann ab zur Weiterverarbeitung.

Aquarell Gemälde von Thieme, Quitten

(Aquarell von Hermine Thieme)

Die Hände arbeiten vor sich hin. Akkord ist hier ein Fremdwort. So nimmt der Haufen zwar ab, aber langsam. Der Kopf hat Muße und geht spazieren. Ich lasse ihn laufen wohin er will – brauche ihn im Moment ja für nichts anderes. Er liebt diese Freiheit, und ich gönne sie ihm gern. Meistens bringt er mir dafür von seinem Spaziergang was mit. Quitten? Immer wieder Quitten? Bisher hat mich noch keines der Endprodukte wirklich erfreut, aber darauf kommt es überhaupt nicht an. Unsere Quitten gut zu behandeln, ist eine Frage der Ehre, sozusagen.

Seit dem Frühjahr schon erfreuen uns die beiden Bäume, zuerst mit den Blüten. Quittenblüten wachsen einzeln. Nicht inflationär, wie auf dem riesigen Birnbaum, der uns Jahr für Jahr eine beispiellose Pracht von unzähligen (sind es tausend, oder sogar mehr?) weißen Blüten schenkt, für wenige Tage, maximal bis zum ersten großen Regen, und später die entsprechende Menge kleiner, leckerer Holzbirnen, 95 Prozent von ihnen in unerreichbarer Höhe – zur Freude im Frühling der Bienen und im Herbst der Wespen…

Bei den Quitten verheißt jede einzelne Blüte die konkrete Aussicht auf eine reife Frucht im Herbst. Und weil unsere Bäume bisher nur zwischen zwei und maximal drei Meter messen, werden sie sich auch vollständig und leicht ernten lassen – von daher gibt es kein Argument, die Früchte verkommen zu lassen. Schön sind die Blüten, groß und elegant. Für die Blumenvase wären sie wie gemacht, aber dann gäbe es keine Früchte: Jede Blüte eine fette Quitte, das kann man doch nicht machen.

Vielfalt statt Einheit!

Auch die Apfelbäume haben schöne Blüten. Nicht so verschwenderisch viele wie der große Birnbaum, aber auch nicht so abgezählt wie bei den Quitten. Später beschäftigen uns die Äpfel viele Wochen lang, weil sie sich abgesprochen haben, unter keinen Umständen alle zur gleichen Zeit reif zu werden. Jedenfalls die freien, glücklichen Äpfel tun das, weil sie es dürfen. Weil sie nicht durch eine züchterische Veredelungsmühle mussten, sondern Streuobst heißen dürfen, weil sie auch Vögel und andere Tiere von sich kosten lassen und sich nach Form und Größe jeder Normierung entziehen. Dafür lieben wir sie.

Quitten sind bescheiden. Sie stellen sich ganz am Ende an, als wollten sie sagen: Wir sind sowieso nichts Besonderes, macht nur zuerst alles andere fertig, die Beeren und die ersten Birnen, dann die Äpfel und immer noch Birnen, und zuletzt könnt ihr euch um uns kümmern. "Quitten wollen etwas Frost, bevor sie geerntet werden", sagen die Gärtner. Vielleicht wollen sie ja wirklich welchen – wir jedenfalls glauben es gern und lassen sie bereitwillig in der Kälte warten. Dafür lieben wir sie.

Während die Hände arbeiten, höre ich hinter mir sagen: Da, hier in diesem Rezept steht es – Quitten wären nicht mehr zeitgemäß. Natürlich schreibt dort eine, die die Quitten liebt. Mein Kopf nimmt das mit zum Weiterdenken. Das Mantra der modernen Landwirtschaft lautet: Perfektion und Normierung. Jeder Apfel exakt so groß wie der Nachbar, immer 6 Stück zusammen in Pappe unter Folie, macht immer das ziemlich genau gleiche Gewicht. Makellos müssen sie sein, das versteht sich von selber, und dort, wo sie die Wochen oder Monate (?) zuvor gespritzt worden waren, müssen wir ja nicht unbedingt hingehen. Man muss nicht alles sehen wollen. Und die zwei-dimensional verzüchteten oder verschnittenen, raffiniert für die spätere, maschinengerechte Ernte gepflanzten Platt-Pflanzen, zu denen Baum zu sagen ein Witz wäre, müssen wir auch nicht so genau anschauen. Wir Verbraucher würden das so wollen, lese ich immer. Bin auch ich so einer? Ich weiß es nicht.

Freiheit!

Die eigenen Äpfel lieben wir dafür, dass sie in allem das genaue Gegenteil sind. Bei den Quitten stellt sich die Frage überhaupt nicht erst. Quitten können von nichts das genaue Gegenteil sein, weil sie sich von vornherein jeder Norm verweigern. Sie sind archaisch und frei geblieben. Sie müssen nicht wirklich schmecken, sie dürfen unterschiedlich groß gewachsen sein, von mittlerer Apfelgröße bis zu fast einem Kilo am selben Baum, und sie dürfen auf dem einen in Birnen- und auf dem anderen in Apfelform wachsen. Zerklüftet dürfen sie sein, müssen es fast! So zerklüftet, dass die Mühe des Schälens ziemlich groß werden kann. Schälen mussten wir diesmal zum Glück nicht, das hat uns das Rezept erlassen. Im Gegenteil, die Schale sei wertvoll, lesen wir dort. Und das Pelzige geht schon so auch ab, sagt das Rezept --- und ohne die buckligen Teile mit ihren Höckern und Klüften mühsam zu schälen, füge ich hinzu. Quitten sind Individuen. Aus Ratlosigkeit haben wir sie einmal schon zum Mosten unter die Äpfel gemischt, das geht zwar, aber macht kein gutes Gefühl. Darum diesmal nicht. Quitten sind in ihrer bockigen Individualität doch wunderschön. Dafür lieben wir sie.

Ich sehe die erste Ladung der geschnittenen Stücke im Topf schwitzen. Richtiger den geschlossenen Topf, worin sie schwitzen. Gelee sollen sie werden. Quittengelb? Das hört sich eher nach Diagnose leberkrank an, nach pathologischer Gelbfärbung der Haut, als nach Gärtnerei. Am Baum werden sie gelb, das stimmt schon, aber erst ganz zuletzt und weder gleichzeitig noch unbedingt quittengelb. Macht nichts, denn auch bei der Farbe haben die Quitten ihre Freiheit. Nur manche schaffen es wirklich bis quittengelb, andere werden nur etwas gelb(lich), und einige fallen grünlich vom Baum. Bei uns dürfen die meistens auch mit. Quitten sind keine Äpfel, die entweder rundum grün oder einseitig grün mit einer roten Backe oder rundum rot zu sein haben. Auf der Streuobstwiese dürfen sie das zwar auch, und teilweise wollen sie es auch so, aber eigentlich wollen niemals alle auf dem Baum gleich aussehen. Lieber vielfältig. Vielleicht einfach aus Spaß an der Freud, vielleicht auch, weil der Großvater den Baum vor Jahrzehnten veredelt hat, was niemand mehr sieht, oder kürzlich wir selber. Dann sehen die Früchte rundum überall anders aus. Ja, Äpfel kann man schon auch lieben. Aber das macht den Quitten gar nichts. Die halten durch, bis die Zuwendung zu den Äpfeln saisonal erloschen ist. Nett von den Quitten ist das.

Mehr Ehrlichkeit!

Die vorbereiteten Gläser sind inzwischen aufgereiht, lauter bunte Deckel, die vormals auf Gurken oder Marmelade saßen, fast jedes Glas anders. Das Quittenschnipseln ist fertig. Eigenes Obst ist ein Privileg der ländlicheren Gegenden. Das Schlagwort ländlicher Raum ist mir fremd geworden, seitdem damit einer Politik das Wort geredet wird, in der für Quitten und Quittenversteher kaum Platz ist. Das richtet sich nicht gegen die "herkömmliche" oder "konventionelle" Landwirtschaft an sich. Mir fehlt nur die gegenseitige Ehrlichkeit. Wenn ich sehe, wie in der Fernsehwerbung gerade ein Rührstück läuft, mit süßen kleinen Ferkeln auf dem Knie, die munter grunzen und kauen, und zum Schluss kurz auf einer Tafel die Sponsoren des Spots aufblitzen, zu kurz um sie wirklich zu erkennen, aber darunter genau der Schlachtbetrieb auftaucht, der wegen der Arbeits- und Wohnbedingungen unter Corona zeitweise schon geschlossen war, so dass in der langen Pipeline des Tötens sofort existenzgefährdende Stauungen entstanden waren – ich will Transparenz und das ehrliche Bemühen um bessere Lösungen. Und ich will auch keine Spots mit zwei Frauen sehen, in denen die eine über den Aufwand klagt, sich eine Mahlzeit aus Früchten zuzubereiten, während sich die andere, im Gesicht von schierer Lebensverneinung gezeichnet, so jedenfalls die Wirkung auf mich, mit ein paar Stößen aus einer Sprayflasche die angeblich gleiche Wirkung verschafft.

Erntedank

Missernte bei Weizen oder Äpfeln oder Salat. Große Schäden für die Produzenten, stellenweise verheerende Verluste. Zum Glück kommen unsere Lebensmittel vom Supermarkt und nicht vom Acker. Geht halt der Salat mal 30 % rauf, oder das Brot wird etwas teurer. Wirklich Hunger leiden, wie die dort unten in der dritten Welt, muss deswegen wohl kaum einer, allen Unkenrufen zum Trotz. Was uns das Erntedankfest noch bedeutet – ich kann es kaum einordnen. Wann ist das überhaupt? Muss wohl ungefähr so Ende Oktober sein, oder? Die erste Charge Gelee läuft in die Gläser, der Kopf sollte langsam zurückkommen.

Ernte, globalisiert, rund ums Jahr. Irgendwo gibt’s immer was, und alles her zu uns. Erdbeeren ganzjährig. Schmecken zwar nicht, aber sehen aus wie Erdbeeren. Das ist wichtig am Buffet, die Augen sollen ja essen. Der Bauch ist sowieso satt. Tomaten schmecken auch nicht. Und Tomatenmark made in Italy darf bedeuten, dass zwar die entscheidenden 30 % des Inhalts, nämlich das Mark, aus China stammen, aber die 70 % Wasser aus Italien, dann ist nach Masse gerechnet der überwiegende Teil in Italien gemacht und das Prädikat darf lauten made in Italy. Wollen wir das wirklich alles so haben?

Maria Lichtmess

In einigen Wochen ist Maria Lichtmess, dann ist die Weihnachtszeit offiziell vorbei. Aber nicht nur das. Früher war Maria Lichtmess ein wichtiges Datum in der Landwirtschaft, der Beginn eines neuen Arbeitsjahrs. Landwirtschaft hat uns lange Zeit reich gemacht. Die prächtigen, satten, stabilen Höfe in Südostbayern – dort fällt es mir immer am meisten auf – es ist eine Lust, diese Fülle anzusehen! Doch nicht zu allen Zeiten und niemals für alle war Landwirtschaft Wohlstand. Maria Lichtmess war der Stichtag, zu dem die Dienstboten ein neues Arbeitsjahr begannen und dazu evtl. den Hof wechselten. Dann mussten sie an der alten Stelle buchstäblich den Löffel abgeben, so las ich. Daher stammt die Redensart. Es hat mich schockiert: Ein Leben zu führen, in dem mir nicht einmal der hölzerne Löffel gehört…

Mit unseren Quitten würden wir auch nicht reich. Ein Stundenlohn von 10 Cent wäre vielleicht drin. Mehr wohl nicht. Landwirte müssen leben und die Leute in den Städten müssen essen – ich auch. Von ein paar frei geborenen Quitten und Äpfeln kann sich kein Land ernähren.

Was wünsche ich mir: Ehrlichkeit statt juristische Trickserei, Dialog und Verständnis, einer für den anderen, Wertschätzung der Landwirte statt Abschätzigkeit gegen den Bauern (es wird ja schon besser), und vor allem Wertschätzung von Produkten, die diese Wertschätzung auch rechtfertigen (müssen). Rückbesinnung darauf, dass alles Geerntete vorher wachsen musste, und alles, was woanders gewachsen ist, dort fehlt, wenn wir es hier essen. Oder, wenn es dort zwar nicht fehlt, dann häufig etwas zerstört: Entweder Menschen oder soziale Gemeinschaften oder die ökologischen Grundlagen der Region oder gleich die des ganzen Globus.

Das sind alles Dinge, die jeder weiß. Der Tag mit den Quitten lässt mir Muße zur Reflexion. Verstehen wird man höchstens das, was man immer wieder mit den Händen begreift. Danke, Quitten!

Das letzte Gelee ist eingefüllt. Ob ich morgen im Supermarkt noch daran denken werde? Vornehmen will ich es mir.

Post Scriptum: Abends kam die liebe Nachbarin mit einem selbstgebackenen Kuchen aus Quitte und Apfel herüber, delikat. So gut können Quitten schmecken! Und, oh Wunder, das erste verkostete Glas vom frisch gemachten Gelee war diesmal wirklich lecker – zum ersten Mal.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 16.12.2021

Dr. Christian Thieme

Der Mensch: deinós (δεινός)!? ---
Oder: Was hält die Welt trotzdem zusammen

Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält

Faust I

Im Anfang war das WortἘν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος (En archē ēn ho lógos). So beginnt der Johannesprolog in der deutschen Übersetzung. Am Anfang das Wort? Offenkundig war schon Goethe damit nicht wirklich zufrieden. In Faust I jedenfalls kommt er zu dem Schluss, dass die richtige Übersetzung wohl lauten müsste: Am Anfang war die Tat. Rein logisch betrachtet wirkt das überzeugend: Wenn am Anfang nichts weiter da ist außer Gott, dann kann Gott sein Wort nur an sich selber richten. Wenn er aber zu sich selber spricht, steht er hinterher genauso da wie zuvor. Also muss er, so Goethes Logik, zuerst etwas tun.

Schlüssig wird Goethes Gedanke aber nur, wenn man bei dem Wort ἀρχῇ (archē) an einen zeitlichen Beginn denkt, also archē gleich zeitlicher Anfang. Das ist zwar naheliegend, aber es ist nicht alternativlos. So hängt Goethes Argument zu einhundert Prozent von der Übersetzung ab – ein dünnes Eis! Ebenso kann das Wort nämlich abstrakt verstanden werden, also archē im Sinne von grundlegendes Prinzip. Wenn ich nun dazu passend das Wort λόγος (lógos) nicht mit Wort übersetze, sondern mir darunter Vernunft vorstelle, auch das ist nämlich eine sprachlich zulässige Interpretation, am liebsten gleich so etwas wie den Inbegriff der höheren Vernunft,  dann öffnet sich ein komplett anderes Fenster. Für meine Laien-Vorstellung gefällt mir diese Deutung sogar außerordentlich gut. Inbegriff der höheren Vernunft: Damit erinnert die erste Zeile des Prologs an die globale, alle scheinbar divergierenden Teile mühelos vereinende Schöpfer-Vernunft, die dem Kosmos innewohnt, die von den Wissenschaften immer noch erst bruchstückhaft verstanden wird, und die zugleich uns, des Kosmos‘ Bewohner, zu Liebe, Respekt und Demut einladen will. Mit schlichten Worten beschreibt sie die Gegenwelt zu den Milliarden von kleinen „Vernünften“, die heute den Schöpfungs-Lógos tagtäglich konterkarieren, statt ihm einfach nur zu folgen. Gibt es das wirklich erst heute? Oder war es schon immer so, und wir, als Menschheit gedacht, wollten davon in manchen früheren Jahrhunderten einfach nichts wissen?

Die unbegreifliche Ruhe am siebzehnten Tag

Maria, Joseph und Christuskind, Plastik aus Eisen, von Walter Spensberger, Dießen
Plastik von Walter Spensberger, Dießen

Auf einem Teich in Phantasien wachsen Seerosen. Ihre Blätter wachsen gleichmäßig, und zwar so, dass sich ihre Fläche auf dem Wasser jeden Tag verdoppelt. Nach 17 Tagen sind 50 Prozent des Teichs bedeckt. Wie lange dauert es bis zu 100 Prozent? Spontan ist man geneigt, zu sagen: es braucht weitere 17 Tage! Die Vorstellung, dass der Prozess, der beim ersten Mal 17 Tage gedauert hat,  beim zweiten Mal in nur einem einzigen Tag ablaufen wird, will uns nicht in den Kopf, weil sie der Anschauung widerspricht. Solch exponentielles Wachstum gibt es leider nicht nur im Lande Phantasien. Der schleichende Beginn verführt uns dazu, dass wir Dinge, die wir eigentlich schon lange wissen (bzw. wissen könnten, wenn wir nur gewollt hätten), erst im letzten Moment realisieren und dann als neu und dramatisch empfinden. Um im Bild zu bleiben, gehen wir am Abend des siebzehnten Tages noch halbwegs entspannt zu Bett, und erst am nächsten Morgen, dem letzten, fangen wir an zu begreifen, was da draußen vor sich geht. Jetzt helfen nur noch ad-hoc-Maßnahmen. Auf die Systemzusammenhänge kann kaum noch Rücksicht genommen werden. Alles muss nun ganz schnell gehen: nur noch ein halber Tag Zeit statt anfangs siebzehn.

Die Geschichte der Maßlosigkeit

Norbert Wieners Buch Mensch und Menschmaschine“, so der deutsche Titel, war für mich, als ich gerade 15 war und anfing, die Welt durchdringen zu wollen, ein wirklicher Paukenschlag. Ich las dort den Satz, dass die Menschheit längst darauf angewiesen sei, immer wieder nachträglich Lösungen zu schaffen für Probleme, die sie zuvor schon unwiderruflich geschaffen hat. Die Originalausgabe erschien 1950 (The Human Use of Human Beings). Es lag, wenn ich das Erscheinungsjahr bedenke, wohl nicht nur an meinem fast noch kindlichen Alter, dass mich der Gedanke so berührt hat. Wieners Ideen waren auch 15 Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch so weit weg vom Mainstream, dass nur wenige von ihnen Notiz nahmen. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, dass das Wort Umweltschutz selbst Anfang der 1970-er Jahre noch weitgehend unbekannt war, oder aber als politischer Kampfruf verschrien.

Später lernte ich, dass solche Gedanken zwar in der damaligen Gegenwart fremd waren, aber in lange zurückliegenden Zeiten längst schon gedacht worden waren, jedenfalls ansatzweise, in den Bildern, mit dem Wissen und mit den Worten ihrer Zeit. Wiener hat das Problem klarer benannt, hat aus dem vor Zeiten fast mystischen Unbehagen explizite Sätze geformt. Aber neu, grundsätzlich neu war es eben nicht – es gibt nichts Neues unter der Sonne, und seit Prediger Salomo nicht einmal mehr neue Redensarten. Wobei das Spiel mit diesem Prediger-Zitat tatsächlich einen ernsthaften Kern enthält. Das Studium unserer Sprachbilder und Redensarten erinnert uns nämlich daran, wie sehr unser kulturelles Gedächtnis und unsere Vorstellungen vom Wesen des Menschen sowohl durch die Bibel als auch durch das Erbe der Antike geprägt sind, häufig gleichsinnig von beiden[i].

Das Register der abendländischen Menschheit – Sünden, aber nicht nur!

König Ahab und Elias, oder Mose und das goldenes Kalb als Metapher sowohl für Gottlosigkeit als auch Maßlosigkeit, weiter die Sintflut oder die Erzählung von Sodom, Gomorrha und der Salzsäule, dazu die Geschichte von Kain und Abel als Urbild von Neid, Missgunst, Jähzorn und folglich sogar Mord, und natürlich Apfel und Turmbau als Metaphern menschlicher Hybris: alles Beispiele aus dem Alten Testament, von denen manche auch in anderen Quellen mit identischem oder vergleichbarem Inhalt auftauchen.

Oder der erbärmliche Streit der beiden Alphatiere im Heer der Griechen, mitten in der Belagerung von Troja: Allein diesen Streit hat der Dichter Homer zum Thema gewählt, ihm allein ist seine Ilias gewidmet, und nicht etwa den jahrelangen Kampfhandlungen oder dem letztendlichen Sieg der Griechen! Dass dieses Werk, das mit dem Wort Zorn beginnt, bis heute unangefochten als Beginn der abendländischen Weltliteratur anerkannt ist, was sagt uns dies über uns Menschen, oder über das Bild, das wir Menschen von uns selbst haben?

Es wäre müßig, die Liste des Negativen endlos weiterzuschreiben. Als nächstes wäre wahrscheinlich die Sage von Romulus und Remus an der Reihe, sozusagen das Kain-und-Abel-Pendant der Römer. Und von da immer weiter. Lieber will ich beobachten, wie sich parallel zum Sumpf eine Lichterkette des Guten durch die Schriften und Mythen zieht: Deukalion und Pyrrha als „mythologisches Gegenstück“ zur Arche Noah, oder Philemon mit seiner Frau Baucis, arme Leute in einer kümmerlichen Behausung, die als einzige Bewohner ihrer Stadt dem Gott Zeus Gastfreundschaft gewährten, als er inkognito auf Erden wandelte. Das Motiv hat sich bis in die Märchen der Neuzeit erhalten, und mitten drin Bethlehem. Auch das Gute, das dem Sumpf trotzt, auch das Anständige ist Teil unseres kulturellen Gedächtnisses, wiederum in unterschiedlichen Texten mit teilweise verblüffend ähnlichen Bildern. Freilich, der Anstand wohnt manchmal eher bei Einzelnen, während gleichzeitig das Negative Widerhall bei den Vielen findet. Auch dieser Kontrast zieht sich als roter Faden durch, vom Alten Testament und der Mythologie bis zur weißen Rose. Doch wenn es auch oft nur Einzelne sind: Die Lichterkette des Guten wurde nie unterbrochen und ist zu allen Zeiten dicht bestückt.

Was also ist der Mensch? – Deinós!

Der griechische Dichter Sophokles (497/496 v. Chr. bis 406/405 v. Chr.) ist Autor der Tragödie Antigone. Gewissen steht in ihr gegen Machtanspruch, und es wird einen physischen Sieger und eine moralische Gewinnerin geben. Die Zusammenfassung in Wikipedia ist übersichtlich und informativ. Die zeitlose Passage aus dem ersten sog. Standlied, auf die es mir hier ankommt, ist kurz und für den Ablauf der Tragödie im Prinzip eher Beiwerk. In diesem Fall jedoch bedeutet sie mehr. Indem der Dichter hier die Ambivalenz des Menschen in wenigen Versen so eindringlich bündelt, deutet er die bald heraufziehende Katastrophe an, und es drängt sich mir auf zu sagen: Katastrophen wie hier werden immer wieder auch die nachfolgenden Jahrtausende heimsuchen. Wie viel ahnte Sophokles voraus?

Ungeheuer (deinós) ist viel, lässt er den Chor sagen, doch nichts ungeheurer als der Mensch. Das ist der Kernsatz. Das Griechische fasst dabei die ganze Ambivalenz des Menschen in einen einzigen Wort zusammen: deinós (δεινός). Ein solches Wort wie deinós, das komplett gegensätzliche Eigenschaften verbindet, fehlt uns im Deutschen, und darum ist es in unserer Sprache schwierig, dem Inhalt dieser Zeile gerecht zu werden und zugleich sprachlich gefällig zu bleiben. Deinós bedeutet, dass etwas groß in die eine oder in die andere Richtung ist: mega-erhaben oder mega-brutal. In literarischen Übersetzungen hat die Gefälligkeit Vorrang vor der Genauigkeit, und deshalb finden wir deinós dort entweder einseitig als ungeheuer interpretiert, wie oben zitiert, oder es wird die optimistische Seite betont, die in deinós ebenso angelegt ist: groß, erhaben, bewundernswert. Auch diese Deutung ist einseitig, erst recht einseitig, würde ich sagen. Das Wort deinós ist genauso ambivalent wie der Mensch selbst. Mir kommt es dabei so vor, als seien „klare Verhältnisse“ im Deutschen wichtiger als in manchen anderen Sprachen? Sophokles jedenfalls, der Grieche, musste sich nicht festlegen, in welche Richtung er sein deinós verstanden haben wollte, und genau das begründet die besondere Wirkung, die sein Text auf mich ausübt. Ohne dieses Wort hätte er ihn so nicht schreiben können[ii].

Es folgt der wichtigste Ausschnitt aus dem Standlied, wobei ich die 200 Jahre alte, poetische Übersetzung von Friedrich Hölderlin verwende. Die Verse habe ich aus Raumgründen wie fortlaufende Prosa angeordnet:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheuer als der Mensch.
Denn der, über die Nacht des Meers, wenn gegen den Winter wehet der Südwind, fähret er aus in geflügelten sausenden Häusern.
Und der Himmlischen erhabene Erde, die unverderbliche, unermüdete, reibet er auf[iii]; mit dem strebenden Pfluge von Jahr zu Jahr treibt sein Verkehr er mit dem Rossegeschlecht, und leichtträumender Vögel Welt bestrickt er und jagt sie und wilder Tiere Zug und des Pontos
(=Meer) salzbelebte Natur mit gesponnenen Netzen, der kundige Mann.
Und fängt mit Künsten das Wild, das auf Bergen übernachtet und schweift.
Und dem rauhmähnigen Rosse wirft er um den Nacken das Joch,

und dem Berge bewandelnden unbezähmten Stier.

Es folgen in der Aufzählung menschlicher Leistungen das Denken, Sprechen und Regieren von Staaten, weiter die Baukunst, die Medizin. Und danach geht es weiter:

Von Weisem etwas, und das Geschickte der Kunst mehr, als er hoffen kann, besitzend, kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.  

Vor die Entscheidung gestellt

Auf Schlimmes oder zu Gutem kommen? – Wir stehen vor der Entscheidung, kollektiv und jeder für sich allein, an jedem Tag. Pico della Mirandola hat unsere Wahl großartig in Worte gefasst, vgl. meinen Zettel vom 12.2.2021: Der Mensch, sagt er sinngemäß, kann entweder im Dunkel versinken oder täglich danach streben, ein ethisch erhabenes Leben zu führen!

Deinós: Soll mich der Blick auf die letzten 3000 Jahre ernüchtern oder mir Mut machen? Nicht nur die menschliche Gattung ist deinós, jeder Einzelne ist es. Soll ich mich vom Dunkel schrecken lassen, davon entmutigen lassen, was andere tun oder unterlassen? Soll ich im Hinblick auf andere („die anderen“) aufhören, meinen Weg zu gehen?  Oder soll ich mich nicht lieber, so gut ich kann, unbeirrt am Lógos der Schöpfung und an der Kette der Lichtgestalten festhalten? An den Rosen im kalten Winter. Sie sind es, die die Welt zusammenhalten. Wenn man will, gibt es auch dafür ein Wort, in dem alles gebündelt ist: Weihnachten. Damit beantwortet sich für mich die am Anfang gestellte Frage, was die Welt immer wieder zusammenhält. Das ist keine Geschichtstheorie, aber (m)ein persönlicher Leitfaden.

Ich wünsche Ihnen ein helles Weihnachtsfest!

 

[i]Einen ebenso informativen wie unterhaltsamen Querschnitt bietet das 2021 im Duden-Verlag erschienene Buch von Rolf-Bernhard Essig: Phönix aus der Asche.

[ii]Sätze wie Ich bin schrecklich verliebt oder schrecklich sauer liegen zwar in der Nähe, aber es ist nicht das Gleiche. Denn der Ausruf du bist schrecklich, mit welchem dem Angesprochenen eine Eigenschaft zugewiesen wird, ist kein bisschen ambivalent. Schrecklich zu sein ist bis auf wenige Ausnahmen negativ.

[iii]Es ist nicht schwer, der Übersetzung je nach Wortwahl mehr oder weniger an Aktualität mitzugeben – immer eine schwierige Abwägung. Den 200 Jahre alten Text habe ich benutzt, um nicht zu viel aktuellen Sprachgebrauch in den Text hineinzulegen, obwohl das nach meinem Empfinden im Grunde nicht verkehrt wäre. Ein Beispiel: Statt die Erde „aufreiben“, findet man auch das Wort „die Erde ausbeuten“. Heute würde Sophokles das so ausdrücken. Aber der Antike war nicht allein das Wort fremd, sondern wohl auch das damit verbundene Denken – immerhin ein Sklavenstaat mit zudem rechtlosen Frauen. Und trotzdem sagt er ziemlich genau das aus: Der Erde so lange ihre Gaben entreißen, bis sie irgendwann doch nicht mehr kann, die eigentlich unermüdete.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 07.12.2021

Dr. Christian Thieme

Impfen, Stand 12/2021

Irgendwann platzt jedem mal der Kragen. Seitdem ich mich am 18.6. an dieser Stelle dafür eingesetzt habe, in der Diskussion um das Impfen mehr reflektierte Sachlichkeit walten zu lassen, hat sich die Welt mehrfach gedreht. Die Heftigkeit der Epidemie ist schier außer Kontrolle geraten, und mit ihr die Stimmung im Land. Ein ruhiger Dialog ist kaum noch möglich, und der Spruch in der Ruhe liegt die Kraft wird von manchen Verantwortlichen so verstanden, als läge die Kraft im Nichtstun.

Übrigens zur Klarstellung: Ich spreche richtigerweise von Epidemie und nicht von Pandemie. Letztere haben wir natürlich weiterhin, weil Corona weltweit praktisch alle Länder im Griff hat. Unser Problem jedoch ist nicht die Tatsache der weltweiten Verbreitung, weil sich mit ihr nicht die hausgemachten Probleme entschuldigen lassen – darum sage ich Epidemie.

Was sehen wir: ein Panoptikum der inkompetenten Eitelkeiten. Wie wohltuend wäre es, wenn heute Erasmus von Rotterdam wiederkäme und seine Satire vom Lob der Narrheit neu schriebe, gemünzt auf die heutige Zeit und speziell auf den Umgang mit der Seuche.

Der Klerus hätte dabei nichts zu befürchten, denn wer nichts tut, macht garantiert auch keine Fehler. So gesehen bieten die Kirchen keinen Anlass zur Kritik und müssen nicht weiter beachtet werden. Schade ist das. Sichtbare Teilnahme und Präsenz, von vielen immer wieder moniert, täte besser, auch wenn dann Fehler passieren.

Die anderen Akteure, also Politik, Wissenschaft und Medien, lassen sich nur gemeinsam betrachten. Da mir die Qualitäten von Erasmus fehlen, werde ich dabei ernst bleiben, aber nicht diplomatisch.

Aquarell Gemälde von Thieme, Nachtrag zum Impfen

Kritisieren ist leicht, wenn man nicht in der Verantwortung steht!

Natürlich! Und mehr noch: Nicht nur Vorhersagen, sondern auch politische Entscheidungen haben den Nachteil, dass sie sich auf die Zukunft beziehen. Aus diesem Grund werde ich keine Zeile und kein Wort zu einzelnen Entscheidungen verlieren, die sich im Nachhinein als falsch oder unnötig erweisen, oder die man im Nachhinein gesehen damals hätte treffen sollen.

Meine Kritik richtet sich gegen Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Opportunismus, wie sie sich unter Corona so gnadenlos offenbaren wie selten zuvor. Deswegen, allein deswegen platzt mir der Kragen.

Ganz oben der Minister und die Länderchefs

Wer den (während ich schreibe) gerade noch amtierenden Minister aus der Nähe beobachten musste, konnte seinen blinden Fleck vom ersten Tag an beobachten: Ihm fehlt das Gefühl dafür, dass sich Gesetze und Verordnungen ihren Weg nicht selber freischießen wie Desperados, die sich auf den Weg machen, um ihrem Boss die Kiste mit den Goldbarren zu holen. Vorgaben müssen realistisch und umsetzbar sein, sonst taugen sie nichts. Anfangs konnte der Minister glänzen als der „Macher“, der endlich einmal … usw. Bevor ihn das resultierende Fiasko wirklich erreichen konnte, hat ihn Corona gerettet – zunächst: Gut, dass wir den Macher mit den starken Worten haben. Die Popularität ging quasi durch die Decke. Relativ bald aber fing sie an zu bröckeln. Inzwischen hat auch der letzte verstanden, dass die mentale Schnittstelle des Ministers mit der Ankündigung oder Anordnung von etwas erreicht ist: Nach der Ankündigung die Sintflut, und die hat er immer wieder erlebt. Schwimmen konnte er offenbar.

Dazu der Föderalismus. Die Gründe gegen den zentralistischen Staat sind einerseits überzeugend. Aber ein Föderalismus, der nur bei Sonne funktioniert – also auf den könnte ich verzichten. Nein, nicht abschaffen. Aber die Feigheit und den Opportunismus einiger Länderchefs will ich nicht länger ertragen müssen. Ich bleibe allgemein, nicht aus eigener Feigheit, sondern aus einem Rest von Taktgefühl heraus. Und auch, weil ich nicht für jede*n monatlich eine Schulnote vergeben will – es gab auch schon sehr respektable Auftritte, und die Probleme kann jeder selbst sehen. Selbstkritisch frage ich mich: Bin ich denn auch ein solcher Wähler, der sie zu dieser Feigheit veranlasst? Dann sage ich hiermit: Beendet euren jämmerlichen Dauer-Opportunismus, dann unterstütze ich euch bei eurem schwierigen Job trotzdem bzw. erst recht!

Und ach, die Wissenschaften…

Am eigentlichen Missstand kann aktuell niemand etwas ändern: Wir haben in Deutschland keine wissenschaftliche Tradition und keine Kernkompetenz im Fach Public Health. Die Übersetzung mit Öffentliche Gesundheit wäre irreführend. Sie läge zu nah am Öffentlichen Gesundheitsdienst ÖGD, der im Kern andere Aufgaben hat, wenn auch mit Schnittmengen.

Und weil das so ist, fragen die Medien reihum alle (möglichen) Experten, die Experten für jeweils irgendetwas sind, aber gerne auskunftsbereit zu allem, wonach sie gerade gefragt werden. Oder gleich ungefragt, wenn keiner was wissen will. Virologen, Epidemiologen, unter ihnen mathematische Modellierer, Intensivmediziner, situativ die Ärzte aller weiteren Fachrichtungen – alles wichtige Disziplinen, solange sie ihre Grenzen beachten. Auch hier gilt: jeder kann das kümmerliche Spektakel selbst anschauen.

Nur ein einziges Beispiel: Da gibt es den Direktor eines Instituts an einer eher zweitrangigen westdeuten Universität, mit Namen Streeck, dessen steiler medialer Aufstieg an eine noch unfertige Studie geknüpft war, deren Aussage dem damaligen Ministerpräsidenten hoch wollkommen für seine politischen Ziele war. Später hat man von der Studie nichts mehr gehört, und auch der betreffende Politiker spielt aktuell keine Rolle mehr. Aber an die Präsenz des Wissenschaftlers hat man sich gewöhnt. Kürzlich ließ er sich damit zitieren, dass der (in jenen Tagen gerade beobachtete) geringe Rückgang der Inzidenz ein sehr gutes Zeichen sei. Den berechtigten medialen Kommentar, dass es in der Epidemiologie ein typischer Anfängerfehler sei, in einer derart heterogenen Situation den globalen Durchschnittswert der Inzidenz zu interpretieren, hat er postwendend eingefangen.

Oder der frühere Radiologe am UKE in Hamburg, eigentlich berufsmäßiger Standesvertreter, jetzt Präsident des Weltärztebundes. Seinen Einstand gab er damit, dass er sich per Talkshow öffentlich über die Maskenpflicht als Schutz vor Ansteckung lustig gemacht hat. Später hat man ihn ausdrücklich für seine Lernfähigkeit gelobt. Also ich weiß nicht: Wenn ein Chirurg zuerst dreimal den Daumen statt der großen Zehe amputiert, bis er es begriffen hat – lernfähig? Und welche formale Kompetenz legitimiert ihn, auch nur ein Wort zu sagen? Weltärztepräsident ist nicht Weltmeister. Das Amt prädestiniert nicht für die Aufmerksamkeit, die der Mann beansprucht.

Am 18.6. hatte ich mich an dieser Stelle noch bemüht, das Ansehen und die genuine Zuständigkeit der STIKO und ihres Vorsitzenden, Prof. Mertens, für Fragen des Impfens hochzuhalten. Momentan nehme ich, wenn ich STIKO sehe, den bräsigen Trotz eines alternden Mannes wahr, der sein Alter geradezu gezielt und als optisches Erkennungszeichen vor sich herzutragen scheint. Der per Talkshow durchblicken lässt, welche Entscheidung er demnächst bekanntgeben wird, um zugleich einfließen zu lassen, dass er selbst ihr nicht folgen würde – eine Zumutung. Und der sich zugleich medienwirksam zur Frage einer Impfpflicht äußert, obwohl dies außerhalb seiner Zuständigkeit per STIKO und außerhalb seiner wissenschaftlichen Kernkompetenz als Virologe liegt – lauter kleine Bausteine, um noch den letzten in Deutschland verrückt zu machen. Ei freilich, mag er einwenden, warum darf ich das als Bürger nicht tun? – weil es einen irreführenden Gebrauch Ihrer fachlichen Autorität darstellt, lautet die Antwort.

Ein einziger Wissenschaftler ist mir bisher medial begegnet, der von Anfang an zurückhaltend agiert, weil sein Wissen von selbst leuchtet, und der dort, wo Politik gefragt ist, klar sagt, dass hier Politik gefragt sei und nicht er als Wissenschaftler. Jeder kann erraten, wer gemeint ist.

Was aber passiert, wenn tatsächlich die Politik gefragt wird! Mit dem Spitzenpersonal waren wir schon durch, aber es gibt ja auch die zweite und dritte Reihe. Da ist die gelbe Partei, die bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts stets auf Seiten der Spaßfraktion stand und sich jetzt mühsam neu ordnen muss. Ja, sagt einer ihrer designierten Amtsträger gerade in der Talkshow, er könne sich die Impfpflicht schon vorstellen. Am besten nur für die über 60, weil die das höhere Risiko hätten. Ja, guter Mann, haben Sie es immer noch nicht begriffen? Es ist objektiv nicht einfach für die Wissenschaft, auf die Politik zu verweisen, wenn auf der anderen Seite solche Leute sitzen…

Infotainment als Treiber von allem

Die Talkshow als zentrales Element der Meinungsbildung. Oder der Kakophonie. Es gibt genügend Medien, um jedem, der für irgendwas habilitiert ist, für alles Mögliche ein Forum zu bieten. Journalismus lebt von der Kontroverse, das lässt sich nicht ändern. Was aber ist eine Kontroverse?

Corona konfrontiert die Öffentlichkeit mit Fragen (und manchmal tatsächlich Kontroversen), die irgendwo über den Köpfen der Allgemeinheit stattfinden. Zur Frage, ob wir eine Umgehungsstraße in Kleinkleckersdorf wollen oder nicht, kann und soll jede*r betroffene Bewohner eine Meinung haben. Ja, Meinung: Bei Corona gibt es die auch. Aber es ist nicht alles Meinung. Es gibt auch Fakten, und zwar auch dann, wenn nicht alle sie verstehen. Wie gehen die Medien damit um? Sagen wir so: Es gibt genügend exzellente Beispiele für guten Journalismus. Aber die Sucht oder Notwendigkeit, immer wieder eine interessante Talk-Runde zusammenzukriegen, dazu die Art, im Gespräch so zu fragen, als könne man dadurch etwas auf den Punkt bringen, wenn es den Punkt überhaupt noch nicht geben kann, all das destabilisiert das Vertrauen ins Gesamtsystem. Anregungen für verzichtbare Talk-Gäste habe ich soeben geliefert, pars pro toto.

Drosten (jetzt nenne ich mal den Namen) hat ganz am Anfang schon versucht zu erklären, wie Wissenschaft funktioniert. Wie Hypothesen entstehen, wie sie geprüft, verworfen und durch neue ersetzt werden. Das passt nicht zum Prinzip der Schlagzeile. Wie schön wäre es, wenn dieser mühsame und skrupulöse Prozess der seriösen Wissenschaft nie mehr als „Kontroverse unter den Fachleuten“ ausgeschlachtet würde.

Wünsche fürs nächste Jahr

Weniger Selbstdarstellung, weniger Eitelkeit, weniger politische Heuchelei, mehr Zurückhaltung, mehr Besinnung auf die Grenzen der eigenen Kompetenz. In ihrer Weiterbbildung zum Spezialisten lernen Ärzte das zu respektieren, weil sie erkennen, wo die Vorteile liegen. Vor der Kamera haben manche alle Demut und Zurückhaltung vergessen. Und nicht nur manche Ärzte.

Und die Politik? Mehr Fortschritt will die Ampel wagen. Es wäre schon geholfen, wenn sich alle darauf rückbesinnen könnten, wieder mehr Politik zu wagen. Im Föderalismus betrifft diese Kritik ja immer irgendwie alle, weil meistens alle irgendwo beteiligt sind. Wenn die Politik weiter so agiert wie 2021, braucht sie sich über das Wagnis Fortschritt bald keine Gedanken mehr zu machen. Statt Fortschritt zu wagen, könnten wir bald miterleben, wie die Grundlagen und Grundwerte unseres Gemeinwesens, die im Idealfall von allen Bürger*innen geteilt werden, immer weiter erodieren oder stellenweise gleich ganz zerschlagen werden. Was der heilige Sankt Demokratius verhindern möge.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 24.11.2021

Dr. Christian Thieme

Trauer, staatlich verordnet?

Wahrscheinlich haben wir uns auch in diesem Jahr verfehlt. Oder sie waren vielleicht gar nicht da? Vermutlich werden sie ja auch jedes Jahr weniger. Dann müssen sie genau überlegen, wohin sie noch gehen und wohin nicht, weil es sich dort weniger rentiert. Auf der Straße zufällig einem zu begegnen, ist sowieso unwahrscheinlich geworden, seitdem ich weniger herumkomme. Irgendwie bin ich ganz froh darüber, denn wenn wir uns verfehlen, erspart mir das jedes Mal die Auseinandersetzung mit meinen sich wandelnden Überzeugungen. Eitelkeit will schließlich keinen Wandel und vor allem nicht eines Besseren belehrt werden. Und der Verstand? Er erkennt zwar einerseits an, dass das, was er vor Jahrzehnten vertreten und manchmal verfochten hat, heute nicht mehr zu ihm passen will, der Inhalt nicht und die Rigorosität noch weniger. Aber wirklich zufrieden macht ihn dieser Gedanke auch nicht.

tonkrug

Zum Bild: Die Idylle seiner Heimat, erlebt und gezeichnet von unserem Onkel Seppi. In den letzten Kriegswochen verlor er sein blutjunges Leben, qualvoll und einsam.

Rückblick

Im Jahr 1965 wusste ich noch ganz genau, was richtig sei und was falsch. Und weil ich im Leben noch wenig Eigenes erlebt hatte, hatte ich keinen Grund, an irgendeiner meiner Erkenntnisse oder Positionen zu zweifeln. Rückblickend erstaunt und erschreckt es mich, wie viele Gewissheiten und wie wenig Zweifel mir bis dahin vermittelt worden waren. Intellektueller sein? – Ich bin der Geist, der stets verneint, hörte ich dazu. Ein Faust, der sich benutzen ließ, das eigenständige Denken zu brandmarken, war nicht geeignet, mein Interesse zu wecken. Heute weiß ich es besser, aber ein tiefes Grummeln, wenn ich Goethe höre, werde ich wohl nie mehr ganz abschütteln können.

Wenn aber das Zweifeln nicht gelehrt und folglich gelernt wird, gibt es für jedes komplexe Problem eine Antwort, die einfach direkt und falsch ist. Mit 18 war es für mich eine Frage der Ehre, den Kriegsdienst zu verweigern. Allein schon wegen der entwürdigenden Prozedur, bei der Personen, deren moralische Legitimation mir unbekannt war (und noch heute ist), in einem Verwaltungsverfahren mit Anhörung des Delinquenten – so war mir zumute – zu prüfen hatten, ob ich denn wirkliche Gewissensgründe vorzubringen hätte. Unsäglich. Dazu kursierten natürlich Listen mit den "richtigen" Antworten auf die angeblich zu erwartenden Fangfragen, die so vielleicht nie gestellt wurden, oder ein einziges Mal, und von da weg als Horror durch die Blätter spukten. Ich jedenfalls bekam keine davon gestellt. Rückschauend denke ich mir, dass dieses Verfahren den beiden auf der anderen Seite ebenso unangenehm gewesen sein muss wie mir. Die Fragerei drehte sich im Kreis, und die beiden versuchten wohl, aus mir irgendeinen Satz herauszubringen, den sie wohlwollend aufschreiben konnten, um mich dann laufen zu lassen. Ich hatte mich auf das Gespräch nicht vorbereitet, weil ich darauf vertraute, mich am Ende schon erklären zu können, ohne auswendiggelernte Phrasen. Das hat es wohl für die Gewissenserforscher schwer gemacht. Irgendwann platzte mir dann der Kragen und ich erklärte: Ich frage sie doch auch nicht, warum sie mir jetzt nicht hundert Mark wegnehmen. Das war so hilflos wie wirkungsvoll, sie konnten es aufschreiben, wohl mehr die Erregung als das Argument, und ich war ab da ein behördlich anerkannter Gewissensgründebesitzer.

Gute zwanzig Jahre später kam es zum zweiten Kontakt mit der Bundeswehr. Sie hatten mich eingeladen, für einen Lehrgang in der Sanitätsakademie ein Thema zu übernehmen, und ich sagte zu. Nun, der erste Moment war Horror. Der grüßende Wachsoldat an der Einfahrt, der mein Dokument zu prüfen hatte: Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt. Ich hielt durch, fand meine Veranstaltung, erwartete dort Soldaten, und traf --- Menschen. Abgesehen von der Kleidersprache, die ich bis heute nicht lesen kann, waren sie wie ich. Mit Interessen, mit kleinen Geschichten, mit Humor, allerdings damals zugleich sichtbar verstört. Zumindest, wenn ich gezielt nachfragte. In Serbien war soeben die NATO in den Krieg eingetreten… Ich war gerne bei ihnen, etliche Jahre lang und jeweils für einen Nachmittag.

Nochmal später begegnete mir auf der Straße der Mann mit der Sammelbüchse, ein freundlicher, älterer Herr in Uniform, offenbar in einem Offiziersrang. Kriegsgräberfürsorge. Nein, ich möchte dafür nichts spenden. Nach etlichen Metern bin ich umgekehrt. Der Offizier hat mir plausibel erklärt, warum er hier steht und sammelt, und mir schien es so, als wäre ihm der Dialog fast wichtiger als die paar Kröten, die so eine Sammelbüchse einspielt und zu denen ich am Ende beigesteuert habe. Was da geleistet wird, hat mich der friedenschaffenden Intention wegen überzeugt, einerseits. Obwohl andererseits die Tatsache bestehen bleibt, dass deutsche Soldaten das Werkzeug für schlimmstes Unheil waren und dieses teilweise auch individuell und vorsätzlich angerichtet haben.

Volkstrauertag, so oft schon umgedeutet

Seit jener Begegnung, die nun auch schon wieder etliche Zeit zurückliegt, spüre ich meinen Empfindungen nach. Fertig bin ich noch nicht, und darauf bezieht sich die Einleitung. Ich sehe, wie oft an diesem Gedenktag in den hundert Jahren seines Bestehens gedreht wurde, alles geändert wurde, was man nur ändern kann: Termin, Bezeichnung und Inhalt. Die Intention der frühen Weimarer Demokraten war wohl eine ähnliche wie heute: Ein mahnendes Gedenken, das freilich zunehmend mit nationalistischer Brühe übergossen ward, bis schließlich die Nazi-Regierung den Tag gänzlich und offiziell für ihre niedrige Ideologie beschlagnahmte.

Gerne möchte ich heute auf meinen Staat und die Bürger-Armee Bundeswehr – bis zum Übergang zum Berufsheer war sie es jedenfalls, auch wenn ich mich ihr damals entzogen habe – vertrauen und an die Lauterkeit der heutigen Motive glauben. Und dann gehe ich durch das Land und sehe allenthalben die Gedenktafeln für die Gefallenen, die ihr Leben für ihr Vaterland gelassen haben. Tote über Tote, in jedem Dorf. Entsetzen, plastisch. Aber war es für ihr Vaterland? – es war es nicht. Auf einer dieser Tafeln steht wohl auch der Name des kleinen Bruders meiner Schwiegermutter, der in den letzten Kriegswochen nicht "gefallen" ist, sondern im Lazarett elendiglich zugrunde ging --- nicht für sein Vaterland und nicht für seine Heimat! Wie tragfähig ist die Decke, so frage ich mich, mit der der nationalistische Irrsinn heute zugedeckt ist? Bei uns und auch bei den Nachbarn? Wie wirkmächtig ist die gefühlte Kontinuität eines patriotischen Heldentums von 1914 bis heute?

Was also bedeutet mir ein Trauertag, den mein Staat zwar als stillen Tag schützt, ohne aber konkret werden zu wollen, welchen Vorgängen und Menschen mein Gedenken konkret gelten möge? Gründe zur Trauer gibt es genügend. Aber Trauer über alle und alles auf einmal? Trauer ohne Mitgefühl verpufft. Sechs Millionen Juden ermordet? – dafür hätte ich meine Hand niemals gereicht. Was ich damit sagen will ist: Vorsicht mit zu viel Überzeugt Sein von sich selbst und der eigenen Trittsicherheit. Ethik ist häufig eine stille, unspektakuläre Angelegenheit. Im Kleinen muss sie sich beweisen!

Ethik braucht Mitgefühl, und Mitgefühl braucht konkrete Personen, auf die es sich richten kann, braucht Einfühlen und Phantasie. Es fehlen dazu die konkreten Impulse "von oben". Also muss ich selbst was tun, von "unten". So denke ich an unseren Onkel Seppi und die weiteren Kriegstoten meiner Familie. Von diesen Einzelnen ausgehend dehnt sich mein Gedenken immer weiter aus und erfasst in konzentrischen Kreisen Stück für Stück die Menschen, die Irrtümer, den ideologischen Wahn, das Elend, die Verlogenheit vorher und nachher und alles, was sonst noch "dazugehört".

Trauer, "individualisiert"

So, wie ich sie hier beschreibe, ist die Trauer für mich fassbar. Sie ist zugleich sehr persönlich und hoch politisch. Sie gilt Menschen und Verhältnissen. Und vor allem: Sie bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. Sie springt von damals über zu den Zinksärgen, die aus Afghanistan zurückkamen, sucht nach der Balance zwischen dem menschlichen Leid hier und dort, und verzweifelt an der Unmöglichkeit, das Gute vom Falschen zu unterscheiden. Um Gut oder Böse geht es ja nur manchmal. Manchmal eher um den Konflikt zwischen Gut und Gut gemeint. In Afghanistan gebe es keine Korn Reis und keinen Tropfen Öl mehr, las ich dieser Tage. Was ist gut? Ja klar, der Waffenhandel… – Trotzdem kann ich graben, so tief ich will. Einfache Antworten sind nicht verfügbar. Meine Trauer bleibt demütig, nicht angreifend oder überheblich.

Trauer um die Überlebenden

Was hätte unseren Onkel Seppi erwartet, wenn er die letzten Monate des Infernos irgendwie überlebt hätte? Sagen wir, mit allen Gliedmaßen und zwei sehenden Augen. Und vielleicht mit einer zertrümmerten Seele, um die sich zu kümmern damals keiner die Muße hatte. Wiederaufbau war angesagt, Leistung, Zähne zusammenbeißen. Die Pflegenden in den Heimen wissen von den nächtlichen Qualen zu berichten, wenn der Krieg die alten Soldaten-Männer und auch Zivilisten-Frauen und Kriegskinder nachts heimsucht, und sich im Traum immer wieder alles bahnbricht, was Jahrzehntelang nicht raus durfte! Inzwischen werden die unmittelbar Betroffenen weniger. Aber ich weiß es noch aus erster Hand, von meinem Vater. Ja, Trauer ist persönlich. Und urplötzlich erfasst sie auch mich, das Nachkriegskind, und stellt mich auf den Prüfstand: Wie bin ich damals mit meinem Vater umgegangen, in der Arroganz der Jugend?! Ich werfe mir nichts vor, aber ich erkenne es. Es gab für ihn und mich keine Alternative, wir mussten da durch. Trauer braucht manchmal keine Schuld, nur Erkenntnis. Übrigens gab es zwischen ihm und mir ein happy end, aber darauf kommt es hier nicht an.

Trauer über das Unfassbare

Trauer brauche keine Schuld? Manchmal. Doch dem Grunde nach sind beide eng verflochten, auch für mich. Der Monat November bündelt das grausige Gedenken, und neben bzw. vor die Kriegstoten treten die ermordeten jüdischen Mitbürger hier und in ganz Europa. Auch hier brauche ich zuerst das Gedenken im Kleinen und von da ausgehend die konzentrischen Kreise. Bevor ich die Zahl 6 Millionen denken kann, muss ich an die jüdische Familie denken, die sich vielleicht ein paar Häuser weiter gerade noch in Sicherheit bringen konnte, in die Ungewissheit eines neuen Lebens, oder meistens nicht einmal mehr das. Und mich quält (!) der Gedanke an die millionenfache Feigheit der Unbeteiligten und Mitläufer, von denen vielleicht auch ich einer gewesen wäre. Die Weiße Rose an der Münchner Universität ist zugleich Edelstein unserer Geschichte und Pfahl im Fleisch der kümmerlichen Durchschnittsangst, wohl auch meiner. Hätte ich mich als Briefträger geweigert, den Räumungsbescheid gegen den Zahnarzt von dort drüben zuzustellen? Dafür meine Stellung riskiert, mindestens sie? Zugestellt wäre er doch worden. Wenn aber alle …– es ist das uralte Dilemma. Ich kann nur empfehlen, eine der viel zu seltenen Dokumentationen über jüdische Einzelschicksale zu finden und zu lesen. Für mich war die Konfrontation mit solchem Material der Zündfunke, um wirklich trauern zu können, auch über mich, meine Ohnmacht und im Zweifelsfall auch Feigheit (?). Macht Trauer immun gegen sie? Hoffen ist erlaubt.

Oder wenigstens immun gegen Gedankenlosigkeit? Immer noch hört man das böse Wort vom "Halbjuden", ebenso zählebig wie dumm. Vielleicht nicht mehr so oft hört man es, aber es ist da. Ich suche nach einem Vergleich, und finde keinen: Halbaraber würde keiner sagen. Das wäre scheinbar, aber wirklich nur scheinbar, ein Vergleich. Es ist keiner, weil Juden kein Volk in irgendeinem herkömmlichen Sinn sind. Vielleicht in ihrem theologischen Selbstverständnis, da lehne ich mich nicht aus dem Fenster, und es spielt auch keine Rolle. Juden sind Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die böse oder gedankenlose Rede "Juden und Deutsche" ist nicht auszurotten. Die irreale Unfassbarkeit dieses erfundenen Gegensatzes war auch der Grund, warum viele Jüdinnen und Juden als bis dato hoch geachtete und vielleicht sogar im Weltkrieg dekorierte Mitbürger viel zu spät erkannten, in welcher realen Gefahr sie ab 1933 plötzlich schwebten. Dass Jude und deutsch urplötzlich zum Gegensatz gemacht worden war. Und heute, in meiner Zeit? Jüdische Menschen müssen weiterhin die bittere Erfahrung machen, dass jener irre Gegensatz für nicht wenige Landsleute ungebrochen fortbesteht. Darüber kann/will/muss ich trauern, aber es bietet mir auch Stoff zum Handeln.

Gegen Antisemitismus und Rassismus! Beide Anliegen sind mir wichtig. Wenn aber die Verbindung beider im Denken zu eng wird und sie im guten Bemühen ineinanderfließen, wird mir trotzdem mulmig. Der Schutz unserer jüdischen Mitmenschen, ihrer Kultur, ihres Andenkens hat einen besonderen Stellenwert, unabhängig von der Bekämpfung jeder Art von Rassismus. Wir haben unsere jüdischen Landsleute aus unserer eigenen Mitte hinausgeprügelt und die meisten von ihnen ermordet. Jetzt hoffen wir darauf, dass sie zurückkommen und uns nochmals vertrauen. Können sie?

Juden in unserer Geschichte und Gegenwart: Einen Schlussstrich kann es nicht geben. Die Baustellen sind weiterhin gefährlich und ungesichert.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 28.10.2021

Dr. Christian Thieme

Verlust der Wahrheit! --- oder: zurück zur Natur.

Wenn wir uns in dreißig Jahren wieder unterhalten, werden wir vielleicht gemeinsam feststellen, dass die späten Zehner und beginnenden Zwanziger Jahre den Wendepunkt markieren, ab dem die Wahrheit als Ideal aufgehört hat zu existieren. Noch aber ist nichts entschieden, und deswegen schreibe ich…

Teil 1: Schadensbilanz
Der Begriff Wahrheit hat es wahrlich in sich. Schon die antike Schule der Skeptiker hat das Problem auf die Spitze getrieben, indem sie jede vermeintliche Erkenntnis solange hinterfragte, wie beim "warum" eines dreijährigen Kindes, bis der Gesprächspartner schreiend aus dem Tempel rannte – ich übertreibe. Aber selbst die Skeptiker, die vom philosophischen Standpunkt her die völlige Unsicherheit jeder vermeintlichen Erkenntnis propagierten, wussten selbstredend den Alltag zu meistern. Hatten sie ein Gefäß aus Ton in der Hand, war ihnen natürlich so klar wie Ihnen und mir, was passiert, wenn sie es fallen ließen, auch wenn der Philosoph in ihnen wollte, dass sie am Gesetz der Schwerkraft wie an jedem anderen Gesetz grundsätzlich zweifelten.

tonkrug

So kann ein Philosoph die Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen, zwar prinzipiell in Abrede stellen, und doch in der Praxis ein vernünftiger Partner sein, sowohl zwischenmenschlich als auch im politischen Raum, weil er im Alltag die philosophische Ebene verlässt und pragmatische Konventionen akzeptiert – was sollte er auch sonst tun! Bezeichnet er diese als Fakten, so ist der Punkt ganz gut getroffen: Fakten transportieren keinen absoluten Anspruch, wie Wahrheit es tut, aber sie sind von dem anständigen Bemühen getragen, immer dort zu sein, wo Wahrheit nach bester Überzeugung vermutet wird. Diese Schadensbilanz geht aus vom politischen Raum. Nachhaltige Abhilfe jedoch, so meine These, wird sich auf ihn nicht beschränken können. Mehr dazu steht skizzenhaft im zweiten Teil: Zurück zur Natur.

Alternative Fakten
Bis vor wenigen Jahren hätte kaum einer den Sinn dieser Einleitung verstanden. Heute ist es anders. Wir erleben, wie Fakt und Fiktion immer weiter verschwimmen, wie sie manchmal ununterscheidbar werden, weil prominente Meinungsmacher es so wollen. Die Alternativen Fakten sind zum stehenden Begriff für "Fakten" geworden, die nach aller pragmatischen Vernunft Bullshit statt Fakten sind. Längst macht davon nicht mehr nur ein einziger Spitzenkönner der Verdrehung und Manipulation Gebrauch, sondern allein in der höchsten Liga treiben bereits etliche Gleichgesinnte ihr kongeniales Unwesen, Tendenz wohl steigend. Und um sie herum formiert sich die Armada von kreativen Beratern, Leihmäulern und Hackern, deren Gehirne täglich mehr Lügen ersinnen, als besorgte und wohlmeinende Journalisten mit immer neuen Faktenchecks wegschaffen können. Wenn das Streben nach Wahrheit verschwindet, machen die alternativen Fakten sich‘s hämisch grinsend bequem neben den seriösen.

Das ist tatsächlich neu: Ein Weltenlenker und Spitzenpolitiker wird der tausendfachen Lüge überführt, ohne dass Ruf und Ansehen leiden, zumindest nicht bei den Anhängern! Einer gefühlten Mehrheit ist die Suche nach Wahrheit egal geworden! Sie will gute Geschichten statt seriöser Fakten. Bisher galt stets der Spruch aus dem 16. Jhdt., Mundus vult decipi, ergo decipiatur – das Volk will betrogen werden, also führe ich es an der Nase herum. So sprach seit jeher der Mächtige zu seinem Volk, hoffend, dass letzteres nichts bemerkt. Aber jetzt passiert es! Plötzlich antwortet das Wahlvolk anders! Erzähl du uns ruhig Bullshit, sagt es, solange das "die anderen" ärgert, gefällt es uns!

Das Wort "Faktencheck" wurde zum Symbol der Hilflosigkeit der Anständigen. Ja, warum konnte man die Sache nicht nach spätestens einem Jahr beenden und sagen: "OK, dieser Präsident lügt. Das wissen wir nun, und was tun wir jetzt?" Diese Frage wurde nicht radikal gestellt und erst recht nicht beantwortet. Und es gibt das gleiche Problem auf allen Kontinenten. Die (vielleicht sowieso nur vorübergehende) Abwahl von diesem einen löst daher für sich genommen gar nichts.

Niedergang der Kritikfähigkeit
Jemand behauptet, er könne einen Ball 200 Meter weit werfen. Bei der Probe aufs Exempel schafft er nur 20 Meter. Der Pragmatiker erklärt die Sache damit für erledigt. Der philosophische Skeptiker könnte aus seiner Sicht noch argumentieren, dass damit nichts bewiesen sei, denn gezeigt wurde doch nur, dass es diesmal nicht funktioniert hat. Und würde der Versuch hundertmal wiederholt, bekäme man hundertmal jenes diesmal nicht… zurück. Der Faktenverdreher hingegen "argumentiert" ganz anders: Ich weiß, dass ich 200 Meter geworfen habe. Wenn die Messung etwas anderes ergeben hat, ist sie falsch. Bisher musste man sich mit solchem Unsinn nicht weiter aufhalten, weil sowohl Gewählte als auch Wahlvolk ein Gespür für Nebelkerzen besaßen. Und was das Wahlvolk nicht goutiert, meiden die zu Wählenden – jedenfalls insoweit es sichtbar würde. Der Lüge überführt zu werden, hatte bisher etwas Peinliches an sich. Wenn aber das Streben nach Wahrheit kein Ziel mehr ist, haben Logik und Kritikfähigkeit keine Chance mehr. Und passend hierzu wird ja auch kaum noch argumentiert. Was bei Schopenhauers Eristischer Dialektik noch als letzter Kunstgriff der streitigen Disputation beschrieben ist, ist im Begriff, zum Regelfall zu werden:

Wenn man merkt daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird; so werde man persönlich, beleidigend, grob (Die Schreibweise ist authentisch, damit nahm es der Meister pedantisch genau).

Der Charme des Geheimtipps
Nichts ist für das eigene Ego so zauberhaft wie die Zugehörigkeit zu einem auserlesenen Kreis. Sogenannte Nachrichtenkanäle, die Inhalte dubioser Herkunft verbreiten, zielen auf genau dieses Bedürfnis ab. Nebenbei gesagt stecken in diesem Satz bereits zwei beschönigende Untertreibungen. Erstens sind es keine sogenannten Nachrichtenkanäle, denn sie werden nicht so genannt, sondern möchten gern so genannt werden und nennen sich zu diesem Zweck erst einmal selber so. Und zweitens sind die Inhalte nicht nur dubios, sondern erlogen. Dubios sagt die journalistische Sorgfalt, und auch die Rechtsstaatlichkeit will es so. Die Herstellung der Insider-Fiktion, bei den Erwählten dabei zu sein, ist ein wichtiger Vertriebskanal für Lügen.

Saubere Quellen vergiften
Fakt und Fake, schon die Ähnlichkeit der Wörter ist Gift. Das Ziel: Rundum die Ununterscheidbarkeit von Information und Desinformation herstellen! Diskreditierung der seriösen Medien! Das alles ist bekannt, aber es gehört zur Schadensbilanz. Sind die seriösen Quellen erst vergiftet, werden Lügen und ihre Vertriebskanäle unangreifbar, weil immun gegen Entlarvung. Der Schaden ist deshalb so gewaltig, weil in Zeiten, da sogar ganze Videos Fälschungen sein können, das Vertrauen in die Quelle manchmal zum letzten Kapital des Anstands wird!

In guter Gesellschaft sein!
Wenn schon nicht in guter, dann wenigstens in zahlreicher. Insider sein, einer der Auserwählten, aber trotzdem nicht einsam! Bestätigung erfahren! Die sogenannten Bots (von Roboter abgeleitet) leisten das: Vom Computer erzeugte, manipulative Kommentare, die sich als reale Personen ausgeben. Sie runden das Marketing-Portfolio der Lügner und Verdreher nach unten ab. Freilich ist nicht alles verkehrt, was in den sozialen Netzen zirkuliert, das behauptet keiner. Die unklare, für den einzelnen kaum erkennbare Mischung jedoch ist das Problem, und dazu vor allem das Desinteresse vieler, Fakt und Fiktion noch irgendwie entflechten zu wollen. Das Thema ist tausendfach besprochen, aber es gehört in die Auflistung, sonst wäre sie unvollständig.

Schnitz dir deine Welt!
Augmented und Virtual Reality: Die Computertechnik wird immer potentere Werkzeuge liefern für Menschen, denen die Wirklichkeit so, wie sie ist, nicht gefällt. Ein grüner Wald anstelle des verdorrten hier? – Kein Problem, und klick, da ist er schon. Die Entwicklungen stehen am Anfang, aber der Weg ist absehbar. Auf den ersten Blick scheint es vielleicht nicht ersichtlich, was diese technische Spielerei in der Schadensbilanz verloren hat. Doch ich halte auch sie für einen – andersartigen, aber sehr relevanten – Indikator für das nachlassende Interesse an Wirklichkeit und am Ziel der Wahrheit. Der haptische Bezug zur Welt verkümmert, und zwar von Kindesbeinen an, wenn die Maus dazwischentritt. Wir befinden uns auf dem Weg zurück zu Petrarca, ich greife ihn als Beispiel heraus, der es für einen denkenden Menschen als Gipfel der Fehlorientierung ansah, Würmer zu zählen. Physik war zu seiner Zeit und lange danach noch Teil der Philosophie, am Schreibtisch zu betreiben, was ihr theoretischer Teil in gewisser Weise ja auch heute ist, oder vielleicht sogar umgekehrt. Aber doch ganz anders.

Carl Amery hat der Politik bereits in den 1980-er Jahren vorgeworfen, die Natur als einen Verhandlungspartner misszuverstehen, dem man ein gutes Angebot mache, auf das sie dann gefälligst einzugehen habe. Virtual Reality könnte die Steigerung davon werden: Ich gestalte mir die Welt am Monitor und halte diese für real. Dazu muss ich gar nicht erst verhandeln. Fakt und Fiktion werden ununterscheidbar, auch hier. Die Möglichkeit, jeden Aspekt meines Ambientes nach Belieben zu gestalten, virtuell natürlich nur, dämpft das Bestreben, das Original zu verstehen und sich um dieses zu kümmern. Neil Postman hat, ebenfalls in den 1980-er Jahren, auf die Gefahr des Infotainment hingewiesen, wie die bunte Abfolge von Nachrichten die Bedeutung der einzelnen zerstört. Auch hier erleben wir die Steigerung: Nicht mehr die Abfolge von Banalität und Katastrophe allein ist es, sondern die bunte Mischung aus Fakt und Lüge!

Teil 2: Zurück zur Natur – Worauf es jetzt ankommt

Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine zum anderen: Du siehst ja fürchterlich aus, was ist denn los? – Ach, ich habe Mensch! – Na, dann sei beruhigt, das hatte ich auch mal, das geht vorbei.

Mit der "Schadensbilanz", so war meine Absicht, sollte zugleich ein impliziter Aufriss des Handlungsbedarfs entstehen, so dass ich die Punkte jetzt lediglich noch aufzurufen brauche. Zuvor ein Wort zur Überschrift: Gemeint ist nicht die Romantik, die dem Rousseau zugeschriebenen Zitat unterlegt ist, und beispielsweise auch nicht die stoische Sinnsuche ("gemäß der Natur"). Mir geht es hier um einen kühlen, rationalen, nicht esoterischen und nahe an den Naturwissenschaften angesiedelten Naturbegriff, der trotzdem die Liebe beinhaltet, die wir unseren Lebensgrundlagen schuldig sind, anstatt sie auszubeuten – das war jetzt etwas gewagt, so viele Bedingungen in einen Satz zu pressen. Am besten ihn zweimal lesen…

Zurück zur Haptik!
In Corona-Zeiten vor zu viel Digitalisierung zu warnen, macht wenig Sinn, und ich bin auch kein Geisterfahrer. Wichtig ist es, das Augenmaß zu behalten. Ich jedenfalls freue mich, wenn meine Enkelkinder auch mit Holz spielen statt (nur) mit Tasten. Und wenn sie in einem ganz "normalen" Kindergarten philosophieren! Wenn dem Wort das Entrückte genommen wird, das vermeintlich Elitäre. Wenn Grundbegriffe des Lebens gelernt werden! Und Wahrheit gehört zuvörderst dazu.

Öffnung der Naturwissenschaften!
Wissenschaft ist mehr als die Sammlung und Aneinanderreihung von "Durchbrüchen". Wissenschaft, wenn sie sauber ihre eigenen Maßstäbe verfolgt, verkörpert eine Haltung der Demut, vor allem Demut vor der Wahrheit, die zwar nie erreicht, aber immer gesucht wird. Im politischen Raum, das muss man klar sehen, ist die Diskussion um "Wahrheit" bereits ein Stück weit verbrannt. Wer sie dort noch zu führen versucht, bekommt statt Argumenten leicht mal Schopenhauers letzten Kunstgriff um die Ohren. Es könnte die Aufgabe der Wissenschaft, der Wissenschaftsphilosophie werden, die Revitalisierung des Wahrheitsbegriffs in die so oft apostrophierte und anscheinend verführbare "Mitte der Gesellschaft" zu tragen. Dazu müsste Wissenschaft sich öffnen, müsste ihre sporadische Öffentlichkeitsarbeit zur Strategie erheben. Es macht ja auch Sinn, die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: politische "Wahrheit" fußt auf der Wahrheit über die Lebensgrundlagen, nicht umgekehrt.

Das Problem mit der Wissenschaft ist, dass es (nach meinem Eindruck) schon lange nicht mehr um die Wahrheit geht, sondern einzig und alleine um eine gute Story und möglichst viele citations und Klicks auf Twitter. Andererseits bietet bieten Twitter und Co vielleicht irgendwann eine Plattform, um auch solche Daten unter die Menschen zu bringen – sagt ein Insider, der für mich Probe las…

Kein Kulturpessimismus!
Wer jammert, hat schon verloren. Fehlentwicklungen wollen erkannt und engagiert behandelt sein. Nehmen wir daher den Spaten zur Hand und pflanzen morgen das erste Apfelbäumchen.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 28.09.2021

Dr. Christian Thieme

Entscheiden

Ehrlich währt am längsten. Darum will ich mit einem Geständnis beginnen: Ich bin unfähig, einen Laptop oder ein Handy zu kaufen. Meistens schadet mir das nichts, weil sich ein barmherziges Mitglied meiner Familie meiner erbarmt und das Problem für mich löst. Beim vorletzten Laptop jedoch war ich wild entschlossen, die Schwäche zu überwinden. Ich lief ins nächstbeste Fachgeschäft in der Innenstadt, ließ mir kurz ein paar Brocken hinwerfen und kaufte ein vollkommen ungeeignetes Gerät, das ich nach kürzester Zeit ausmustern musste: Lehrgeld. Ich kann auch erklären, woher das bei mir kommt. Ich empfinde eine herzliche Abneigung dagegen, meine Zeit mit dem Studium von Testberichten und Produktbeschreibungen zu verbringen. Andererseits aber drückt mich die dumpfe Empfindung, dass in dem ganzen Wust von Begriffen und Rezensionen doch ein paar Brocken verborgen sein könnten, die für mich wichtig wären. Die "Lösung" ist allzu oft so, dass ich notwendige Dinge einfach gar nicht kaufe und so der Entscheidung aus dem Weg gehe. Oder: Verzweiflungstat, siehe oben. Manchmal ist es vielleicht sowieso keine schlechte Idee, auf ein Konsumgut erst einmal gänzlich zu verzichten, aber damit will ich meine Schwäche nicht schönreden.

Entscheider

Insgesamt ist "entscheiden" mehr als die Wahl zwischen Konsumgütern. Entscheiden ist ein Vorgang, der weit in die Persönlichkeit hineinreicht. In größeren Unternehmen ist klar geregelt, wer welche Entscheidungen treffen darf (und dann auch muss). Männer und Frauen, die die größten, folgenreichsten Entscheidungen treffen, heißen "Entscheider". Das ist Wirtschaft. Im echten Leben ist jeder Mensch sein eigener Entscheider, jeden Tag. Darauf kommt es mir jetzt an. Die einführenden Beispiele verlege ich nur deshalb teilweise ins Wirtschaftsleben, weil dann niemand denken muss "Au Backe, genau! Das wäre es gewesen! Und wie schlecht habe ich das neulich gemacht"…

Beispiel 1: Eine umstrittene Ausschreibung aus einem schwierigen Land ist eingegangen. Soll unser Unternehmen auf sie reagieren und ein Angebot abgeben, ja oder nein? Was alles gehört dazu, um diese Entscheidung zu treffen: Zum Beispiel Unternehmensstrategie, Gewinnerwartung, Risiken, Arbeitsplätze, Menschenrechtslage im Land des Auftraggebers, Umweltschutz – ganz unterschiedliche Kriterien können zusammenfließen. Die Entscheidung will gut vorbereitet sein, so gut, wie die verfügbare Zeit und die Ressourcen es gestatten, aber dann muss der Daumen hoch oder runter. Und wenn wir bis zum Termin nicht reagieren, ist das Thema automatisch durch.

Beispiel 2: Soll einem "notleidenden" Projekt mehr Personal zur Verfügung gestellt werden, oder soll der Umfang reduziert werden, oder schieben wir den Termin, ober wollen wir es einfach darauf ankommen lassen, oder vertagen wir die Entscheidung noch einmal? Oder finden wir eine Mischung aus all dem? Schnell zerfließt die vermeintlich "eine" Entscheidung in eine Kaskade von kleinen Einzeldingen.

Beispiel 3: Die Entscheidung von vor einem Monat hat sich nicht bewährt – bis jetzt. Sollen wir sie komplett rückgängig machen, sie ändern, oder wollen wir unsere beschlossene Linie unverändert weiterverfolgen?

Mit dem letzten Beispiel haben wir eine weitere Dimension dazu bekommen: Manche Entscheidungen der Vergangenheit sind in Stein gemeißelt (ein abgebrochenes Haus ist abgebrochen), andere nicht. Auch am Umgang mit früheren Entscheidungen scheiden sich die Charaktere.

Im Alltag ist alles eine Schuhnummer kleiner – scheinbar!!!

Die wenigsten Menschen gehen einem Beruf nach, der sie zum "Entscheider" macht. Aber darauf kommt es herzlich wenig an! Im realen Leben ist jeder von uns ein Entscheider, immer wieder. Und es geht wahrlich nicht um wenig. Unser eigenes Leben ist es, für das wir immer wieder neue Entscheidungen treffen müssen. Ist es nicht widersinnig, wenn wir den Chef oder die Chefin einer Schuhkartonfabrik voller Respekt als Entscheider betrachten, vor uns selber aber sorgsam darauf achten, dass unser Entscheiden möglichst nicht auffallen möge, häufig nicht einmal uns selbst? "Ich muss noch die Küche aufräumen, bevor wir gehen" statt "ich will ….", da fängt die Fehlhaltung schon an. Und sie zieht sich durch, vom ganz Kleinen bis – manchmal! – zu den größten Fragen. Vor sich selber vermeintliche Zwänge konstruieren, Dinge treiben lassen, statt sie bewusst in die Hand zu nehmen, und so fort. Die Folge ist, dass viele von uns ihr eigenes Leben auf dem Rücksitz verbringen, während an Steuer irgendwer oder irgendetwas sitzt, sei es eine andere Person oder schlicht der täglich wechselnde Zufall. Die Gründe sind vielschichtig. Sehen wir uns ein paar davon an.

Wann treffe ich denn eine Entscheidung? Realisiere ich es überhaupt?

"Ich kann das jetzt nicht entscheiden", den Satz hat vielleicht jeder schon gehört oder selbst gesprochen. Was aber bedeutet er? Genauer gesagt, was bedeutet er wann?

Noch zwei Minuten bis Hannover. Der vordere Teil des ICE fährt gleich weiter nach Hamburg, der hintere nach Bremen. Dort sitzt ein Fahrgast, Zeitung lesend und abwesend. Kommt der Schaffner vorbei und fragt ihn: Wollen sie nach Hamburg oder nach Bremen? Oh, schreckt er auf, muss ich das jetzt wissen? – Ja, nach Hamburg müssten Sie gleich in den vorderen Zugteil umsteigen. Wir halten in einer Minute. Äh, sagt der Fahrgast, das kann ich jetzt so schnell nicht entscheiden, und bleibt sitzen. Er tut so, als träfe er nur dann eine Entscheidung, wenn er aktiv in den natürlichen Lauf der Dinge eingreift. Sitzen zu bleiben und nach Bremen gefahren zu werden, sieht er einfach nicht als Entscheidung an. Umzusteigen und weiterzufahren nach Hamburg dagegen schon.

Das Beispiel ist irgendwie dämlich, aber einprägsam. Gehen wir ein paar Absätze zurück zum Fallbeispiel 1. Wenn die Angebotsfrist abläuft, ohne dass der "Entscheider" sichtbar und hörbar eine Entscheidung getroffen hat, haben wir exakt den ICE-Fall. Vielleicht hat ihn seine Sekretärin vor Ablauf der Frist sogar täglich daran erinnert, und er hat sie jedes Mal brummig weggeschickt? Jetzt klingt die Geschichte schon nicht mehr so konstruiert. Würden wir uns jedes Mal darüber Rechenschaft geben, wenn wir eine Angelegenheit durch Nichtstun entscheiden, also den Entscheidungsbedarf ignorieren, statt die Sache kraftvoll in die Hand zu nehmen, würden manche Dinge vielleicht anders laufen, besser?

Das "passionierte Nicht-Entscheiden" kennt zudem eine weitere Spielart, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil zu sein scheint: Ich nehme den anstehenden Entscheidungsbedarf, jeden Entscheidungsbedarf, so ernst, dass ich jeden, der mir gerade über den Weg läuft, mit meinem Problem beschäftige und um Rat frage: "Wie würdest DU dich denn entscheiden". Der andere gibt sich redlich Mühe, dem Ratsuchenden eine gute Empfehlung zu geben, bis er eines Tages gewahr wird, dass sein Rat nur ein Pflasterstein auf einem grenzenlos langen Weg war: Der Weg als Ziel. Und wenn das Ziel darin besteht, kein Ziel zu sein, muss der Weg einfach nur grenzenlos lang werden. Irgendwann erledigt sich die Sache auch auf diese Weise.

Ich bin ein "Ich" – weiß ich das?

Warum aber will ich mich vor Entscheidungen drücken? Ist es Gleichgültigkeit? Unsicherheit? Fehlender Mut? Oder ist es vielleicht die prinzipielle Schwierigkeit mit dem Anspruch, ein ICH zu sein? Wie gerne sagen wir "Man fühlt sich dabei unwohl" oder andere Sätze dieser Art, obwohl die einzige Person auf der ganzen Welt, auf die dieses "man" gerade anwendbar ist, ich selber bin! Warum also nicht: "ICH fühle mich unwohl"? Manchmal mag es höfliche Zurückhaltung sein. Aber ist es das immer? Steckt dahinter nicht viel zu oft die Scheu, sich mit der eigenen Person, mit der eigenen Subjektivität sichtbar zu machen und das Statement abzugeben. Bequemer ist es, mit dem "man" den Eindruck zu erwecken, als referiere man hier nur einen allgemeingültigen Sachverhalt. Einmal so eingeübt, verschwindet das "ich" immer weiter aus meiner Rede. Auch aus meinem Denken?

Entscheiden hat stets etwas mit "ich" zu tun. Der Satz "Man würde an dieser Stelle wohl die Alternative A wählen" ist keine Antwort auf die Frage, wie ich es haben möchte. Bei "Geben Sie mir den roten" kann ich das "ich nehme" noch vermeiden, und manchmal sind solche Formulierungen in der Situation einfach freundlicher. Generell aber gehören das "Ich" und die Entscheidung zusammen. Die gute Nachricht: "Ich" zu sein, lässt sich üben.

Begründen können

Der Entscheider aus dem Fallbeispiel 1 hatte im schwachen Ich vielleicht sein Motiv, den Termin stillschweigend verstreichen zu lassen. Hätte er seine Entscheidung nicht durch Liegenlassen getroffen, sondern explizit, so hätte er vielleicht ziemlich kritische Fragen aushalten müssen. Vielleicht war es ihm angenehmer, sich hinter dem zu vollen Terminkalender und anderen solchen Ausflüchten zu verstecken, ganz so als hätte ihn nur die Ungunst des Alltags an einer kraftvollen Entscheidung gehindert. Was zwar offensichtlich ein schlimmes Zeichen von (Führungs-)Schwäche gewesen wäre, für ihn in seiner Not aber eventuell immer noch das kleinere Übel.

Nun sind Unternehmen nicht unbedingt Muster an Demokratie und Transparenz: Ich denke gerade an Sprüche wie "Winterkorn pflegte Führerkult wie in Nordkorea", gefunden in der "Zippert zappt"-Satire vom 30.10.2015 (Die Welt). In einem solchen Umfeld braucht keine Entscheidung eine Begründung. Im persönlichen Leben ist das anders, zumal, wenn auch andere Menschen mit betroffen sind, was bei wichtigen Angelegenheiten die Regel ist. Mag sein, ich schildere gerade die Unternehmen zu grau und Familien zu rosa – gebe ich gern zu… – egal. Wichtig scheint mir, dass jede bedeutende Entscheidung eine Begründung fordert, egal ob hier oder dort.

Allein der Vorsatz, Entscheidungen, beispielsweise in Erziehungsfragen, begründbar zu halten, was nicht bedeutet, sie einem Mehrheitsvotum o.ä. anheimzustellen oder an Einstimmigkeit zu binden (manchmal freilich ist Konsens der beste Weg, auch wenn er anfangs mühsam ist) – zurück zum Satzanfang: Allein dieser Vorsatz kann dazu beitragen, besser zu entscheiden. Und sei es nur darum, weil er dazu zwingt, den anderen vorher zuzuhören, um ihre Voten oder Gedanken später in der Begründung der eigenen Entscheidung zu berücksichtigen. Und vielleicht führt das Zuhören sogar zu einer besseren Entscheidung? – könnte ja sein, immerhin….

Einmal entschieden, und dann?

Ich sagte eingangs, dass die Art, mit Entscheidungen umzugehen, tief im inneren der Persönlichkeit wurzelt. Falls das bisher nicht ausreichend transparent wurde, dann sicherlich jetzt. Es geht um die Frage, wie jemand später mit der einmal getroffenen Entscheidung umgeht. Es gibt im Spektrum der Verhaltensweisen eine, die sicher nicht glücklich macht, weder den Entscheider noch die weiteren Betroffenen: Unter allen Umständen an jeder einmal getroffenen Entscheidung festzuhalten – an jeder. Und nicht weniger unglücklich macht das andere Extrem. Wer jederzeit bereit ist, jede zuvor getroffene Entscheidung beim ersten Anzeichen eines Hindernisses prompt zur Disposition zu stellen oder abzuändern, obwohl die Sache zuvor reiflich überlegt war, wird damit ebenfalls nicht glücklich werden.

Wo also ist der optimale Punkt? Kann man ihn denn allgemein festlegen? Man kann es nicht. Mut, Kraft, Leidensfähigkeit, Selbstvertrauen, speziell auch das mehr oder weniger große Vertrauen in die Qualität der eigenen Entscheidungsfähigkeit gehören dazu, und dazu je nachdem weitere Ingredienzen.

Ich treffe eine Entscheidung

Fahren wir nochmals im ICE. Diesmal sitzt unser Passagier von München bis kurz vor Hannover im Abteil mit einer Frau und deren kleiner Tochter. Zwei Stunden lang hört er ihr zu, wie sie die Tochter tröstet. Irgendwie muss gerade die Beziehung zerbrochen sein, nun sind sie auf dem Weg nach Bremen, zur Oma. Hinter dem Trost hört und sieht er die verzweifelte Ratlosigkeit. Er spricht sie an, sie reden. Schnell wird die Unterhaltung persönlich, Zuneigung entsteht, der berühmte "erste Blick" scheint zu wirken. Die Frau weiß, dass sie umsteigen muss, und schiebt es hinaus bis zur letzten Möglichkeit, Hannover. Dann verlässt sie das Abteil – "Alles Gute und viel Glück für Sie", sagt er. Der Zug hält, die beiden sind fort. Im letzten Moment packt der Mann seine zwei Taschen, rennt den Gang entlang und steigt aus. Die beiden sind schon außer Sicht, eingestiegen in den anderen Zugteil. Er wird sie finden. Sein Bewerbungsgespräch in Hamburg spielt plötzlich keine Rolle mehr.

Das war keine Entscheidung zwischen Alternativen. Es war ein Entschluss. Die Entscheidung, etwas zu tun, das überhaupt nicht zur Entscheidung stand. Von hier aus öffnet sich ein ganzer Kosmos: Ich verweigere einen Befehl, weil ich erkenne, dass ich so nicht weitermachen darf. Ich rette ein Kind vor dem Ertrinken, obwohl dreißig Umstehende es auch hätten tun können. Der Zufall stellt mich vor eine Situation, und ich entscheide mich, sie anzunehmen.

Das Glück liegt im Konjunktiv Plusquamperfekt?

Tut es natürlich nicht, im Gegenteil. Der Konjunktiv Plusquamperfekt, das ist der "Hätte"-Modus. Ach, hätte ich damals doch …

Dieser "Hätte"-Modus ist unsinnig, weil unfair. Was soll ich mit meiner damaligen Entscheidung auf der Basis des heutigen Wissens rechten? Soll ich mir vorwerfen, dass ich die 6 Richtigen, die am Montag in jeder Zeitung stehen, nicht einfach am Freitag auf dem Tippschein angekreuzt habe? – so in etwa ist das.

Dieser "Hätte"-Modus ist zweitens unsinnig, weil er nur unglücklich macht. Selbst wenn meine damalige Entscheidung strohdumm war, kann ich doch nur nach vorne lernen. Die Vergangenheit kann ich nicht mehr richten. Und alle Zeit und seelische Energie, die ich verbrauche, um im "Hätte" zu leben, fehlen mir in der Gegenwart. So programmiere ich gleich den nächsten Bockmist. Will ich das?

Hätte ich doch nicht jenen blöden, dysfunktionalen, langsamen und viel zu kleinen Laptop gekauft! Nein, "hätte" ist nicht mein Ding. Ich habe die Erfahrung gemacht, habe verstanden, was ich falsch gemacht habe – das war nicht schwer –, und es danach besser gemacht. Gerade jetzt, wo ich auf dem neuen Teil arbeite, fällt es mir ein, und ich bin mit mir zufrieden.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 29.08.2021

Dr. Christian Thieme

Mit_Verantwortung

Vor etlichen Wochen jährte sich der Todestag einer britischen Soul- und Jazzkünstlerin, die vor zehn Jahren jung verstorben war. Die Floskel „viel zu jung“ will mir nicht über die Lippen: Erweckt denn ein solches Wort nicht unterschwellig den Eindruck, als ginge das Sterben irgendwann in Ordnung, wenn ein Mensch eventuell zwar noch jung ist, zu jung, aber eben nicht mehr viel zu jung? Wann „geht es denn in Ordnung“, wenn ein Mensch stirbt? Alter, Gesundheit, vielleicht die Lebensweise: Wir bewerten das Schicksal und vergeben Attribute wie tragisch, oder zu erwarten, oder auch gnädig. Wir sind wahlweise betroffen, wirklich betroffen oder betroffen in unserer Rolle, wir nehmen kurz Anteil, registrieren am Rande, gehen darüber hinweg und warten auf die Fußballübertragung, wir zählen Statistiken, wir ignorieren, wir blenden aus.

Jene jung verstorbene Künstlerin ist eine aus der Zahl derer, bei denen sich das Geflecht aus Erfolg, Euphorie, Leere, Sucht und Ausgebeutet-Sein nachträglich kaum entwirren lässt. Nachträglich. Vorher mag es vielleicht Anzeichen gegeben haben. Sicherlich hat es welche gegeben. Es ist sicher, dass es welche gegeben hat. Die hätten sich besser um sie kümmern müssen! – wer ist das aber, jene die. Kann mir doch egal sein, wer die sind, das sollen sie unter sich ausmachen? Ist das so?

Who killed Davey Moore

In den Sinn kommt mir die Ballade vom Boxer Davey Moore, der im Ring verstirbt, sozusagen totgeschlagen. Bob Dylan, der geniale Liedermacher, mittlerweile von Stockholm auch als Literat geadelt, schrieb sie, und Pete Seeger hat sie groß gemacht. Der Boxer liegt tot im Ring, und Dylan lässt sie alle aufmarschieren, wie sie reihum die Verantwortung weg von sich und irgendwo anders hinschieben: Der Schiedsrichter verweist aufs gierige Publikum, das aber geltend macht, dass boxen eine normale Angelegenheit sei und die Zuschauer keine Schuld treffe. Und der Manager glaubte, dass sein „Schützling“ gesund sei – er hätte doch nur was sagen müssen… Dazu die qualmende Zigarre als Symbol seiner Interessenlage. Auch den Kunden im Wettbüro trifft keine Verantwortung, natürlich nicht! Oder hat er ihn denn erschlagen? – Eine derartige Sünde: Niemals! Und der Reporter, der mit seiner Schreibmaschine die Medien füttert (wir befinden uns in den 1960-ern!), natürlich auch er nicht. Und sein Gegner im Ring? – er hat schließlich nur seinen Job gemacht. Soll er sich dafür Vorwürfe gefallen lassen?

Der Text handelt vom Boxen, aber nicht nur. Im weiteren Sinn geht es um den komplexen Zusammenhang von Ursache, Verantwortung und Schuld. Die „Institution Publikum“ ist ursächlich für den Tod. Denn ohne zahlendes Publikum gäbe es keinen Profisport. Ist nun aber das Publikum an diesem speziellen Tag mehr ursächlich als das Publikum gestern, wo alles gutgegangen war? Und wie steht es mit den einzelnen Personen? Was ist mit dem Herrn mit der blauen Baseballkappe dort drüben links in der dritten Reihe neben dem Ausgang? Er hatte vielleicht gerade noch das letzte Ticket ergattert, während der Teenager nach ihm in der Schlange leer ausging. Besteht zwischen beiden ein Unterschied? Hängt die Mitverantwortung vom Zufall ab?

Das Publikum als Ursache. Aber schon die Unterscheidung von Ursache und Verantwortung wirft Fragen auf. Das Wort Ursache habe ich für die Struktur benutzt, für die Institution des zahlenden Publikums schlechthin, dessen Macht und Einfluss seit damals weiter gewachsen sind. Sobald ich die Übertragung einschalte, gehöre ich anonym dazu. Konkrete Verantwortung kommt erst später ins Spiel, wenn Individuen individuelle Entscheidungen treffen. Um den Übergang zur Schuld dingfest zu machen, wären danach noch weitere, ausführliche  Überlegungen erforderlich, auf die es mir jetzt nicht ankommen soll, ebenso wenig wie auf eine wirkliche Differenzierung zwischen Ursache und Verantwortung. Mein Fokus ist ein anderer: Es kommt mir einzig auf das breite Spektrum unterschiedlicher Situationen an, in denen ich mir ein mehr oder weniger hohes Maß an Mit_Verantwortung zurechnen lassen muss.

 

Mit-Verantwortung oder Schuld bist Du

Verantwortung und Verantwortungslosigkeit

Sich zurechnen lassen: Das Problem sind in der Tat nicht allein die Situationen oder Strukturen, in denen ich „freiwillig“ Verantwortung übernehme. Ich entscheide mich für Elternschaft und weiß von diesem Moment an, dass ich ab jetzt für Jahre und Jahrzehnte in der Verantwortung stehen werde – oder sollte es wissen. Ich übernehme eine Leitungsfunktion in meiner Firma und weiß, dass ich ab jetzt in manchen kritischen Situationen die Letztverantwortung für das Wohl und Wehe meines Ladens und manchmal sogar auch der Menschen in ihm tragen werde. Die Verantwortung wird mich immer wieder auch in Situationen verfolgen, aus denen ich vielleicht viel lieber weglaufen würde, oder gar nie in sie hineingeraten, anstatt etwas tun oder entscheiden zu müssen: You can’t win, you can’t break even, you can’t leave the game: Weglaufen kann ich nicht, und ungeschoren davon komme ich auch nicht.Dass ich in diese Position kommen musste, mag die Folge früherer Entscheidungen sein – ich hätte z.B. eine bestimmte Position nicht anzunehmen brauchen –, kann aber auch „einfach so“ auf mich zugekommen sein, ohne dass mich das Schicksal auch nur eine Sekunde lang um mein Einverständnis gebeten hätte.

Nebenbei bemerkt ist die Sache mit der Verantwortung derer ganz oben bei weitem nicht so einfach, wie sie aussieht. Ich denke an die merkwürdige Gesetzlichkeit, dass sich gerade die brisanten Vorgänge –je brisanter, desto lieber! – weit entfernt vom eigentlich Verantwortlichen entwickeln, weit unten in der Hierarchie, angeblich. Genau gesagt jeweils gerade so weit unten, dass das strahlende Weiß der nichtwissenden Unschuld an der Spitze politisch und/oder juristisch nicht gefährdet wird. Große Konzerne und honorige Ministerien als Sumpfblüten der organisierten Verantwortungslosigkeit ? – keine schöne Vorstellung ist das.

Das ist Politik, die uns nicht zwingend interessieren muss. Die Sache mit der übernommenen Verantwortung ist aber auch aus einem viel wichtigeren, sehr realen Grund komplex, und der betrifft viele von uns immer wieder. Nehmen wir beispielhaft die Elternrolle. Als Elternteil eines Kleinkinds bin ich für „alles“ verantwortlich, was mit dem Kind geschieht. Allmählich jedoch wächst mein Kind in seine Eigenverantwortung hinein. Von Tag zu Tag spüre ich da zwar keine Veränderung. Wenn ich aber in größeren Intervallen denke, dann schon. Welche Verantwortung muss ich mir am sechsten, zehnten, zwanzigsten oder am vierzigsten Geburtstag des Kindes zuschreiben? Klar ist, dass mein eigener Anteil an der gemeinsamen Verantwortung immer kleiner wird. Aber wie schnell und wie klein genau? Wann verändert das Sichverantwortlich-Fühlen für das eigene Kind seinen Charakter? Wann schlägt meine Initiative von Hilfe um in Aufdringlichkeit, wenn ich sie nicht rechtzeitig eindämme? Und wann ducke ich mich andererseits unangemessen weg, aus purer Feigheit und mit dem Vorwand, ich wollte nicht aufdringlich sein? Eine Formel dafür gibt es nicht, nur den Dialog der Beteiligten und das eigene Gewissen.

Nach und nach dreht sich die Situation sogar komplett um! Eltern werden alt, und eines Tages stehen sie hilfsbedürftig vor ihren Kindern, die nun beginnen müssen, ihrerseits Verantwortung zu übernehmen, sagen wir: zurückzugeben. Ihr seid gute Eltern zu mir, äh, …. : So sprach mich mein hochbetagter Vater tatsächlich eines Tages an, ohne groß zu reflektieren. Natürlich konnte er Sekunden später darüber lachen, aber der spontane Impuls war doch bemerkenswert.

Undefinierte Verantwortung

Mit der Welt bin ich durch viele Fäden verbunden, durch mehr Fäden, als ich zählen kann. Viel zu viele, um jeden auch nur vage zu erkennen. Und mit jeder Bewegung in meinem Leben ziehe ich an etlichen davon und erzeuge Wirkungen, wenn auch manchmal mikroskopisch kleine. Zum Beispiel der „ökologische Fußabdruck“. Ich esse ein Schnitzel, oder eine Avocado, oder was auch immer, und schon haben ich… –  wie groß ist meine Verantwortung für den Regenwald? Die Frage ist nicht rhetorisch. Und kompliziert ist sie obendrein.

Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich. Müssen wir heute gelegentlich nicht ein Wörtchen anhängen und sagen: cogito, ergo sum tentus – ich denke, also bin ich verantwortlich? Für was aber bin ich verantwortlich, oder mitverantwortlich? Für das, was ich weiß, oder wissen müsste, oder was ich glaube zu wissen, oder was mir weisgemacht wird? Und auch für das, was mit vorenthalten wird? Ich könnte es ja in Erfahrung bringen! Was genau muss ich etwa über die Batterie in meinem e-Auto wissen? Die Ökobilanz? Die sozialen Kosten? Die Rohstoffbilanz? Endet meine Verantwortung dort, wo ich einer demokratisch legitimierten Policy vertraue, oder muss ich weiterdenken und anders denken? Bis zum Befehlsnotstand müssen wir gar nicht gehen, die Wirklichkeit ist schon so desolat genug.

Verantwortung in diesem grüblerischen Sinn ist weder rechtlich noch politisch fassbar. Sie ist eine moralische Kategorie, an der ich mich ganz persönlich, wie jeder andere Mensch, täglich messen muss. Freilich eine seltsame Kategorie, wenn die Kriterien des Messens täglich wechseln, mit jeder neuen Analyse, jedem neuen Hintergrundbericht, und sich hin und wieder sogar ins Gegenteil verkehren? Moralische Kategorie: Damit schrammen wir so dicht an Kants kategorischem Imperativ (KI) vorbei, dass sich die Kollision kaum verhindern lässt. Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann. Neben dieser Fassung hat Kant für den KI weitere Formulierungen gefunden. Diese hier jedoch demonstriert das Problem am besten. Sie suggeriert nämlich, dass es für alle moralischen Fragen eine Norm geben müsse, die nicht von meiner subjektiven Wahrnehmung abhängt (die sich selbst … zum allgemeinen Gesetze machen kann), und dass ich diese obendrein erkennen kann. Sonst könnte ich ja nicht nach ihr handeln. Der Komplexität, in der ich als Weltbürger des Jahres 2021 entscheiden und handeln muss, wird dieser Ansatz nicht gerecht.

Als Argument, Kants KI komplett über Bord zu werfen, reicht diese Kritik wohl trotzdem nicht aus. Die Welt ist ja nicht in allen Belangen so komplex. Aber es zeigt sich, wie unendlich schwierig es geworden ist, um nicht zu sagen unmöglich, in einer immer komplexeren und damit für mich als einzelnem immer undurchschaubareren Welt so etwas wie einen moralischen Goldstandard zu verfolgen. Ich möchte sogar so weit gehen, dass ich sage: Hüten wir uns vor denen, die meinen, ihn zu besitzen, die sich im esoterischen Nebel einer allumfassenden Achtsamkeit verloren haben, und die dort von hoch oben und frei von Anfechtungen ihr moralisch gutes Leben führen und auf alle anderen Daseinsformen von oben herunter tadelnd oder mitleidsvoll herunterschauen.

Der Grat ist so schmal. Niemand möge diese kleine Polemik missverstehen als den Zynismus von einem, der sich um nichts kümmert, weil es doch sowieso für alles ein Gegenargument gibt, der mit seinem Rennwagen durch die Wälder brettert und der …. (usw.). Und auch nicht als leichten Spott über all jene, die sich tagtäglich ihre Gedanken darüber machen, was sie vielleicht ab heute besser machen können – ich selbst gehöre doch auch zu ihnen. Jedenfalls möchte ich mich gern so sehen. Das Gift steckt allein im Hochmut, im Wissen um die eigene Unfehlbarkeit, in der Intoleranz, die anderen nicht andere Gedanken zubilligt, sondern unterstellt, sie hätten gar keine.

Mit_Verantwortung, konkret

So aussichtslos es wäre, allein durch heroische taten die Welt retten zu wollen, so verführerisch ist der Gedanke dennoch. Ich muss eben mal noch die Welt retten ist ein aktueller Songtext, der dieser Tage gelegentlich über den Sender geht. Resignation, Ironie oder versteckte Sehnsucht? – schwer zu beurteilen. Bemerkenswert finde ich daran, dass das Thema Welt retten mittlerweile zwanglos Eingang in den Alltagsdiskurs gefunden hat. Das war nach meiner Wahrnehmung vor 20 Jahren noch anders.

Eben sprach ich über die Arroganz des Weltretters, die übrigens doch wiederum viel älter ist als 20 Jahre. Schon aus den 1980-er Jahren erinnere ich mich an die Aufkleber „Freiwillig 80, dem Wald zuliebe“, prangend an einem Fahrzeug mit einem derart hohen Verbrauch, wie wir ihn für uns nicht hätten tolerieren wollen. Genau da ist bei mir vielleicht erstmals die Vorstellung entstanden, dass gutes Wollen und Überheblichkeit durchaus Hand in Hand gehen können. „Welt“ war damals übrigens noch keineswegs das Thema, es ging zuerst und lange allein um „Wald“, unseren Wald.

Jung zu sein, bedeutet, die großen Lösungen zu suchen. Gottlob gibt es genügend Junge, denn wir brauchen die großen Lösungen. Und daneben brauchen wir, wie in allen Jahren und Jahrhunderten vor uns, weiterhin den Blick für das Kleine, für das, was uns vor die Haustür gelegt ist. Wenn ich etwas Derartiges erklären will, gehe ich gern in der Welt der guten Songtexte spazieren. Und finde diesmal die anrührenden Geschichten aus den Streets of London, kleine Vignetten, in denen Ralph McTell die triste Rückseite des hellen Lebens im Wohlstand ausleuchtet. Wer ab und zu Radio hört, hat den Song unweigerlich schon gehört.

Have you seen the old gal who walks the streets of London, dirt in her hair and her clothes in rags, she's no time for talkin, she just keeps right on walkin, carryin her home in two big shopping bags …..

Die obdachlose Frau in Lumpen, deren Habseligkeiten in zwei Plastikbeuteln Platz haben, die unter die Räder Gekommenen, die vergessenen Helden einer Welt, die an keinem Schicksal anteilnimmt. Gewöhnliches Alltagselend ist das, in schlichten Pinselstrichen unpathetisch dargeboten. Und zwischen den Szenen der wiederkehrende Appell

How can you tell me you're lonely, and say, for you, that the sun don't shine! Let me take you by the hand and lead you through the streets of London! I'll show you something to make you change your mind.

Wie kannst du jammern, sagt der Refrain, über dein eigenes Schicksal, dein Unglück, deine Einsamkeit. Schau dich doch um in den Straßen von London und sieh all jene, denen es viel schlimmer ergeht…

Das aber ist nur die eine Seite der Medaille. Natürlich ist es sinnvoll und kann auch trösten, dorthin zu sehen, wo es Menschen schlechter geht als mir, statt weiter zu jammern. Aber ist es nur das? Der Blick in Londons Straßen zeigt mir die Welt, die an keinem Schicksal anteilnimmt. Und warum nicht? Sie nimmt nicht Anteil, weil ICH nicht anteilnehme. Mitverantwortung hat viele Ebenen, und die Straßen von London sind überall.

Post Scriptum:

Als das Drama um Afghanistan Mitte des Monats in sein finales Stadium trat, stand dieser Text schon in der Warteschlange zur Veröffentlichung. Wahrscheinlich war es insgesamt keine gute Idee, gerade in dieser politisch brisanten Zeit etwas über Verantwortung schreiben zu wollen, auch wenn ich die Verantwortung der Politik nicht in den Mittelpunkt stehen wollte. Mit dem furchtbaren Drama in Kabul wurde nun allerdings ein bekanntes Phänomen besonders schmerzlich sichtbar: Die abstrakte und unverbindliche "politische Verantwortung" hat nichts mit einer konkreten Verantwortung im ethisch-intuitiven Sinn zu tun. Es ist, als bestünde zwischen ersterer und dem handelnden Individuum eine undurchlässige Membran, und teilweise ist das sogar zu begründen (vgl. den Zettel über Machiavelli und Erasmus vom 3.3.2021). Die Frage, ab welchem Maß von Verstrickung diese Membran durchlässig werden muss, so dass politische in persönliche Verantwortung übergeht, lässt sich nicht allgemein beantworten. In dieser Woche jedoch, so denke ich, hätten etliche Spitzenpolitiker dies schmerzhafte Frage an sich herankommen lassen müssen, schonungslos und parteiübergreifend, statt die jeweilige persönliche Verantwortung floskelhaftroutiniert mit kollektiven Bekenntnissen zu vernebeln und im selben Atemzug durch Zuweisungen an andere endgültig zu versenken. Wobei die parlamentarische Erfahrung, dass Opposition noch niemals einen jener Fehler begangen hätte, die sie der Regierung hinterher ankreidet, nicht immer ausreicht, um die Regierung zu entlasten. Auf Deutsch: Manchmal sollte sich die Regierung schämen, obwohl die Opposition sie auffordert, sich zu schämen.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat die persönliche Betroffenheit am 17.8. vorbehaltlos auf den Punkt gebracht, nach meiner Wahrnehmung bis dato als einziger: "Die Bilder der Verzweiflung am Flughafen Kabul sind beschämend für den politischen Westen" und "Wir erleben in diesen Tagen eine menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen". Nicht die bloße Wortwahl beeindruckt mich, sondern das Fehlen von relativierenden Nebensätzen.

Das waren meine Eindrücke der ersten Tage. Inzwischen verändert sich das Bild: Diejenigen, deren Versäumnisse die beschämende Lage mit herbeigeführt haben, verwenden sich jetzt und bis auf weiteres, statt über Konsequenzen für die eigene Person nachzudenken, nach Kräften dafür, die Folgen zu lindern. Pragmatisch wird das sinnvoll sein. Doch weder ihr verspätetes Bemühen noch die Kurzatmigkeit des politischen Erinnerns wird sie von der Frage der Moral entlasten.

 

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 05.08.2021

Dr. Christian Thieme

Bleiben Sie utopisch!

In seinen Kindergeschichten erzählt Peter Bichsel von dem Mann, der nicht so einfach alles glauben wollte, was man ihm erzählt. Zum Beispiel, dass die Erde rund sei. Es wirklich zu bezweifeln, lag gar nicht in seiner Absicht, aber gerade deswegen wollte er Gewissheit. Wenn ich, so sagte er sich, hier von meinem Haus aus immer nach Osten gehe, und wenn die Erde tatsächlich rund ist, so müsste ich am Ende der Wanderung dort drüben von Westen her genau wieder an meinem Haus ankommen! Ganz einfach! Und das, so nahm er sich vor, wollte er probieren. Nun musste er aber, als er sich anschickte, seine Erdumwanderung zu planen, schnell erkennen, dass die einfachsten Dinge anscheinend nur so lange einfach sind, wie man sie in Ruhe lässt und sich nicht zu sehr mit ihnen beschäftigt: Denn dort drüben stand ja gleich schon das Nachbarhaus im Weg, da musste er drüber, sonst blieb er ja nicht geradlinig, und dazu brauchte er eine Leiter. Wir können seinen Gedankengang abkürzen: Ein Schiff, einen Kran (dafür keine Leiter mehr), einen zweiten Kran für den ersten, jede Menge Leute und Ausrüstung, weitere Schiffe,… – am Ende entstehen Wort- und Gedankenmonster wie der Kranschiffwagenzieherkleiderwagenzieher und weitere in dieser Art. Nach all dem nahm der Mann seine Leiter und lief einfach los.

Bleiben Sie utopisch!

Uns abgeklärten Lesern ist natürlich sofort klar, dass die Mission scheitern müsse. Wir finden den Mann, der das trotz all seiner Planungen nicht einsehen will, halsstarrig. Das ist kein gutes Wort, dieses halsstarrig. Wer so genannt wird, macht anscheinend ziemlich viel falsch im Leben. Macht er? Oder haben wir in all unserer erwachsenen, desillusionierten Abgeklärtheit vielleicht eine wichtige Kleinigkeit übersehen, und unser Mann ist vielleicht gar nicht halsstarrig, sondern hartnäckig? Damit mutierte er vom halsstarrigen Verlierer schlagartig zu einem Siegertypen, der im Leben ziemlich viel richtig macht?

Zweimal liefert der Hals bzw. Nacken das Motiv für die Bildersprache, die Bilder ganz eng beieinander, und doch Welten zwischen den Bedeutungen. Die Sprache verlangt uns die Entscheidung ab: Held oder Idiot! Dazwischen will sie keine Unschärfe. Und das Leben? Ist das Leben auch so? – natürlich nicht! Das Leben hält genau in der Mitte von beiden etwas Wundervolles für uns bereit: die Utopie.

Thomas Morus und sein Utopia

Utopien gibt es wahrscheinlich so lange, wie Menschen denken. Zu schön ist es doch, neben die täglich erlebte, harte, unwirtliche, langweilige, ungerechte, gefährliche, brutale, hässliche Welt etwas zu stellen, das weniger langweilig, das schöner, friedvoller, gerechter oder wie auch immer aufregender und anders ist. Utopien sind keine Mythen. Die merkwürdigen Wesen, mit denen es Odysseus auf seiner Irrfahrt zu tun hatte, sind keine Utopien, denn sie wurden ja "geglaubt", wenn auch vielleicht mit einem Augenzwinkern. Somit gehörten sie zur Wirklichkeit. Utopie dagegen erhebt definitiv nicht den Anspruch, Wirklichkeit zu sein. Aber auch nicht den Anspruch, Wirklichkeit werden zu können? Das genau ist der springende Punkt. Nehmen wir den ewigen Traum vom Fliegen: vom antiken Mythos und Märchen über den utopischen Reisebericht von Lukian im zweiten Jahrhundert, hin zu den "konkreten Utopien" der frühen Pioniere, die dafür Kopf und Kragen riskierten, und von dort weiter bis zum Kurzstreckenflug heute – mit dem utopischen (?) Traum, den Himmel wieder etwas leerer statt immer noch voller zu bekommen.

Thomas Morus, geb. 1478, ein Zeitgenosse und Freund von Erasmus, hat viel nachgedacht über die Unordnung und Ungerechtigkeit in der Welt und darüber, wie man eine bessere Welt denken könnte, eine utopische, eine mit rationaler Gesetzgebung, Abschaffung von Privateigentum und einer an der Friedenssicherung orientierten Außenpolitik. Die hat er dann aufgeschrieben, als Utopie, und sie in manchen Punkten so verfremdet, dass sie als Roman durchgehen konnte und nicht zwingend als politisches Manifest gelesen werden musste. Und ganz nebenbei hat er zum Text gleich noch den Begriff geliefert, der den Text längst überlebt hat: UTOPIA. Sein damaliges Utopia war freilich etwas anderes als das, was wir daraus abgeleitet haben und seither benutzen. Es war die kürzest mögliche Form einer contradictio in adiecto, also einer Vorstellung, die sich selber vom Tisch nimmt, sobald sie dort hingelegt wird, wie schwarzer Schimmel. Bei Utopia nämlich passiert dieser Selbstwiderspruch in einem einzigen Wort. In ihm stecken zunächst die griechische Verneinung "U" und der Ort ("Topos"), zusammen also der Nicht-Ort. Dazu aber, und das ist der Clou daran, mit der Endung -ia der Hinweis, dass es sich um eine konkrete Örtlichkeit oder Region handle, so wie bei z.B. Gallia oder Germania: Utopia ist der real existierende Ort, der keinen Ort besitzt. Und so kommt auch die Handlung der Geschichte daher: Einerseits real, ohne jedoch örtlich identifizierbar zu sein. Und ganz nebenbei ergab sich für anglophone Ohren noch der Gleichklang von U- als Verneinung und Eu- mit der Bedeutung gut, so dass aus dem Nicht-Ort akustisch ein glücklicher Ort werden konnte. Ganz schön raffiniert gemacht von diesem Thomas Morus! Zumindest für den Moment hatte er sich dadurch auch größeren Ärger erspart. Doch feige war er trotzdem nicht: Als es später politisch eng wurde, blieb er standhaft und nahm für seine Unbeugsamkeit auch die Hinrichtung in Kauf (1535 durch Heinrich VIII). Wobei übrigens der Weg von Thomas Morus zurück zu Lukian, dem originellen Satiriker und Fabulierer der Spätantike, nicht lang ist. Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam und waren gemeinsam große Freunde jenes hintergründigen und hinterlistigen Spaßvogels. Wie Thomas Morus, der selber Texte von Lukian übersetzt hat, war nämlich auch sein Freund Erasmus der Satire nicht abgeneigt. Mit seinem gegen alle Institutionen Stände völlig respektlosen Lob der Narrheit hat er es höchst vergnüglich unter Beweis gestellt. Zugleich war er dem Pazifismus "utopisch" verpflichtet. Seine wichtigste pazifistische Schrift ist die Klage des Friedens, und auch in seinem Fürstenspiegel (vgl. Zettel Nr. 8) ließ er an seiner pazifistischen Haltung keinen Zweifel.

Walden und die Folgen

Henry David Thoreau (1817 bis 1862) war wirkmächtiger, als der eher geringe Bekanntheitsgrad seines Namens vermuten lässt. Immerhin findet sein Hauptwerk Walden, in welchem er sein zwei Jahre dauerndes, spartanisches Leben am Walden-Teich essayistisch aufbereitet hat, bis heute begeisterte Leser. Manche gehen so weit, in Thoreau neben Karl Marx den zweiten Urheber einer weltweiten Sozialutopie zu sehen, der man freilich, um den Anspruch zu begründen, von der Flower Power Bewegung bis zu Mahatma Gandhi ein buntes Spektrum von Inkarnationen zuordnen müsste. Trotzdem, etwas Verbindendes ist da: Die konkrete Utopie. Thoreau ging ihr nach, vor allem in seinen Schriften, während seine Handlungen eher symbolisch blieben – eine Nacht im Gefängnis, die ihm viel Resonanz bescherte. Könnte es nicht eine Regierung geben, schrieb er um 1848, in der nicht die Mehrheit über falsch und richtig befindet, sondern das Gewissen? – in der die Mehrheit nur solche Fragen entscheidet, für die das Gebot der Nützlichkeit gilt? Muss der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat denn dann jeder Mensch ein Gewissen? Triebfeder für ihn war vor allem die legale Sklavenhaltung, durch die er den Staat moralisch diskreditiert sah. Utopie? Damals ja, aber die Zeiten wandeln sich – zum Glück! Gandhi, inspiriert von Thoreau, verfolgte seine Utopie "fundamentaler", mit einem unmittelbareren Anspruch und mit mehr unmittelbarer Wirksamkeit. Wenn irgendein Irdischer je der Utopie, dass Frieden möglich wäre, ein Gesicht gegeben hat, dann war es der kleine Mann, der sich halb nackt den englischen Besatzern entgegenstellte und der noch im hohen Alter die allmählich in gegenseitige Feindschaft versinkenden Inder und Pakistanis durch sein bloßes Fasten zum Frieden "zwang", eine Zeitlang wenigstens – Utopie eben.

Utopie, der Pfahl im Fleisch der "Realität"

Fliegen können, weltweit friedlich zusammenleben, den Rhythmus der Natur wieder fühlen, ein Perpetuum Mobile bauen, Gold aus der Retorte – einige der großen Menschheits-Utopien, so unterschiedlich wie das Leben und die Geschichte. Utopie, wenn sie wirklich eine ist, ist ergebnisoffen und sehr geduldig. Beim Flugzeugbau und in der Frage des Perpetuum Mobile sind die Dinge entschieden. Wer hier noch von Utopie spräche, müsste ein paar Jahrhunderte Wissenschaftsgeschichte verschlafen haben. Und beim Frieden? Es wird sehr schwer werden, und die Chancen gehen gegen null. Aber: Wo stünde die Welt, wenn es nicht immer Menschen gäbe, die von der Utopie Frieden beseelt zumindest kleine Inseln schaffen, auf Zeit, wie alles Irdische auf Zeit angelegt ist?!

Sowohl im Politischen als auch in den kleinen Dingen des Alltags verkommt Utopie manchmal zum Totschlagwort, zum Ideenvernichter, zum Mutnehmer. Die offene Frage ist jeweils nur: Wann trifft diese Kritik zu, und wann nicht? Das führt zurück zu den anfänglichen Überlegungen. Ist Peter Bichsels Mann, der es genau wissen wollte, wie sich das mit der Erde nun verhält, ob sie wirklich rund ist, oder vielleicht doch nicht rund – ist dieser Mann halsstarrig oder hartnäckig, dumm oder heldenhaft? Eine wirkliche Utopie zu verfolgen bedeutet, ein Dasein in der undefinierten Mitte zwischen den beiden Attributen zu ertragen, sich intellektuell und vor allem auch sozial in der Grauzone aufzuhalten, an jenem zwielichtigen Ort, für den wir kaum eine adäquate Bezeichnung finden. Aber hie und da gehe ich vor das Haus und schaue nach Westen, sagt Peter Bichsel, und ich würde mich doch freuen, wenn er eines Tages aus dem Wald träte, müde und langsam, aber lächelnd, wenn er auf mich zukäme und sagte: "Jetzt glaube ich es, die Erde ist rund".

Wie stünden wir Menschen da ohne die großen Geister vieler Jahrhunderte, die sich nicht scheuten, ihr gesamtes Dasein in dieser Grauzone zu fristen, aus der sie vielleicht erst lange postum, vielleicht erst nach Jahrhunderten, befreit wurden? Für sie alle war die Utopie eine Freundin der Sehnsucht. Ohne die ganz große Inspiration, ohne Sehnsucht und Selbstvertrauen ist in der Sahelzone des Denkens kein Leben möglich. Und immer schwingt die ewig gleiche Frage mit: Wo hört das Genie auf, wo beginnt der Sonderling und Spinner? Wir können uns vorstellen, dass ein gewisser Anteil unter allen heutigen "Spinnern", sagen wir ein, zwei oder fünf Prozent, wie in allen Zeiten davor einer genialen Idee folgen, die nur (noch) niemand verstehen kann oder will. In Antoine de Saint-Exupérys Geschichte vom kleinen Prinzen tritt der orientalische Wissenschaftler auf, der allein aufgrund der Kleidung zum Spinner erklärt wird und ein Jahr später mit einem anderen, "passenden", westlichen Outfit den schon vorher verdienten Beifall erntet. Was auch immer die jeweiligen Mechanismen sind: Die entscheidende Frage ist doch: Wie finden wir jene ein, zwei oder fünf Prozent? Wie können wir es erreichen, dass wir kurz innehalten, bevor wir einen Gedanken mit einem wegwerfenden Utopie!!! zertreten? – Augenblicke, in denen wir uns fragen, ob jene Idee nicht doch ein wenig Offenheit verdiente? Zwar vielleicht nur kurz, denn 95 Prozent verdienen es ja am Ende doch nicht, ernstgenommen zu werden, aber trotzdem offenen und ehrlichen Herzens. Und könnten wir dann nicht auch mit unseren eigenen Träumen, Sehnsüchten und Utopien etwas milder umgehen, uns selbst offener begegnen und nicht gleich ärgerlich abwinken, wenn uns ein Gedanke schräg von der Seite anspringt oder uns gar frontal ins Visier nimmt, völlig unbeeindruckt von der bisher so unumstößlich scheinenden Lebensplanung?

Alles nur ein Traum, eine Utopie? Meta-Utopie möchte ich dazu sagen, weil es eine Utopie ist, die ihrerseits Träume und Utopien zum Gegenstand hat.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 15.07.2021

Dr. Christian Thieme

Was soll eigentlich mal aus dir werden?

Was soll eigentlich mal aus dir werden? Erste Vorbemerkung: Wäre dies ein Buch, so würde sein erster Satz lauten: Dieses Buch ist kein Kochbuch. Und nun ist es aber gar kein Buch geworden, sondern nur eine Kolumne. Die könnte ja aber immerhin ein oder zwei Rezepte enthalten, wie mit diesem Tag, an dem sich sogar der jeweils amtierende Kultusminister genötigt sieht, die jährlich gleichen Tipps aus der Schublade zu ziehen und über das Radio auszustreuen --- ja, was ich als Eltern an diesem Tag am besten tun oder lassen soll.

Mir geht es heute nicht um jenen Teil der Erziehung, der zum Zweck hat, in sein Kind was reinzutun, damit am Ende was rauskommt – dazu mögen die Pädagogen statt meiner ihre Tipps und Empfehlungen geben. Für mich ist das nur der eine Teil der Erziehung, der einfachere. Eben wie beim Kochbuch. Nicht jeder wird ein Meisterkoch, aber ein leidliches Essen zu zaubern kann jeder lernen. Rezept würde also bedeuten: ich verändere das Objekt, also das Kind. Mir hier geht es um das Subjekt, um mich selbst. Heraus kommt: Erziehung als eine Haltung zu mir, zum Leben und damit zu anderen Menschen.

Zweite Vorbemerkung: Der Zeugnistag ist eigentlich ein recht unsinniger Tag, um sich vertiefte Gedanken über schulische Leistungen und Nicht-Leistungen zu machen, wo doch gerade alles "gelaufen" ist. Aber wenn es denn alle an diesem Tag tun …

Es steckt ja auch eine herrliche Ambivalenz da drin. Herrlich ist sie, weil doch die Mehrzahl der Zeugnisse etwas zum Loben enthält, und die Kinder haben es auch wirklich verdient und erwarten es zu Recht, dass sie für die Arbeit eines ganzen Jahres Anerkennung und Lob erfahren.

Ambivalent ist die Ambivalenz, weil halt eben doch nicht alle Zeugnisse so sind, und weil sich manche Familien wirklich Sorgen machen, vielleicht an diesem Tag auch traurig sind, weil sie doch die günstigere Note erwartet hatten, oder wenigstens erhofft – und dann das.

Das Wichtigste, was Eltern an diesem Tag tun können, ist es, da zu sein, präsent zu sein. Für die glücklichen oder zufriedenen Kinder als Spiegel, aus dem nämlich deren eigene Freude auf sie zurückstrahlt. SIE, die Kinder, haben es geschafft, sagt der Spiegel, für SICH SELBST, und DARÜBER freuen sich die Eltern. Der Satz ist so simpel, und hat doch eine so gewaltige Auswirkung! Er nimmt den Stolz, die Erwartungen und die Pläne der Eltern ein Stück weit aus dem Zentrum und schafft dadurch Raum für die Phantasien, Visionen und später Pläne der Kinder!

Und wenn es wirklich schlecht oder unglücklich gelaufen ist, sind die Eltern gerade kein Spiegel, aus dem die Traurigkeit und Verzweiflung der Kinder gnadenlos auf sie zurückfällt, sondern ein Baum, an dem sie sich festhalten können, der nicht umfällt, der niemals umfällt. Oder ein Regenschirm. Oder … Es gibt viele Bilder dafür, wie Familien damit umgehen können. Eltern haben an diesem Tag aus Kindersicht alles, was den Kindern selbst noch fehlt: Sie haben Erfahrung, sind stark im Leben, strahlen Vertrauen aus, Geborgenheit. Auch dann, wenn es ihnen selbst gar nicht so zumute ist.

Dritte Vorbemerkung: Jetzt wird es eng und heiß. Stimmt das denn, was ich gerade geschrieben habe? Sind Eltern so? KÖNNEN sie so sein? – Viele sind so und können so sein, vom Schicksal begünstigt und sorgsam im Umgang mit sich und ihren Angehörigen. Andere können es eigentlich nicht, und tun bzw. sind es doch. Sind sie die wahren Helden? Die Erinnerung an die Kinderbücher Erich Kästners steigt auf. In unserer Familie stehen sie noch im Schrank und ja, ich bekenne mich dazu: Auf mich hatten und haben sie eine Wirkung.

Geschichten, deren Handlung in der Vergangenheit spielt, von der Steinzeit bis zum Mittelalter, sind für Kinder gut zu lesen. Spielen sie aber in einer scheinbaren Gegenwart, die heute eine fremde Vergangenheit ist, wird es schwierig. Entweder fallen solche Bücher dem Vergessen anheim, oder sie überleben dank eines mehr oder weniger ausgeprägten Kult-Status‘ in den Herzen und Regalen der Erwachsenen. Emil und die Detektive und die anderen Kinderromane Erich Kästners sind so. Der Stoff, aus dem sie gewebt wurden, ist der des Anstands in einer zunehmend dreckigen Zeit – geschrieben von einem, wie ich überzeugt bin, guten Menschen, der freilich die Welt der Kinder und die Möglichkeiten ihrer Helden-Eltern in seinen Geschichten arg idealisiert gesehen hat.

Weil dies so ist, nehmen diese Gedanken den Wohlhabenden, den in rundum gesicherten Verhältnissen Lebenden kein Gramm ihrer Verantwortung für die anderen ab, weder politisch noch individuell. Es ist einfach eine Tatsache, dass nicht alle Eltern, die gute Eltern sein möchten, den Mut und die Kraft aufbringen (können!), es auch wirklich zu sein. Sie alle sind auf Hilfe angewiesen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Lernerfolg von Kindern aus schwierigen Verhältnissen nur ganz partiell vom Unterrichtsangebot bestimmt wird – gut, das mag vielleicht überzeichnet sein, dann nehme ich es als "Gegengewicht" zu manchen gegenläufigen Überzeichnungen. Natürlich, wenn das Unterrichtsangebot schlecht ist, wird der Erfolg entsprechend sein. Aber, und darauf kommt es mir an: Das reicht nicht. Der statistisch überdurchschnittliche Erfolg vieler Kinder aus begünstigten Verhältnissen scheint mir maßgeblich auf dem Gefühl zu fußen, auf der unerschütterlichen Gewissheit, dass ein breiter Rücken sie schützt und dass sie beim Start in ihr junges Leben keine Ängste zu haben brauchen, und genau das kann, wenn es von zu Hause fehlt, staatliche Bildungspolitik nicht voll kompensieren, egal, wie sie aussieht. Benötigt werden Menschen. Personen, die sich verantwortlich fühlen. Und ja, die Welt im Kleinen besser zu machen, ist weniger attraktiv als der politisch große Wurf. Scheinbar.

Eltern, die selber Ängste haben (müssen), geben Ängste weiter. Sie alle stark zu machen oder ihnen als Starker zur Seite zu treten, ist das Gebot des Zeugnistages. Nicht jeder kann helfen. Aber jeder sollte sich verpflichtet fühlen, seine Möglichkeiten immer wieder konkret zu prüfen und dann nicht nur bei Wahlen ein vermeintlich passendes Kreuz zu machen, sondern, wenn möglich, als Person zu handeln. Eine Freundin unserer Familie hat das noch mit über 90 unverdrossen weiter getan, und an sie denke ich, während ich dies schreibe.

Der Zeugnistag geht uns alle an!

Vierte Vorbemerkung: Wünsche sind erlaubt, und wer würde sich nicht wünschen, dass das eigene Kind auf dem Höhepunkt der Krise auf die verzweifelte Frage "was bildest du dir eigentlich ein! Was soll denn aus dir mal werden!" in wohlgesetzten Worten anhebt zu sprechen: Liebe Eltern, ich möchte vorausschicken, dass ich eure Sorge sehr gut nachvollziehen kann. Sie ist aber unnötig, denn ich habe einen klaren Plan. Ich werde das kommende Schuljahr wiederholen, das ist in meiner momentanen Verfassung günstig für meine weitere Entwicklung, und es geht ja auch sowieso nicht anders. Danach werde ich die Schule zügig abschließen, werde für 6 Monate ins Ausland gehen, eventuell auch ein ganzes Schuljahr im Ausland absolvieren, das steht noch nicht ganz fest. Danach werde ich studieren, promovieren mit Auszeichnung und mit 40 Partner in einer Unternehmensberatung sein" – "Auch so, dann ist ja alles gut. Schön, dass wir darüber gesprochen haben".

Eltern sein heißt nicht, vom Jugendlichen beruhigt zu werden, das ist banal. Aber verhalten wir uns nicht alle im Leben, soweit wir es mit Nachkommen zu tun haben, ab und zu genau so? Ist es nicht ein Urbedürfnis, dass irgendwann die gute Fee kommt und den Dauerdruck, der auf uns lastet, wenigstens für eine Zeit lang von uns wegnimmt? Und nachts einflüstert, dass wir alles richtig gemacht und genau die passenden Entscheidungen getroffen haben?! Die obige Persiflage soll nur vordergründig zum Schmunzeln anregen. Eigentlich ist sie ernst gemeint. Und niemand braucht sich zu verstecken, wenn der Druck so groß erscheint, als wäre er nicht mehr zu ertragen.

Fünfte Vorbemerkung: Kinder sind keine Erntehelfer. Der Kampf um die Familienehre – was auch immer jemand darunter verstehen mag! – wird nicht über die Zeugnisse der Kinder zu führen sein. Die Frage "was um Himmels Willen wird Onkel Kasimir zu diesem Zeugnis sagen" ist definitiv keine Frage. Die Steigerung dazu ist die Drohung: Warte nur, wenn (Person X) dieses Zeugnis sieht – aber dann!

Ist das nicht grausam? Zunächst nimmt es der Person X doch die Möglichkeit, eine schönere Rolle einnehmen zu dürfen als die des Hau-Drauf, des bad cop. Vielleicht hätte X ja helfen können? Aber schlimmer noch: Mit diesem Zeugnis, so lernt das Kind, ist es der Willkür jenes X ausgeliefert. Die schützende Hand der Eltern reicht nicht einmal bis zu jenem X. Soll ich Kind damit unbeschwert ins nächste Schuljahr starten?

Ist es nicht schöner, seinem Kind aus einer festen inneren Ruhe heraus sagen zu können: Pass auf, dies hier und das da hast du super hinbekommen! Dass ist DEINE Leistung! Freu dich darüber! Und das hier, du weißt schon, das wird im nächsten Jahr unser Problem. Daran werden wir arbeiten. Bis sich dann dereinst hoffentlich der Erfolg einstellt – dann gehört er wieder dem Kind.

Vorletzte Vorbemerkung: Und nun? Was sage ich denn meinem Kind? Wie geht es weiter? Was darf es hoffen? Welche Ziele haben wir jetzt? Der Nachteil von Vorhersagen, so Karl Valentin, ist, dass sie sich auf die Zukunft beziehen. Mit einer tollen Vision kann ich – heute – alle Herzen gewinnen. Aber: Ich muss sie morgen einlösen können! Ich muss so hoch zielen, dass es unter Aufbietung aller Kräfte gerade noch klappen kann. Verantwortbares Risiko sozusagen. Ein Herzkranker muss nicht für den Marathonlauf trainieren. Es ihm einzureden, ist inhuman. Aber vielleicht braucht man ja nicht für jede Sportart einen Hochleistungs-Kreislauf.

Letzte Vorbemerkung: Nun ist mein Kind aber stinkfaul, frech, unzugänglich…? – Vorsicht vor Schubladen. Und wenn es drin ist: wie ist das Kind denn dort reingekommen? War es als Neugeborenes schon stinkfaul? Mit einem Jahr? Mit zwei? … ? Wo ist der Punkt gewesen? Was will es mit der "Faulheit" vielleicht sagen? Welche Ängste hat es möglicherweise? Das muss ja nicht direkt mit der Schule zu tun haben. Lösungen brauchen manchmal langen Atem. Und einen breiten Rücken. Zusammen ist das: Selbstvertrauen der Eltern, und Liebe.

Und damit ist alles, was über das Zeugnis und seine Entstehung nach hinten zu sagen ist, in die Vergangenheit hinein, auch wirklich gesagt.

Nach so vielen Vorbemerkungen nun endlich die Kolumne:

Freuen Sie sich über alles, was Ihren Kindern oder Enkeln geglückt ist! Und halten Sie Ihre Rolle da aus, wo sie manchmal weh tut. Seien Sie groß für Ihre Kinder! Notfalls ein (kleines) Stück größer, als Sie sich fühlen! Vergessen Sie nicht, sich in Abständen selbst zu beobachten: Bin ich auf dem Weg, wo ich hinwill?

Und behalten sie Ihren langen Atem. Wirklich beruhigt zurücklehnen kann sich, wer das jüngste Kind im ---- Altersheim untergebracht hat! Aber bis dahin soll der Weg doch Freude bereiten, für beide Seiten.

Post Scriptum: Wer selber Kinder hat, sollte es sich eigentlich Lebenslang verbieten, über Erziehungsthemen zu schreiben. Denn was gibt es denn peinlicheres, als montags an dem gemessen zu werden, was sonntags in der Kolumne steht?! Dieser Gedanke schafft nach so vielen Vorbemerkungen wenigstens noch Raum für eine Nachbemerkung, die zugleich mein Schreiben zu diesem Thema legitimieren könnte:

Nachbemerkung: Selbstvertrauen und Zuversicht helfen vor allem dann, wenn sie sich mit Demut vor den eigenen Schwächen, Defiziten und Fehlern verbinden. Das ist die Arbeit an mir selbst, die vielleicht den Kern von "Erziehung" ausmacht. Durch sie werden Selbstvertrauen und Zuversicht ein wenig glaubwürdiger, und dann darf jemand vielleicht auch etwas idealisierend darüber schreiben – ganz so, als wäre das alles im Alltag ein Kinderspiel…

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 18.06.2021

Dr. Christian Thieme

Kinder impfen oder nicht: eine philosophische Frage

Kinder impfen oder nicht Im Kreis meiner Familie entspann sich ein Dialog zur Frage, ob denn nun alle Kinder, für die der Impfstoff zugelassen ist, ausnahmslos gegen Corona geimpft werden sollen, oder ob nicht besser der STIKO-Empfehlung zu folgen sei, die als das zuständige wissenschaftliche Gremium dazu rät, Kinder nur beim Vorliegen bestimmter Risiken zu impfen.

Die Kriterien, die ich als Nicht-Fachmann zur Verfügung habe, um mir ein persönliches Urteil zu bilden, sind verwirrend vielschichtig.

Die Ebene der Ordnungspolitik

Auf der "ordnungspolitischen" Ebene scheint die Sache klar: Fachleute sprechen zu Fragen der Fachlichkeit, und die Politik sortiert, ordnet und gewichtet dort, wo unterschiedliche Fachlichkeiten zu konträren Empfehlungen führen. Um ein Beispiel zu geben: Wenn Epidemiologen bestimmte Empfehlungen zum Schutz vor Corona aussprechen und Virologen andere, die vielleicht kompatibel sind, vielleicht aber auch nicht so ganz, und wenn dann Kinderärzte, Jugendpsychiater und Pädagogen aus der jeweiligen Sicht für Kinder nochmals andere Akzente setzen, im Widerspruch zu den Vorherigen und widersprüchlich vielleicht auch untereinander, und wenn dann noch die Intensivmediziner ihre Sicht beisteuern, ist die Politik gefragt. Das ist pragmatisch unvermeidlich, und ich möchte an dieser Stelle nicht der sein, an dem die Sache schlussendlich hängt. Herr Drosten hat aus diesem Grund schon ganz früh darauf hingewiesen, dass am Ende die Politik entscheiden muss, und ich weiß nicht, wie viele ihm das abgenommen haben. Die Vorstellung, dass Wissenschaft zielgerichtet, irrtumsfrei und in den Schlussfolgerungen für das praktische Handeln eindeutig sein müsse, ist nur allzu verführerisch.

Ob die Kriterien, nach denen Politik am Ende ihre notwendigen Entscheidungen findet, immer anständig und sachgerecht sind – nun, wenn es so wäre, hätte der Beruf des Politikers vielleicht ein weniger problematisches Image. Aber darum geht es jetzt nicht. Entlastend, oder besser gesagt: resignierend, müsste man dazu, wollte man die Frage vertiefen, zunächst feststellen, dass der Anstand von Politikern in einer demokratisch verfassten Gesellschaft immer an das Maß von Anstand gebunden ist, mit dem das Wahlvolk ihr politisches Handeln an der Urne beurteilt und bestimmt – vergleiche: Wir schaffen das.

Ordnungspolitik. Die Aufgabe, die unvermeidliche Vielfalt zu kanalisieren, ist keine geringe, das sieht man frei Auge. Was aber passiert wirklich? – wir werden schlecht regiert, und zwar quer durch die Parteien, denn auf Länderebene sind ja quasi alle irgendwo beteiligt. Gäbe es die Option, die ganze Corona der Ministerpräsidenten – welch schönes Wort dafür! – auf einen Schlag abzuwählen und in die Wüste zu schicken, so hätte sich dafür phasenweise wohl mühelos eine Mehrheit gefunden. Die Frage ist nur: Finden sich danach bessere? Angesichts der Einmaligkeit der Aufgabe ist eine gewisse Milde schon angezeigt. Vorwerfbar wird es dort, wo regionale oder parteipolitische Egoismen im Vordergrund zu stehen scheinen. Und vorsichtig formuliert möchte ich sagen: dieser Faktor ist nicht gleich Null. Wenn aber Corona zum Vehikel gemacht wird – der eine Kandidat gegen den anderen usw. –, werden die Leute sauer. Und das schlimme ist: nicht nur sauer, sondern auch misstrauisch gegen alles, was von "denen da" noch kommt.

Aber es ist noch viel schlimmer. Versagt hat nicht nur die Politik bei der Aufgabe, ihre Ordnungsfunktion wahrzunehmen. Der gleiche Hang zu sachfremden Motiven findet sich in abgeschwächter Form auch auf der Expertenseite. Dass ein Epidemiologe und ein Jugendpsychiater kraft der jeweiligen Fachkunde widersprüchliche Vorstellungen über den Umgang mit den Kindern in der Pandemie entwickeln, und beide Sichten in ihrer jeweiligen Welt berechtigt sind, das hatten wir oben schon. Betrachtet man aber die hemmungslose Kakophonie des Expertengewirrs in ihrer ganzen Schönheit, wobei gerade auf den Trittbrettern besonderer Betrieb zu herrschen scheint, vielleicht auch stimuliert von den Medien, die es spannend und "kontrovers" haben wollen, und ab und zu auch neue Gesichter brauchen… – Kurzum: Alles in allem gab und gibt auch die Fachlichkeit kein gutes Bild ab. Manchmal sind es gerade Ärzte, die, vielleicht politisch in irgendeine Richtung motiviert, vielleicht nur aus besonderem Engagement heraus als subjektiv gefühlte "Experten" Statements abgeben, die vom jeweiligen Teilaspekt ihres ärztlichen Wissens, das von der Spezialisierung abhängt, zu null Prozent abgesichert sind, und trotzdem mit hundertprozentigem Anspruch vorgetragen werden.

Und diese Kakophonie der selbsternannten und echten Experten wiederum verschlimmert die Verhältnisse auf der Seite der Politik. Bei dem, was sie unaufgeregt, rational begründbar und im Auftreten überzeugend hätte regeln sollen und weiter soll, verdient sie bestenfalls eine "vier minus". Was aber beispielsweise den Gesundheitsminister nicht daran hindert, dort regulierend einzugreifen, wo er weder fachliche noch politische Kompetenz besitzt, nämlich zum Beispiel bei der Frage der Kinderimpfung. Angesichts der Kaltschnäuzigkeit, mit der er bisherige Fehlleistungen weglächelt – am Anfang sprach er von "Lernkurve" – mag er selber beurteilen, welche Relevanz seinem politischen Votum zur Impfung von Kindern noch zukommt.

Fazit: Die Ebene der Ordnungspolitik ist in Sachen Corona an allen Ecken und Enden aus dem Leim gegangen. Und dabei unterscheidet längst keiner mehr, ob es gerade um Lock down, Masken, Impfstoff, Testung, Apps, Schule, Impfstrategie oder weiß ich was geht. Das Vertrauen in die Qualität unseres Umgangs mit der Pandemie ist insgesamt den Bach hinunter – zur diebischen Freude all derer, die mit ihrer Kritik komplett andere Ziele verfolgen als einen guten Gesundheitsschutz. Die sind von mir so weit entfernt wie der äußerste und finsterste Planet unseres Sonnensystems. Meine Aussage, dass niemand den Gesundheitsminister nach seiner Meinung zum Kinderimpfen gefragt hat, weil er dafür nicht gemacht ist, sagt im Übrigen nichts darüber aus, ob er zufällig Recht hat oder zufällig nicht. Wer sich auf politisch motivierte "Empfehlungen" verlässt, die aus diesem Hexenkessel entweichen, wird ein schales Gefühl schwer vermeiden können – auch wenn den meisten Menschen nichts weiter übrigbleibt, als sich in der Pandemie immer wieder nolens volens an den Statements und Vorgaben der Politik zu orientieren.

Fakten

Kritisiert habe ich nicht, dass die Corona-Pandemie zu großen Teilen in wissenschaftliches Neuland geführt hat. Das wäre ja auch blanker Unsinn. Gefordert habe ich daher auch nicht, dass die Politik am besten schon vor anderthalb Jahren den Fundus an Wissen zur Verfügung gehabt haben sollte, der sich gerade in kleinen, mühseligen Schritte auf- und manchmal ein Stück weit auch wieder abbaut. So ist Wissenschaft, und darum ist die Aufgabe der Politik in der Tat schwer, schwer in den Entscheidungen und noch schwerer bei deren Kommunikation. Menschen wollen keine Ungewissheiten, sondern klare Ansagen, die ihnen niemand geben kann, ohne zu lügen.

Wie aber verhalte ich mich, wenn mir eine gute Fee die Fähigkeit gibt, das heute verfügbare Wissen komplett im Blick und im Kopf haben zu dürfen? Die Fähigkeit, alles heute existierende Wisse über Corona zu wissen, und auch von dem, was andere fälschlich für Wissen halten, zu wissen dass es falsch ist, und drittens genau die Punkte zu kennen, von denen wir wissen, dass sie heute definitiv nicht gewusst werden, und dieser Satz muss tatsächlich so vertrackt daherkommen. Das liegt daran, dass wir manche Fragen erst dadurch erkennen, dass uns das Leben eines Tages die Antwort präsentiert, die dann vielleicht gar nicht gut aussieht. Gerade bei der Frage der Impfstrategie ist dieser Aspekt wichtig. Wäre die Fee, die mich so ausstattet, wirklich eine gute Fee? In welcher Lage wäre ich als der alles "Wissbare" Wissende, den die Welt folglich für in Sachen Pandemie allwissend hält, und der doch täglich unter nichts so sehr leidet wie unter seinem Nichtwissen? Oder der sein Wissen gern verbreiten möchte, dem aber so wenig geglaubt wird wie einst der Kassandra (deren "Kassandrarufe" ja alle wahr gewesen sind! Gerade darin, dass niemand ihr glaubte, was sie deutlich sah bestand ja der grausame Fluch der Götter, der auf ihr lag. Erginge es ihr denn heute besser?).

Die Pandemie wartet nicht, bis die Menschheit soweit ist. In einer heilen Welt könnten Politik, Wissenschaft und Medien im Klima gegenseitigen Vertrauens gemeinsam an Lösungen für jeden Tag arbeiten, immer wieder neu und immer etwas besser als gestern. Warum es so nicht funktioniert, siehe oben. Als Individuum, das sich dem Hexenkessel der Vorgaben und Meinungen wenigstens nicht gänzlich schutzlos ausliefern möchte, kann ich nur versuchen, mich dem feenhaften Wissens-Optimum nach meinen Kräften so weit wie möglich zu nähern, Das zu versuchen, ist aller Ehren wert und jeder, der kann, ist aufgerufen, es auch wirklich zu tun.

Und was, bitte, ist damit gewonnen?

Wenn ich den Abschnitt mit der Feststellung eröffne "Ab jetzt wird es philosophisch", lesen manche das vielleicht so, als hätte ich geschrieben "An Ende kann sowieso jeder machen, was er will". Das entspricht zwar einer landläufigen Vorstellung, ist aber nicht gemeint.

Beginnen wir mit der übersichtlichsten Variante. Nehmen wir an, dass alle für die Entscheidung wesentlichen Fakten zur Kinderimpfung bekannt seien: Wie viele Kinder werden durch die Impfung beeinträchtigt oder geschädigt, welche Langzeitfolgen der Impfung wird es wie häufig geben, und so fort, und die analogen Tatsachen auch für die geimpften Kinder: Erkrankungsrisiko, Prognose, Spätfolgen und so fort auch hier. Dann wäre doch alles klar, und die Wissenschaft könnte entscheiden, was zu tun ist – oder etwa nicht?!

Natürlich wird die Wissenschaft dann etwas dazu sagen, und das wird schließlich auch von ihr erwartet. Aber sie wird dabei Maßstäbe anwenden, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Sie wird nämlich Abwägungen treffen müssen dahingehend, welche und wie viele Schäden bei den Geimpften hingenommen werden können, um auf der anderen Seite welche und wie viele Schäden zu vermeiden, die Corona ohne Impfung verursacht hätte.

Angenommen, durch Impfen würden – wir simulieren ja gerade die Situation, alles Relevante zu wissen – eintausend schlimme Ereignisse verhindert um den Preis, dass durch das Impfen ein vergleichbar schlimmes Ereignis induziert wird. Also tausend gegen eins. Ist die Frage dann nicht entschieden, ganz ohne Philosophie? Ich persönlich würde mich auf die Seite derer stellen, die mit ihrem Urteil bei "tausend gegen eins" nicht zögern und keine Bedanken haben, die Impfung zu unterstützen. Aber ich weiß, dass ich damit eine philosophische Entscheidung getroffen hätte, keine "wissenschaftliche"! Wissenschaft kann Fakten liefern, und tut es auch. Aber sie bewertet sie nicht. Bei jeder Bewertung beginnt die Philosophie! Am besten erklärt sich dies mit der Gegenposition. Sie würde lauten: Niemand ist berechtigt, das Leben eines Menschen zu opfern, um andere Leben zu retten, unabhängig von den Zahlen - opfern? Wer sich als Erwachsener impfen lässt, entscheidet selbst. Über Kinder dagegen wird von Dritten entschieden. Der Unterschied spielt epidemiologisch betrachtet keine Rolle, aber ethisch gesehen bedeutet er etwas. Es liegt mir daher trotz meiner klaren Positionierung fern, das ethische Problem kleinzureden. Aber Achtung: wir sprachen über ein erfundenes Beispiel, nicht über tatsächliche Fakten zum Impfen, allein schon deshalb, weil es beim Kinderimpfen solche Daten nirgends nicht gibt. Und deswegen ist die Ethik hier noch verzwickter. Neben der Abwägung der anzunehmenden Effekte müssen wir nämlich entscheiden, wie wir damit umgehen, dass es Risiken geben könnte, von denen wir heute weder wissen ob es dazu kommen kann, noch wie sie genau aussehen könnten und nach wie vielen Monaten oder Jahren damit zu rechnen ist, dass sie zuschlagen.

Die Verschiedenheit des möglichen Umgangs mit dieser Art von Problem lässt sich anhand des vor Jahren gescheiterten Freihandelsabkommens mit den USA beschreiben. Während in USA das Prinzip gilt, dass hypothetische Risiken so lange unbeachtlich seien, bis etwaige Schäden empirisch belegt würden, gilt in Europa das Vorsorgeprinzip, demzufolge so lange von einer potenziellen Gefährlichkeit auszugehen sei, bis genügend Erfahrungen vorliegen, um die Bedenken zu zerstreuen. Als Beispiel sei der Umgang mit einem chemisch in bestimmter Weise behandelten Lebensmittel genannt, wenn diese Behandlung nach allen bisher verfügbaren Daten zwar unschädlich ist, während theoretisch plausible Bedanken zu Langzeitfolgen aktuell nicht überprüft werden können.

Das Kinderimpfen gehört zu dieser Sorte von Entscheidungen. Neben der oben dargestellten ethischen Bewertung der einzelnen Nutzen- und Schadensfälle bedarf es zusätzlicher Annahmen über alle unbekannten Faktoren, sowohl bezogen auf das Impfen als auch bezogen auf die Krankheitsverläufe und möglichen Spät- oder Langzeitfolgen bei ungeimpft erkrankten Kindern. Da bleibt nicht viel übrig, woran man sich noch festhalten kann.

Und damit sind wir bei der hoch komplexen Situation angelangt, in der sich die STIKO, das zuständige wissenschaftliche Gremium, bei Abgabe der Empfehlung (oder jeder anderslautenden Empfehlung) befunden hat und weiter befindet.

Was also kann ich tun, wenn ich für eigene Kinder entscheiden muss?

Kurz und bündig sind es drei Dinge.

Ich könnte erstens prüfen, ob ich den Personen, den Mitgliedern des Gremiums, aufgrund der zugänglichen Informationen trauen kann. "Trauen" ist etwas weniger als "vertrauen", denn ersteres orientiert sich allein an der Integrität der Person, letzteres hingegen umfasst auch die Übernahme ihrer Empfehlung. Dafür aber braucht es zwei weitere Schritte. Diesen ersten Schritt habe ich eher pro forma aufgeführt. Vielleicht unterstreicht er nur das Glück, in einem zwar kakophonen, aber doch in den Grundlagen gefestigten Rechtstaat leben zu dürfen. Auch der kann zwar schwarze Schafe nicht verbieten, aber er kann dafür sorgen dass sie möglichst wenig Raum bekommen und möglichst bald entdeckt werden. Konsequenz: in den ersten Schritt würde ich nicht allzu viel Aufwand stecken.

Im zweiten Schritt könnte ich mich vergewissern, ob alle mir bekannten oder zugänglichen Aussagen, die diskutiert werden und mir relevant erscheinen, in der Begründung vorkommen – entweder zur Absicherung der Empfehlung oder bei Nichtberücksichtigung in Form einer angemessenen Begründung. Ob die aktuelle Empfehlung dies leistet? – ich habe es mangels Bedürfnis nicht untersucht.

Nun der dritte, entscheidende Schritt. Hier geht es um die genaue Betrachtung der ethischen Kriterien, nach denen die Abwägungen in Unsicherheit getroffen wurden. Wenn mich die Begründung ethisch überzeugt, dann rät der Philosoph in mir, der Empfehlung zu folgen, sofern im zweiten Schritt keine offensichtlich relevanten Fragen offengeblieben waren. Und was kann ich dazu tun: Ich kann mich zunächst vergewissern, dass die anstehenden ethischen Fragen von der STIKO erkennbar aufgenommen und nicht "pragmatisch" links liegen gelassen wurden. Weiter kann ich analysieren, nach welchem gedanklichen Ansatz grundsätzlich mit offenen Risiken umgegangen wurde: Am obigen Beispiel aus dem Außenhandel habe ich die beiden konträren Ansätze erklärt. Weiter kann ich prüfen, ob ich grundsätzlich mit dem Ansatz der Kommission zur ethischen Abwägung der beiderseitigen Risiken (Siehe das erfundene Beispiel mit "eins zu tausend") einverstanden bin. Und last but not least kann ich mir dann noch ansehen, welche Maßstäbe dort angelegt wurden, um die tatsächlich angenommenen beiderseitigen Risiken abzuwägen. Entsprechen sie dem, was in anderen Bereichen der Medizin und des allgemeinen Lebens als vertretbar angesehen wird – was zwar ethisch nichts "beweist", aber als pragmatische Hilfestellung trotzdem sinnvoll ist. So einfach wie bei "eins zu tausend" wird es da jedenfalls nicht immer sein.

Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich dem so zu widmen. Und selbst wenn, es gibt immer noch Steigerungen, denn die STIKO ist ja nicht das einzige kompetente Gremium. Auch in Brüssel wird gedacht und empfohlen, und nicht unbedingt gleichsinnig. So könnte man zusätzlich die Vorgehensweisen beider anhand des obigen Rasters miteinander vergleichen. Freilich kann nicht jeder in jedem Bereich des Lebens gleich kompetent oder engagiert sein. Praktisch gesehen wird es am Ende genügen, wenn die Qualität der Arbeitsweise stets von einer kleinen, aufmerksamen Minderheit kritisch verfolgt wird, zum Nutzen auch derer, die das selbst nicht leisten können.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 01.06.2021

Dr. Christian Thieme

Ehre! und Recht!
--- oder vielleicht doch lieber Freunde bleiben!

Bild von Freund- und FeindschaftBei allem Fortschritt hat sich das Wesen der Menschen doch kaum geändert, und darum ist Senecas Buch "de ira" heute so lesenswert wie damals. In meiner etwas älteren Ausgabe übersetzt sich der Titel mit "Über der Zorn", in einer neueren sah ich das lateinische "ira" als "Wut" interpretiert. Beides passt, denn Seneca schreibt tatsächlich über beides, wobei er präzise beobachtet und analysiert, was da im Menschen vor sich geht und wie man die heraufziehende Katastrophe rechtzeitig ausbremsen kann – oder soll ich sagen: könnte!? Über den Zorn schreibt er, der sich gemächlich aufbaut und vor sich hin grummelt, aber auch über die plötzliche Eruption, den Wutanfall im Affekt, der sich nicht mehr stoppen lässt, bis er endlich sein Ziel in jenem finalen Scherbenhaufen findet, den er klar vor sich sieht, gerade so wie beim Sturz vom Balkon, wenn man sich zu weit hinausgelehnt hat und die Bruchlandung kommen sieht, ohne sie noch aufhalten zu können.

Ohne negative Gestimmtheit, ohne Zorn oder Wutausbrüche kriegt man schwerlich eine Freundschaft kaputt, aber das allein genügt nicht. Es braucht einen Anker, an dem sich die negative Gestimmtheit festmachen kann, um zu Zorn oder Wut anzuschwellen: Eitelkeit und Stolz zum Beispiel, oder Neid und Habgier, oder gleich alles zusammen. Und nach dem Unglück braucht es ein entsprechendes Maß an Sturheit, um nicht reparieren zu wollen, was sich durchaus wieder reparieren ließe, oder genügend Hass, um es einfach nicht mehr zu können. So werden Eitelkeit, Stolz, Neid, Zorn, Sturheit und Hass zu Pflastersteinen auf dem tristen Weg in die innere Finsternis. Von all dem erzählt Nikolaj Gógol: Wie Ivan Ivanovitsch und Ivan Nikiforovitsch sich verzankten.

Ehre! – oder der bittere Streit der beiden Ivans

Eine ganz prächtige Pekesche hat Ivan Ivanovitsch! Und so eng ist seine Freundschaft mit Ivan Nikiforovitsch, seinem Nachbarn, als habe sie der Teufel in eigener Person mit Bindfaden aneinander gebunden, und dennoch können sie keine Freunde bleiben, weil sie es nicht wollen – oder war es umgekehrt: Sie wollen nicht, weil ihnen die Kraft dazu fehlt? Es ist eine Geschichte, wie sie das Leben täglich schreibt, und gerade darum ist sie gut. Wobei sich gute Geschichten in einer Hinsicht vom wirklichen Leben unterscheiden: Je älter die Geschichte, desto schöner die Haut, manchmal jedenfalls. Gógols Geschichte ist ungefähr 200 Jahre alt, und so fällt uns besonders die Betulichkeit der Sprache auf, die vor den Augen von uns Heutigen einen Hauch von Entrücktheit, ein Blumenmeer der Phantasie erstehen lässt, aber so raffiniert mit feiner Ironie und auch Situationskomik durchflochten, dass keine Zeit bleibt, sentimental zu werden:

In Mirgorod gibt es weder Diebstahl noch Gaunerei, darum hängt ein jeder über den Zaun, was ihm gerade einfällt. Wenn Sie näher zum Marktplatz kommen, …: es befindet sich auf ihm eine Pfütze, eine ganz staunenswerte Pfütze; … Sie nimmt beinahe den ganzen Platz ein. Eine ganz herrliche Pfütze! Die Häuser und Häuschen, die man von weitem für Heuhaufen halten könnte, stehen rings herum da und staunen über ihre Schönheit.

In diesem erzählerischen Ambiente wird die ekelhafte Brühe, die später Eimer für Eimer vor uns ausgeleert wird, besonders zur Geltung kommen. Denn so blumig wie die Erzählsprache war anfangs auch der Umgang der Freunde miteinander, bis zu dem Tag, an dem der eine Ivan den anderen jäh mit dem skandalösen Attribut Gänserich bewirft. Der Beleidigte, es ist Ivan Ivanovitsch, ist durch den Gänserich tief in seinem Stolz verletzt, so tief gar, dass den beiden trotz etlicher Anläufe und Vermittlungsversuche keine Versöhnung mehr gelingen will und er Klage einreicht, wider seinen Feind Ivan Nikiforovitsch, der ihn tödlich beleidigt hat, seine Ehre beleidigt hat!

Den Höhepunkt erreicht der Eklat, als Ivan Ivanovitsch seine schwarze Sau durchs Dorf rennen lässt, justament ins Gerichtsgebäude hinein, und justament in dem Augenblick, da Ivan Nikiforovitsch eben seine Klageschrift übergeben hatte und diese noch unverarbeitet auf dem Tisch lag – und wie es der Teufel will, frisst die schwarze Sau die Klageschrift auf.

Gänserich! Ivan Nikiforovitsch musste wissen, dass er sich mit diesem unglaublichen Wort ins Unrecht gesetzt hat. Gänserich ist eine Beleidigung, und dafür gibt es keine Rechtfertigung. Unter gesitteten Menschen werden Streitigkeiten nicht mit Verbalinjurien ausgetragen, und wie schwer die Beleidigung war, illustriert die Sprache mit ihren Floskeln und Höflichkeiten. Dennoch ist dies kein Freifahrschein für den Beleidigten. Ab einem bestimmten Punkt könnte er seine ursprünglich berechtigte Position so weit überdehnt haben, dass auch er sich ins Unrecht setzt, wenigstens moralisch – und so kam es auch.

"Lediglich" moralisch oder auch rechtlich? – das ist die Kernfrage für den weiteren Fortgang der Geschichte. Werden die beiden es darauf anlegen, die Sache wirklich bis zum Ende juristisch durchzufechten, oder besinnen sie sich rechtzeitig auf ihre einstige Freundschaft und die Ressourcen, die sie daraus ziehen können? Und auch darauf, dass doch die eigene Ehre niemals von jemandem Dritten beschädigt werden kann, sondern nur durch eigenes, ehrloses Verhalten?! Es sieht nicht gut aus. Ein letzter, groß angelegter Versöhnungsversuch der gesamten Gemeinde scheitert dramatisch im letzten Moment:

.... Nur noch eine einzige Minute der Aussprache – und die alte Feindschaft war drauf und dran zu erlöschen … "Erlauben Sie mir, Ihnen freundschaftlich zu sagen, Ivan Ivanovitsch … Sie haben mir weiß der Teufel was übel genommen, dass ich Sie nämlich einen Gänserich nannte" … Doch schon war es zu spät, alles ging zum Teufel! Wenn Ivan Ivanovitsch schon damals ergrimmte, … wie vollends jetzt, da das mörderische Wort in einer Gesellschaft ausgesprochen wurde, in der sich viele Damen befanden, vor denen Ivan Ivanovitsch sich besonderen Anstands zu befleißigen liebte.

Die sogenannte Ehre war im 19ten Jahrhundert eine gewaltige Sache, für die bei Bedarf sogar gestorben wurde. Arthur Schopenhauer hat in seinem Essay alles Notwendige dazu geschrieben – freilich erst ein halbes Jahrhundert später. So konnten unsere beiden Helden es also noch nicht besser wissen? Selbstverständlich konnten sie. Im Prinzip konnten sie sogar schon bei Marc Aurel, 1700 Jahre vor ihnen, das Nämliche finden, wenn auch nicht in der Sprache der Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts, sondern im eigenwillig-aphoristischen Stakkato des stoischen Kaisers. Aber muss man Humanität und Freundlichkeit wirklich erst aus Büchern lernen?

Summa summarum hat nicht nur der Beleidiger gute Gründe, in sich zu gehen und beizudrehen, sondern ebenso auch der, der beleidigt wurde – man achte an dieser Stelle auf den subtilen Doppelsinn von "der Beleidigte": entweder der, der beleidigt wurde, so benutzte ich das Wort weiter oben, oder aber der, der den Beleidigten gibt, der sich verkriecht und aus seinem Schneckenhaus nicht wieder herausfindet. Beleidigte Leberwurst sagen die Kinder zu einem, der nicht mehr mitspielen will. Unsere beiden Helden haben sich entschieden. Sie steigen hinab ins Dunkel der Gerichtsbarkeit. Werden sie zu ihrer beider Lebzeiten wieder hinaus- bzw. hinauffinden? Oder wollen sie ihre Freundschaft dort unten zu Grabe tragen? Es sieht nicht gut aus. Aber geben wir ihnen trotzdem etwas Zeit, sich letzter Sekunde zu besinnen!
Meine Version des Textes von N. Gógol entnahm ich der rororo-Ausgabe Russische Erzähler von 1957 (meine eigene Auflage ist von 1964). Der Essay von A. Schopenhauer, Von dem, was einer vorstellt, steht in den Aphorismen zur Lebensweisheit. Meine Ausgabe: Insel Taschenbuch 223, erste Auflage, 1976, S. 57-119.

Das nackte Recht! – oder Fünf und Drei, die beiden Freunde

Karl Meininger (meine Ausgabe: Das nackte Recht in: Ali Baba und die 39 Kamele, Oldenbourg-Verlag München und Berlin, 1941, S. 21-26) erzählt die Geschichte von zwei Hirten mit ihren acht Käslein. Eigentlich haben die beiden normale Namen. In meiner Version jedoch nenne ich sie, die langjährigen, engen Freunde, die gestern Abend wie immer ihre Käslein aßen, einfach Fünf und Drei, denn einer hatte diesmal fünf, der andere drei Käslein dabei, und diese Differenz ist die Basis aller Verwicklungen, die damit begannen, dass ein Fremder des Weges kam und darum bat, mitessen zu dürfen, was sie ihm freundlich gestatteten. Ihr Schaden sollte es nicht gewesen sein, denn als sie die Käslein verspeist hatten, jeder gleich viel, ließ ihnen der edle Fremde eine übermäßig hohe Belohnung zurück und ritt von dannen. Eine Ahnung steigt hoch: Sollte diese Belohnung doch noch ihr Schaden werden? Sagen wir, es waren Goldthaler, gerade acht Stück. Acht Thaler für acht Käslein? Oder genauer für acht Drittel Käslein, denn nur diesen Anteil hatte der Fremde ja verzehrt? Oder acht Thaler einfach für die Gastfreundschaft? Erklärt hat es der sonderliche Spender nicht. Wie also sollten sie teilen?

Als alte Freunde, die sie waren, wussten sie Rat. Du vier und ich vier, wir teilen nach der Freundschaft! Nun hielt dieser Rat aber nur bis zum Morgengrauen, denn Fünf hatte lausig schlecht geschlafen, und je länger er grübelte, desto schlimmer ward ihm zumute. Hatte er nicht fünf Käslein beigesteuert und der Drei nur drei?! Mussten ihm dann nicht auch fünf Goldthaler zustehen, und seinem Freund nur drei? Der folgende Tag verlief schrecklich, die Argumente flogen hin und her, die Meinungen verfestigten sich. Zu guter Letzt verabredeten sie sich in ihrer Hilflosigkeit, nicht aus Feindschaft, ihren Streitfall dem Richter vorzulegen, der ihn nach dem nackten Recht lösen sollte. Lassen wir den Richter nachdenken, und tun wir derweil das Nämliche:

(1) Wenn wir bedenken, dass die Belohnung um ein Vielfaches mehr wert war als die Speise, können wir schließen, dass der Fremde einfach zwei gute Menschen für ihre Gastfreundschaft auszeichnen wollte. Dann müsste die Aufteilung vier zu vier sein, und die Sache wäre erledigt. Anfangs dachten die Freunde ja auch so.
(2) Andernfalls muss der Richter davon ausgehen, dass der Fremde tatsächlich beide Hirten für exakt die Menge bezahlen wollte, die er von jedem erhalten hat. Aber was genau erhielt er von wem? Dazu werden Annahmen notwendig darüber, was die Hirten genau taten, dass der Fremde und sie selbst drei gleiche Anteile bekamen. Dafür gibt es drei Wege, deren Unterschied man kaum wahrnimmt, aber es macht einen Unterschied, ob (a) Fünf zuerst dem Drei ein Käslein schenkte und dann beide dem Fremden jeder vier Drittel gaben, oder ob sie (b) zuerst alle Käslein auf einen Haufen legten und jeder sich acht Drittel wegnahm, oder ob (c) beide Freunde dem Fremden ein Drittel von jedem Käse gaben und erst danach die Differenz unter sich ausglichen. Man sieht, dass hier Spitzfindigkeiten ins Spiel kommen, die vom normalen Leben eines normalen Hirten so weit entfernt sind wie der Mond. Diese gibt es auch nur in meiner Version der Geschichte.

Als Ergebnis kann sich entweder eine Aufteilung "vier zu vier" beim (a) ergeben, oder "fünf zu drei" bei (c) oder sogar "sieben zu eins" bei (b). Wer Lust und Liebe verspürt, kann die Varianten durchspielen, aber notwendig ist das nicht. Entscheidend ist, dass jeder der beiden Freunde legitime Gründe für seine Sicht der Dinge hatte. Was also wird der Richter tun?

Vorhang auf für das doppelte Finale!

Auftritt der beiden Ivans!
Und, wie haben sie sich entschieden? Versöhnung in letzter Minute oder Streit?
Klar, der Ablauf lässt nur den einen Endpunkt erwarten, das heillose Versinken im Streit. Und so kam es denn auch. Ivan Ivanovitsch und Ivan Nikiforovitsch verstrickten sich, nachdem wir sie allein gelassen, immer tiefer in ihren Streit, an den sie Jahre und Jahrzehnte ihres Erdendaseins ver(sch)wenden, auf Nimmerwiedersehen:

Wie aber hatte Ivan Nikiforovitsch sich verändert! "Wie geht es Ihnen, Ivan Nikiforovitsch? Doch wie sind Sie alt geworden. … Was Sie nicht sagen, Sie sind nach Poltava gefahren bei diesem Hundewetter?" "Was sollte ich sonst tun? Eine Plage! … Beunruhigen Sie sich nicht; ich habe die gewisse Nachricht, dass die Sache nächste Woche entschieden wird, und zwar zu meinen Gunsten". Ich zuckte die Achseln und ging weiter, um irgendetwas von Ivan Ivanovitsch zu erfahren. … Da erblickte ich eine dünne Gestalt. Wäre das Ivan Ivanovitsch? Das Gesicht war mit Runzeln bedeckt, die Haare völlig weiß; doch die Pekesche war immer noch die alte. … "Morgen entscheidet sich meine Sache ganz gewiss; das Obergericht hat es mir fest zugesagt"

Öd, meine Herrschaften, so resümiert der Autor, öd, ist es auf dieser Welt!
Beide Ivans ab.

Auftritt der armen Hirten!
Logik, Recht und Freundschaft! Wir sahen, wie unterschiedlich und trotzdem plausibel sich die Standpunkte beider Streitparteien darstellen lassen. Was werden sie nun bekommen: ein Urteil. "Sieben zu eins" entscheidet der Richter! Das ist logisch plausibel, und doch hätte er, ebenfalls logisch plausibel, auch anders urteilen können. Sieben Thaler für Fünf! Zwei mehr noch als erhofft! Glücklich verlässt er den Gerichtssaal, in der Tasche die erstrittenen Thaler. Glücklich? – länger als ein paar Minuten hält das Glück nicht vor, als er sieht, wie sein Freund Drei mit seinem einen hinterhertrottet. Mit einer Träne im Augenwinkel wendet er sich dem Freund zu und gibt ihm drei von seinen sieben zurück. So ist es besser, sagt er, vier für jeden. So teilen wir nach der Freundschaft statt nach dem nackten Recht! Die Freunde sind erleichtert, und wir, die wir gespannt zusehen mussten, am Ende wohl auch.

Nicht alles, meine lieben Freunde, ist öd! Findet sich nicht auch das Gute noch auf dieser Welt!?

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 03.05.2021

Dr. Christian Thieme

Zweimal "Fürstenspiegel":
Zwei Ethiken, und dahinter zwei Menschenbilder

Richtig gute Geschichten nehmen ihren Ausgangspunkt im klassischen Griechenland. Na ja, alle nicht, das will ich gern zugeben. Manche sind einfach nur modern, und das wäre ja auch schlimm, wenn es solche nicht gäbe. Und andere sind zwar auch sehr alt, aber nicht von "hier", also nicht aus der Wiege Europas. Nehmen wir Sunzi, den chinesischen General mit seiner "Kunst des Krieges", geschrieben um 460 v.Chr..

Gleich in der Einleitung führt der Text in großer Brutalität vor, was militärische Disziplin zu bedeuten hat. Unter dem ausdrücklichen Protest des Kaisers lässt Sunzi dessen beide Lieblingskonkubinen enthaupten, und dies allein zum Zweck einer lächerlichen Demonstration von Macht und Befehlsgewalt. "Befehl ist Befehl" oder: Individuum gegen Obrigkeit – Spielstand null zu eins. Man muss wohl davon ausgehen, dass die Partei "Individuum" ihren Rückstand danach in keinem Jahrhundert je wettmachen konnte.

Nahe an der Gegenwart – für viele war es bereits bewusst erlebte Gegenwart –, gibt es eine Ausnahme. Es ist der Fall des Станислав Евграфович Петров, bei uns geschrieben als Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, dessen befehlswidriges Verhalten wahrscheinlich einen Atomkrieg und damit den Dritten Weltkrieg verhindert hat. Seine Großtat bestand darin, dass er in den 1980-er Jahren einen Raketen-Alarm seines Abwehrsystems richtigerweise, aber eigenmächtig, als Fehlalarm eingestuft hat. Sein Befehl hätte gelautet, jeden solchen Alarm bedingungslos und augenblicklich der politischen Führung zu melden. Das Zeitfenster für die Entscheidung über eine militärische "Reaktion" auf den vermeintlichen US-Angriff hätte ab dieser Meldung nur wenige Minuten betragen. Welch hautnahe Gegenwart das war, erfuhr die Welt erst später. Diese Runde ging ausnahmsweise an die Partei "Individuum".

Individuum gegen Obrigkeit bzw. Staatsraison, das ist auch das Drehbuch für "Erasmus von Rotterdam gegen Machiavelli". Die Anführungszeichen resultieren daher, dass beide nicht wirklich gegeneinander angetreten sind. Vom Inhalt her gesehen ist die Formulierung trotzdem berechtigt.

Beide Texte wurden zwar ziemlich zeitgleich geschrieben, aber zunächst hatte keiner der beiden Autoren Kenntnis von der Schrift des anderen erlangt. Der "Fürst" wurde 1513 verfasst, erschien aber erst 1532, also fünf Jahre nach Machiavellis Tod, während der Text von Erasmus 1515 verfasst wurde und im selben Jahr auch erschien.

Die Gattung des "Fürstenspiegel" hatte in den Jahrhunderten zuvor bereits etliche Arbeiten hervorgebracht, die allesamt auf Plato und Aristoteles zurückzuführen sind. Die Texte vor Machiavelli gingen allesamt von einem Staatsverständnis aus, bei dem das gedeihliche Leben des Einzelnen im Mittelpunkt zu stehen hatte, und zielten folglich darauf ab, den jeweiligen Machthaber mit den dafür angemessenen Tugenden auszustatten. Machiavelli vollzog einen radikalen Schnitt und positionierte seinen Text ausdrücklich als Gegenentwurf zu "allen anderen". Dementsprechend steht sein Wertekanon im scharfen Gegensatz zum bisherigen, den der Humanist Erasmus in seiner Interpretation des Themas unverändert hochhält. Die Thesen von Machiavelli schockieren bis heute durch ihre unverblümte Offenheit. Aber gehen beide wirklich von einem unterschiedlichen Wertekanon aus? Machiavelli legt Wert auf die sorgsame Unterscheidung zwischen dem Wünschenswerten und dem Realistischen. Was der Mann "im Innersten gedacht" hat, darüber lässt sich nur spekulieren. In den Discorsi immerhin gibt es sich als überzeugter Republikaner, und auch im Principe, also Fürst, schimmert diese Haltung durch.

Der subtilere Grund meines Interesses an Machiavellis Text, weshalb ich ihn hier vorstelle und mit dem Werk von Erasmus vergleiche, liegt nicht in seinem staatsphilosophischen Gedankengut per se. Vielmehr beschäftigt und teilweise beunruhigt mich die Faszination, die von ihm auf die Vorstellung vom modernen Zusammenleben auszugehen scheint, namentlich in der Wirtschaft: Sowohl Machiavelli als auch Sunzi inspirieren die Phantasie von Management-Beratern. Die Suchanfrage "Machiavelli für Manager" liefert die publizierten Vorlagen, aus denen sich Unternehmensberater aller Ligen – von den Amateuren bis hinauf zur Champions League – bedienen können. Wie oft sie es tatsächlich tun, bleibt freilich deren Betriebsgeheimnis. Allzu selten wird es freilich nicht sein, und dies wirft die Frage auf, welche Ethik des Miteinanders und welche Wirtschaftsethik wir in der modernen Gesellschaft gerne hätten. Zum Vergleich: Die Suchanfrage "Erasmus für Manager" führt – wenig überraschend – "lediglich" zu den verdienstvollen Programmen der EU für Austausch und Verständigung.

Insgesamt haben wir es mit zwei umfangreichen Texten zu tun, die ich anhand wesentlicher Thesen einander gegenüberstelle, exemplarisch und hoffentlich repräsentativ. Der von Machiavelli ist leicht zu beschaffen, bei Erasmus ist das Angebot schmaler. Ich habe folgende Ausgaben benutzt:

Erasmus von Rotterdam, Die Erziehung des christlichen Fürsten, Ausgewählte Schriften, Hrsg. Werner Welzig, Fünfter Band, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1968.
Niclolò Machiavelli, Hrsg.: Philipp Rippel, Il Principe/Der Fürst, Italienisch/Deutsch, Reclam 1219, 1986.
Für die einzelnen Zitate gebe ich jeweils die entsprechende Seitenzahl an.

Erasmus oder Machiavelli: Anstand und Moral ohne Politik oder umgekehrt?

Desidrius Erasmus by Hans Holbein
Desidrius Erasmus, von Hans Holbein,
Quelle: Wikipedia
Portrait of Niccolò Machiavelli by Santi di Tito
Niccolò Machiavelli, von Santi di Tito,
Quelle: Wikipedia

Erasmus: Kannst du endlich die Herrschaft nur durch Verletzung der Gerechtigkeit, durch Blutvergießen oder durch unermesslichen Schaden für die Religion schützen, dann lege sie eher nieder und weiche den Zeitumständen. Kannst du aber das Hab und Gut deiner Untertanen nur unter Gefahr deines Lebens schützen, dann ziehe den Schutz der Allgemeinheit deinem Leben vor. Aber solange du handelst, wie es die Pflicht eines christlichen Herrschers ist, werden vielleicht einige dich dumm nennen und sagen, du seiest zu wenig Herrscher. Stärke dein Herz, dass du lieber ein gerechter Mann als ein ungerechter Fürst sein willst (S. 145).

Machiavelli: … insbesondere, da ich bei der Erörterung dieses Themas von den Argumenten der anderen abweiche. Da es aber meine Absicht war, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat, denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, dass derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet lässt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muss zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Daher muss ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anzuwenden oder nicht anzuwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit (S. 119).

Erasmus oder Machiavelli, welchen hätten wir gerne? Anstand und Moral ohne Politik oder Politik ohne Anstand und Moral? – Ich brauche den Gegensatz nicht aufzubauschen, er ist real. Für real halte ich aber auch das Bedürfnis, zwischen diesen Extremen eine vermittelnde, für praktische Politik vermittelbare "Mitte" zu finden. Klar ist, die Position von Erasmus (ich nenne sie "E") kann man nicht und die Position Machiavellis (im Folgenden "M") will man nicht wollen. Irgendwo auf dem Schieberegler zwischen E und M sollte der richtige Punkt zu finden sein – aber wo? Wieviel E ist möglich, und wieviel M muss sein?

Beispiele für die Problematik liefern sowohl die Tagesschau als auch die Zeitgeschichte: Als der moralische Scherbenhaufen, den das deutsche Volk in den Jahren zuvor aufgetürmt hatte, 1945 für alle so offensichtlich geworden war, dass sich dem keiner mehr entziehen konnte, war für alle, die den Neubeginn wirklich wollten, wohl klar, dass dieser möglichst weit entfernt von Machiavelli liegen musste. Paradigma konnte nicht länger irgendein übermächtiges Volks- oder Staatswohl sein. Die Maxime "Du bist nichts, dein Volk ist alles" hatte sich erledigt, und nicht nur sie, und das wirkt nach bis heute. Ich gestehe freimütig, dass ich manche Texte bis heute mit einer ängstlichen Reserviertheit ansehe, die einzig durch den Sturm des Faschismus verursacht ist, obwohl ich von ihm in jeder Hinsicht unbelastet bin. Wie also mag es damals gewesen sein? Nicht von Ungefähr, wenn auch vielleicht zu Unrecht, hatte der Faschismus in Person von Mussolini ja auch Machiavellis Text usurpiert.

Der politische und moralische Neubeginn musste zwangsläufig ganz weit auf der anderen Seite des Spektrums liegen, ganz nahe also an den Werten einer Ethik der persönlichen Verantwortung. Was also lag (neben der Anknüpfung an die Werte der Arbeiterbewegung!) näher, als eine neue Partei mit dem "C" im Namen zu gründen. Dass die Union an diesem "C" scheitern musste, hätte jeder distanzierte Analytiker bereits am Tag der Gründung vorhersagen können. Aber ist sie wirklich gescheitert? Die Antwort heißt "ja", solange jemand fordert, die Position E dauerhaft und ungeschmälert zur politischen Maxime zu machen, was anfänglich, unter dem Eindruck der unmittelbaren Vergangenheit, durchaus der Plan gewesen sein mag. Funktionieren in Reinform konnte er auf Dauer nicht, insoweit hatte und hat Machiavelli schon Recht. Was also hat das "C" im Namen bewirkt? Hat es eine Politik hervorgebracht, die zumindest näher bei E und weiter weg von M gewesen ist als ohne das "C"?

Mit diesem "C" im Namen wird die Union gleichzeitig von zwei Seiten angreifbar: Sowohl mit dem Vorwurf einer zu großen Nähe zu M (d.h. zu wenig "C") als auch mit dem Vorwurf einer nicht zielführenden Politik aufgrund einer zu großen Distanz zu M, auch wenn letzteres niemand je so formulieren würde. Erasmus hätte das Problem an der moralischen Integrität des Fürsten festgemacht, in der modernen Demokratie zählen die Wahlchancen. Praktisch gesehen läuft beides aufs gleiche Dilemma hinaus. Freilich steht die Union mit diesem nicht allein. Sozialdemokraten und zunehmend auch Grüne stehen in Bezug auf ihre jeweilige Wertebasis vor analogen Herausforderungen. Nur wer klein genug ist, um sich von jeder Gesamtverantwortung fernhalten zu können, hat vielleicht die Chance, politisch unbeschwert zwischen Ethik und Kalkül hin und her zu kreuzen, als hätte es Skylla und Charybdis nie gegeben.

Krieg und Krise

Erasmus: … so muss der Herrscher doch zuerst und vordringlich in den Grundsätzen unterwiesen werden, ( … ) mit deren Hilfe er im Verhältnis zu seinen Kräften versuchen muss, auf das Unternehmen des Krieges gänzlich zu verzichten (S. 251).

Ein Vertrag soll zu dem Zweck geschlossen werden, einen Krieg zu beenden. Heute aber berufen sie sich auf einen Vertrag und schließen ihn schon in der Absicht, einen Krieg zu entfesseln. (… ) Die Herrscher müssen so verlässlich sein in dem, wofür sie einstehen, dass ein einfaches Versprechen ihrerseits heiliger ist als irgendein Eid anderer (S. 319).

… weil zwar auch aus anderen Gegebenheiten Nachteile entstehen können, aus einem einzigen Krieg aber der Untergang alles Wertvollen seinen Anfang nimmt und aus ihm ein Meer von Unheil hervorströmt (… ) Krieg entsteht aus Krieg (S. 339).

Machiavelli: … was alle klugen Fürsten tun müssen: diese haben nicht nur auf die gegenwärtigen Unruhen zu achten, sondern auch auf die zukünftigen, und müssen sie unter Aufbietung aller Kräfte im Keim ersticken (S. 21).

… Daher haben die Römer, wenn sie Missstände voraussahen, stets Abhilfe geschaffen; und sie ließen sich jene nie lange hinziehen, nur um einem Krieg aus dem Wege zu gehen; denn sie wussten, dass man den Krieg nicht abschaffen, sondern nur zum Vorteil der anderen aufschieben kann (S. 23).

Beim Thema Krieg habe ich gezögert, ob ich es hier aufnehmen möchte, weil natürlich heute, unter der Drohung des Atomkriegs, auch Machiavelli anders argumentiert hätte. Ich habe mich dann aber entschlossen, "Krieg" als Metapher für Konflikte schlechthin und den Umgang mit ihnen zu betrachten, und damit bekommt das Kapitel einen aktuellen Sinn. Dies entspricht ja auch der generellen Lesart, mit der wir Modernen auch an andere Kapitel herangehen.

Würde einer wie Machiavelli sich jemals, wie Erasmus an anderer Stelle (S. 343) rät, neben sich stellen und die Berechtigung seines Anliegens von dort aus relativieren? Niemals! Machiavelli kennt nur "Missstände". Die Frage nach der Ursache des Konflikts oder der Sicht der anderen stellt er nicht. Erneut öffnet sich hier die Kluft zwischen der Individual- und der politischen Ethik. Machtpolitik und Selbstzweifel schließen sich gegenseitig aus.

Im gerade genannten Sinn ist die Außenpolitik lediglich als Beispielfall für andere Bereiche zu sehen. Innenpolitik, Arbeitswelt, Freundeskreis – ja sogar die eigene Partnerbeziehung: Auf all diesen Feldern stellen sich dieselben Fragen. Will ich sofort "dreinschlagen", wenn ich die Möglichkeit dazu habe, oder zuwarten, um mit Geduld zu vermitteln und so die Parteien vielleicht noch zusammenzuführen? Wiederum bietet sich keine einfache Antwort an. Clankriminalität wird sich nur noch schwer bekämpfen lassen, wenn sich bereits erste "U-Boote" im Polizeiapparat festgesetzt haben. Krisen in der Familie dagegen werden sich nicht lösen lassen, wenn der mächtigste Akteur in bester machiavellistischer Manier beim ersten Anzeichen eines Problems sofort das Kriegsrecht verhängt. Und dazwischen liegen alle Schattierungen, die das Leben bietet. Die Frage "E oder M" sollte sich in kritischen Situationen jede(r) selbst stellen und erst danach entweder zuwarten bzw. vermitteln oder losschlagen.

Erasmus und Machiavelli: Zwei Ethiken, und dahinter zwei Menschenbilder

Unsere Analyse spränge zu kurz, wenn sie die Divergenzen zwischen beiden allein über ihre unterschiedliche Herangehensweise, also persönliche Ethik versus der politische Rationalität, erklären wollte. Dieser Unterschied der Herangehensweise wäre nämlich auch dann möglich, wenn beide von genau demselben Menschenbild ausgingen, was sie aber ganz und gar nicht tun. Freilich, der Mensch ist so, wie er eben ist. Bis dahin hätten sie beim Menschenbild wohl noch Konsens, die Aussage ist ja auch banal genug. Wobei sich aber sofort die Frage aufdrängt, wer denn "der" Mensch sein soll. Wieviel Verallgemeinerung ist praktisch nützlich, wieviel ist empirisch gerechtfertigt, und wie viel (wie wenig) ist ethisch angemessen? Und schon passt es nicht mehr zusammen. Machiavelli tut, was praktisch funktioniert, und fragt nicht weiter nach, ob es bei manchen auch anders ginge. Bei Erasmus steht das christlichethische Gebot im Vordergrund, und dies beinhaltet, sich jedem Menschen individuell zuzuwenden. Erziehung spielt dabei eine wichtige Rolle.

Erasmus: Auf diese Weise (Erasmus spricht zuvor ausführlich über die Notwendigkeit einer gewissenhaften, christlichen Kindererziehung) wird es dazu kommen, dass man nicht viele Gesetze oder Strafen braucht, da die Bürger aus freien Stücken tun, was Recht ist (S. 267).

Machiavelli: Es gilt also festzuhalten, dass man die Menschen entweder verwöhnen oder vernichten muss; denn für leichte Demütigungen nehmen sie Rache, für schwere können sie dies nicht tun (S.17).

… denn die Liebe wird durch das Band der Dankbarkeit aufrechterhalten, das, weil die Menschen schlecht sind, von ihnen bei jeder Gelegenheit um des eigenen Vorteils willen zerrissen wird (S.131).

Im Detail skizziert Erasmus die notwendigen (Erziehungs-)Inhalte, von denen auch der Fürst selbst durchdrungen sein muss: das "wahre" Glück, die "wahre" Freiheit und ein angemessenes Verständnis von Gerechtigkeit, deren Ziel nicht, modern würde man sagen: Gleichmacherei, sein kann. Welches Kriterium er dabei als Maßstab der Gerechtigkeit sieht (Leistung? Bedürfnis?) bleibt zwar offen, aber er denkt wohl an das Kriterium von Leistung bzw. Verdienst.

Die Frage, ob das Anerkennen sichtbarer Ungleichheiten tatsächlich und allein durch Erziehung bewirkt werden kann (Stichwort: nicht viele Gesetze oder Strafen), stellt sich Erasmus offenbar nicht: Ich verdiene tausend, mein Nachbar nur hundert, und es braucht kein Gesetz, um die tausend von den hundert abzuschirmen? Machiavelli würde darauf keinen einzigen Gedanken ver(sch)wenden. Für sein Vorgehen spielt eine subtile Betrachtung, bis wohin auf Freiwilligkeit zu setzen ist und ab welchem Punkt Zwang hergehört, auch keine Rolle. Zu viel Abneigung und Frustration über das Menschengeschlecht liegt in seinen Sätzen. Die Menschen sind schlecht. Die Universalität der Feststellung im Verbund mit der banalen Selbstverständlichkeit, mit der sie vorgetragen wird, wirkt beklemmend. Leidet er denn wenigstens daran, an dieser seiner Erkenntnis, oder ist sie das unspektakuläre Resultat einer durch und durch emotionslosen Analyse? Fragen können wir ihn das nicht.

Der Umgang mit der Macht: wie machiavellistisch ist Machiavelli?

Machiavelli gehört zu den wenigen Autoren, aus deren Namen sich ein Attribut bilden lässt, das sich sogar dann benutzen lässt, wenn jemand dazu keine einzige Zeile O-Ton gelesen hat: "machiavellistisch", wobei aber durchaus nicht alle Empfehlungen Machiavellis in diesem Sinn machiavellistisch sind. Einige markante Beispiele für Machiavellis Umgang mit Macht und Menschen will ich in meiner Auswahl abschließend zeigen. Erasmus hat dem nichts Spektakuläres "entgegenzusetzen", so dass ich auf die Gegenüberstellung verzichte. Um den Abschnitt kompakt zu halten, verzichte ich zudem auf wörtliche Zitate.

  • Gut angewandt sind Grausamkeiten, die man auf einen Schlag ausführt. Schlecht ist es, wenn sie nach zu zögerlichem Beginn später zunehmen. Nach der Grausamkeit möglichst Wohltaten spenden (S. 73).
    Kurz zur Ehrenrettung:. Machiavelli sagt: gut, wenn es erlaubt ist, vom Schlechten etwas Gutes zu sagen.
  • Furcht verbreiten: Ja. Aber keinen Hass! Und keine Hinrichtung ohne offensichtliche Rechtfertigung (S. 131)
  • Fürsten, die ihr Wort nicht halten und andere mit List hintergehen, sind, das zeigt die Erfahrung, denen überlegen, die auf Redlichkeit gebaut haben (S. 135).
  • Gute Eigenschaften: Man muss sie nicht besitzen. Das kann sogar schädlich sein. Nützlich ist der Anschein, sie zu besitzen (S. 139).
  • Gut sein, solange es möglich ist, aber sich bei Bedarf zum Bösen wenden (S. 139).
  • Alle sehen, was du scheinst. Nur wenige erfassen, was du bist, und diese wagen nicht der Meinung der Mehrheit über dich zu widersprechen (S.139).
  • Hauptsache Erfolg. Das imponiert dem Pöbel, und auf der Welt gibt es nur Pöbel (S. 141).
  • Gunstbeweise selbst spenden, Grausamkeiten delegieren (S. 149).
  • Wenn du auf eine sittlich verdorbene Partei angewiesen bist, füge dich und sei ebenfalls verdorben (S.153).
  • Frühere Feinde werden zu die wertvollsten, loyalsten Gefolgsleute, wenn sie die Chance sehen, die vormals schlechte Meinung umzudrehen und ihren Rang zu sichern (S. 169).
  • Intelligente Fürsten erkennt man an der Intelligenz der engsten Mitarbeiter (S. 181).
  • Wichtige Mitarbeiter reich genug machen, dass sie eine Änderung der Verhältnisse fürchten (S. 183).
  • Mitarbeiter haben keine Meinung zu äußern. Ausnahme: wenige Ausgewählte, und auch sie nur, wenn der Fürst sie fragt (S. 185).

Politik und "Leben": gelten für beides die gleichen Gesetze?

Wer heute die Texte von Erasmus und Machiavelli liest, will nicht Fürst werden. Entweder liest er oder sie sie aus philosophischem bzw. historischem Interesse oder aber (auch) zur Inspiration für den eigenen Alltag, und hier vielleicht speziell im Beruf. Dass dort nämlich andere Regeln zu gelten haben als in der eigenen Familie oder beim Umgang mit Freunden, würden viele unterschreiben. Wie also will ich mich im Beruf verhalten? Genauer gefragt: Wie will ich meine Macht einsetzen, wenn meine Berufstätigkeit mich mit Macht ausstattet (die bescheiden oder riesig sein kann, das spielt für die ethische Haltung keine Rolle). Noch genauer gefragt: Ist der Verstoß gegen ethische Prinzipien für mich etwas, was ich jedes Mal kritisch hinterfrage und versuche, wenn irgend möglich zu vermeiden, oder ist es der pragmatische Normalfall? Da haben wir es schon wieder, das machiavellische "irgend möglich".

Und wenn mich die Frage nicht als Akteur betrifft, so betrifft sie mich doch immer noch als Betroffenem: Nach welchen Regeln soll das System "ticken", das meinen Wohlstand generieren soll? Investitionen an Menschenrechte koppeln, ja oder nein oder "manchmal"? Compliance und Transparenz sind sichtbare Schritte zu mehr Ethik. Aus früheren Erzählungen erinnere ich mich, dass bestimmte Aufwendungen für Bestechung, die heute geahndet werden, in den Jahrzehnten nach dem Krieg von Konzernen offenbar noch als "nützliche Ausgaben" steuermindernd geltend gemacht werden konnten.

Mir persönlich hat die Lektüre von Machiavellis Text im Beruf ab und zu geholfen. Schrecksekunde? – Keine Sorge, ich will es erklären. Machiavelli hat mit seiner grundlegenden Aussage, ich habe sie oben zitiert, ja Recht: Alle Verhaltensweisen von Mächtigen, die er beschreibt, kommen in der Realität vor. Die Frage ist, ob sie regelhaft vorkommen oder nur vorkommen können. Das mag vielleicht davon abhängen, welchen Ausschnitt von Realität einer gerade betrachtet. Wie groß ist also mein Risiko, wenn ich mich weigere, in meiner eigenen Handlungsweise selbst "machiavellistisch" zu werden? Die eigene Erfahrung spricht dafür, dass "Machiavellifreie" Zonen an manchen Stellen möglich sind, wenn auch vielleicht mit anfänglichen Risiken und Rückschlägen. Mehr noch: Prinzipien wie Wertschätzung und das verlässliche Einhalten gegebener Zusagen sind sogar echte Erfolgsfaktoren. Auch hierzu gibt es Literatur für Manager. Manchmal gehen Ethik und "Monetik" eben doch Hand in Hand.

Das Beste aber zuletzt, und dieses Beste ist leider kein bisschen gut: Niemand ist zuverlässig davor geschützt, auch ich nicht, dass nicht Mächtigere versuchen können, ihre machiavellistischen Praktiken gegen mich einzusetzen. Sie zu kennen, erleichtert mir den Umgang mit ihnen. Wenn ich vorhersehe, wann einer angreifen will und mit welchen Mitteln, kann ich mich besser schützen. Dafür sind die Bücher von Machiavelli und Sunzi allemal gut.

Wie (un)ethisch also ist Machiavellis Ethik, und wie realistisch die von Erasmus?

Ethische Fragen, die sich vermeintlich mit wenigen Absätzen ein für alle Mal klären lassen, sind entweder keine wirklichen, oder die Antwort ist nicht hinreichend durchdacht. Vielleicht aber regt die gezeigte Vielfalt dazu an, die eine oder andere Frage aus dem eigenen Umfeld neu zu denken, oder sie sogar erst als Frage wahrzunehmen?

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 16.04.2021

Dr. Christian Thieme

Demenz
– zwei Kolumnen im Doppelpack

Ab einem bestimmten Lebensalter haben wahrscheinlich die meisten Menschen eigene Erfahrungen mit "Demenz" gemacht. Das meine ich nicht in dem Sinn, dass sie alle von Demenz betroffen wären. Es geht um Erlebnisse und Ereignisse im Familienkreis, um Schilderungen von Freunden und nicht zuletzt auch um schockierende, zufällige Beobachtungen in Heimen, Krankenhäusern oder auch im Fernsehen.

Möglicherweise haben Sie sich soeben etwas wundern müssen. Warum habe ich bei Demenz die Anführungszeichen benutzt? Glaube ich etwa, Demenz sei keine Realität, so wie andere Corona für ein Hirngespinst halten? – Der Grund ist natürlich ein anderer. Demenz IST Realität, und denen, die als Angehörige oder Pflegende mit schwer an Demenz erkrankten Menschen zu tun haben, muss das keiner erklären wollen.

Demenz ist aber auch ein Stempel. Mehr als einmal habe ich es erlebt, wie betagte Menschen, bei denen altersbedingt nicht mehr alle Dinge so schnell und zuverlässig funktionieren wie früher, bei denen sich vielleicht ab und zu Dinge, die "unsereins" im Traum erledigt, während der Tagesstunden bemerkbar machen, die aber ansonsten am Alltag teilnehmen und wunderbare Gesprächspartner sind – wie also solche Menschen mit einem Stempel belegt werden, der da heißt "Demenz". Und ab diesem Moment müssen sie täglich um die Qualität des Umgangs kämpfen, der immer von einem latenten "er/sie ist ja dement" überschattet wird.

So scheint es mir, wenn ich von außen darauf schaue, als wären zwei Begriffe von Demenz im Umlauf, die ein ganzes Stück weit auseinanderliegen: Die schwere, das Leben aller Beteiligten verändernde Krankheit und daneben das manchmal leichtfertig, ja zu leichtfertig verhängte Attribut.

Diesem Gedanken folgend entstanden für die beiden Sichten zwei Kolumnen. Nun steht dahinter aber dennoch ein Kontinuum, also ein durchgehendes Band von zunehmenden Schweregraden der Krankheit. Wenn ich mich auf die Seite des Abstempelns stelle, blicke ich von dort bis ungefähr zur Mitte des Spektrums, also von den minimalen Ausfällen bis zu mittelschweren Erscheinungsbildern. Und von der anderen Seite her ist es entsprechend, wobei die beiden Blickrichtungen sich zwangsläufig überlappen. Es ist nicht möglich, die Betrachtung immer exakt in der Mitte zu stoppen. Das macht sich beim Schreiben bemerkbar, und wahrscheinlich auch beim Lesen.

Alte Frau leidet an Demenz

Demenz: Eine Krankheit wie ein Hammer

Nicht allein daran muss man denken, dass das Leben jeden Tag kürzer wird und ein ständig kleinerer Teil von ihm übrigbleibt, sondern man sollte sich auch dessen bewusst sein, dass es keineswegs sicher ist, wenn man länger leben sollte, ob auch die geistige Kraft bleiben wird, die für das Verständnis der Vorgänge dieser Welt und für die Denkarbeit erforderlich ist, die auf die Erforschung der göttlichen und menschlichen Grundfragen zielt. Wenn man nämlich anfängt, albern zu reden, wird sich das Atmen, die Ernährung, die Wahrnehmung, das Streben und Verlangen und anderes dieser Art nicht abschwächen. Doch über sich selbst zu verfügen, seine einzelnen Pflichten sorgfältig auseinanderzuhalten, die Phänomene zu unterscheiden (…) – alle diese Fähigkeiten nehmen deutlich ab. Man muss sich also beeilen, nicht nur weil man täglich dem Tod näherkommt, sondern auch weil die Fähigkeit zum Verstehen und Verarbeiten der Vorgänge in der Welt früher aufhört, als man denkt (*).

(*) Marc Aurel, Wege zu sich selbst, Hrsg. Und Übersetzer Rainer Nickel, Artemis & Winkler, 2001. Zitiert habe ich die erste Nummer im Dritten Buch – so ist die Stelle auch in jeder anderen ungekürzten Ausgabe auffindbar.

Dement, das sind die anderen!

Dement werden, die unvorstellbare Perspektive!
"ICH werde dement sein"?
Geht nicht. Der Satz prallt ab. Spurlos gleitet er über die schützende Folie, in die sich mein Denken einhüllt.
"Ich werde wahrscheinlich dement sein"/"ich werde vielleicht dement sein"/"ich könnte dement werden" – geht alles nicht.

Na, gut, hier ein letzter Versuch!
"Es könnte ja doch sein, dass ich eventuell, irgendwann später einmal, im hohen Alter, gewisse Anzeichen von Demenz entwickeln könnte" – ok, so könnte es gehen.

Marc Aurel, der Autor des Zitats, war klar in seiner Lebensführung und kompromisslos im Umgang mit sich selbst. Für ihn gab es kein solches Verdrängen. Immer wieder konfrontiert er sich selbst mit unbequemen Themen. Mit den eingangs zitierten Sätzen legt er den Finger in eine Wunde, die bis heute in unserem Denken klafft.

Hätten wir ein klareres Bewusstsein davon, dass wir, die heute Gesunden, nichts anderes sind als die Dementen von morgen, würden wir denn dann mit den aktuell Betroffenen anders umgehen? Ich muss, während ich diese Zeilen niederschreibe, daran denken, wie in einem südbayerischen Heim möglicherweise dutzende Menschen leiden und etliche von ihnen vermeidbar sterben mussten – es gilt die Unschuldsvermutung –, weil sich anscheinend keiner der direkt beteiligten Menschen für die Schutzbefohlenen verantwortlich fühlt(e), und weil sich die Mühle der staatlichen Fürsorge und Kontrolle, die subsidiär dort gebraucht wird, wo sich die Verantwortlichkeit der direkt Beteiligten verkrümelt hat, so unendlich träge nur bewegt. In welcher Welt lebe ich eigentlich? Nein – welche Welt ist das eigentlich, von der ich ein Teil bin?

Für meinen Umgang mit mir und meiner eigenen Lebens- und Schaffenszeit ist Marc Aurel mir ein Vorbild. Für den Umgang mit der Demenz anderer ist er es nicht. Denn Empathie darf man bei ihm nicht erwarten, und Nächstenliebe ebenfalls keine. Anstand ja! Toleranz ja! – aber nicht mehr.

Die Auslassung im Zitat ist übrigens nicht redaktionell motiviert. Bewusst weggelassen habe ich Marc Aurels Gedanken, dass der geeignete Moment verpasst werden könnte, um sich für den Suizid zu entscheiden. Ich will diese Facette seines Denkens nicht gänzlich verschweigen, darum berichte ich sie hier, aber es soll nicht der Eindruck entstehen, als sähe ich in ihr etwas Vorbildhaftes.

Philosophie – manchmal hilft sie ja. Hier auch?

Viele Blumen wachsen im Garten der Philosophie, zarte und knallige, freundliche und manchmal auch giftige, gerade zum Umgang mit Schwachen. Ich werde mich jetzt an den Mainstream halten, und der hat es mehr mit dem Verstand als mit dem Herzen: Sapere aude! höre ich es da rufen, habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Sapere aude! Mit diesen zwei Worten hat Kant den Beginn der Aufklärung proklamiert. Linkshirnig muss die Welt sein, rational und gesteuert vom unbestechlichen Verstand. Auch bei der Begründung des kategorischen Imperativs, kurz KI, der als Magna Charta ethischen Verhaltens gesehen wird, hat Kant darauf geachtet, dass sich in die Kaskade seiner Rationalität an keiner Stelle etwas "artfremdes", wie zum Beispiel eine nicht vom Verstand begründete Nächstenliebe, einschleichen möge. Wenn es um den Umgang mit den Schwachen und ganz Schwachen geht, würde ich daher woanders nachlesen: Jesus bleibt in diesem Segment auch nach 2000 Jahren Marktführer. Man kann das religiös motivieren, so wie die meisten es tun, aber man muss das nicht einmal. Selbst ohne die religiöse Fundierung scheint mir das Konzept einer altruistisch liebenden Zuwendung ohne sinnvolle Alternative, weil es offensichtlich weiter reicht als der kategorische Imperativ Kants. Wenn ich es in einem Satz begründen müsste: Der KI stellt mir meinen dementen Mitmenschen als Objekt dar, dem ich ein bestimmtes Verhalten entgegenzubringen habe (in der Philosophie Kants geschieht das "aus Pflicht"!), und nicht als Subjekt mit eigenem Wert, auch wenn Kant selbst da wahrscheinlich widerspräche. Man sollte aber, so ist meine Überzeugung, eine philosophische Botschaft (auch) danach beurteilen, was sie bei Menschen auslöst, die sie ernstnehmen, ohne in die Tiefe ihrer Exegese eindringen zu können. Das gilt besonders, wenn es eine Philosophie zu solch großer Verbreitung und Popularität gebracht hat und sie sich ihre Anhänger nicht immer aussuchen kann.

So leben wir als Erben Kants in einem fortschrittlichen, aufgeklärten rationalen Zeitalter, ohne dass wir uns wirklich Rechenschaft geben, wo überall die Schattenseiten dieser aufgeklärten Rationalität liegen.

Und die Politik?

Nächstenliebe ist keine politische Kategorie. Sozialpolitische Konzepte stellen lieber das Recht des Hilfsbedürftigen heraus, als an die Bereitschaft und Liebe der Starken zu appellieren – wohl aus bitterer Erfahrung, denn mit der freiwilligen Bereitschaft gerade der ganz Starken ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen. Diese Erfahrung betrübt mich, und dem sozialpolitischen Begriff "soziale Gerechtigkeit" begegne ich nicht ganz ohne emotionale Distanz, weil er Ausdruck einer zwangsweisen Kompensation der weithin fehlenden Hilfsbereitschaft ist. Aber was hilft‘s: Realpolitisch gesehen können die von Demenz Betroffenen und ihre Angehörigen kaum genug rechtlichen Rückenwind bekommen, denn von der spärlichen Nächstenliebe allein könnten sie nicht existieren. Solange Vorfälle wie eben jetzt in jenem Heim möglich sind, ist der politische Handlungsbedarf immer noch uferlos.

Für mich ist es ein betrübliches Dilemma. Wenn die Ansprüche der Schwachen an die Allgemeinheit haarklein kodifiziert sind, bleibt kaum Spielraum für freiwillige Hilfe, emotional nicht und oft auch technisch nicht. Die pedantische Kodifizierung der "sozialen Gerechtigkeit" schützt zwar die Schutzbedürftigen, aber um den Preis, dass sie zugleich die Starken entlastet. Wenn nämlich meine soziale Verpflichtung über die Steuerschuld, die zu minimieren ich alle Kreativität einsetze, abgegolten ist, was soll ich mir dann darüber hinaus denn noch groß Gedanken machen? Vielfach könnte ich ja gar nicht, wie der folgende Gedankenversuch belegt: Angenommen, ich würde dem Heim monatlich einen Betrag spenden, um die Betreuung meines Angehörigen zu verbessern, was würde das Heim damit anstellen? Vermutlich so ähnlich wie gerade der Daimler-Vorstand, der die Entlastung aufgrund des staatlichen Kurzarbeitergelds nahtlos an die Aktionäre durchreicht. Verschärft wird das Problem durch das eherne politische Gesetz, dass am Ende kein Budget jemals so bemessen wird, wie es eigentlich erforderlich wäre, auch im Bereich der Sozialkassen nicht. Mit anderen Worten: die Lösungen der Politik sind unzureichend und verstopfen zugleich die Kanäle für private Hilfe.

Eine gute Idee für einen politischen Ausweg aus dem Dilemma habe ich allerdings auch nicht.

Pflege als der Kitt dazwischen

Man kennt es vom Bau. Silikon ist gut, um Fugen zu verschließen, aber wenn die Fuge weit genug ist, reißt das beste Silikon. Idealistische Pflegende sind das Silikon im System. Ordentliche Arbeitsbedingungen und fairer Lohn sind wichtig für gute, erfüllende Arbeit, aber nicht nur sie. Um demente Menschen zu betreuen, um der täglichen Herausforderung gewachsen zu bleiben, braucht es Liebe zu den Menschen und viel Idealismus. Liebe und Idealismus wiederum machen erpressbar – ich kann doch die mir Anvertrauten nicht im Stich lassen. An Corona lässt sich dies gerade trefflich studieren. Viele ausgebrannte Teams denken daran, dem Beruf wegen fehlender Unterstützung für immer den Rücken zu kehren – nach der Pandemie. Idealismus belohnt die Idealisten. Wenn sich aber die Politik darauf verlässt, statt wirksam zu helfen, ist das zynisch. Wobei Politik so viel oder wenig für die Pflegenden und damit auch für die von ihnen Gepflegten tut, wie das Staatsvolk es verlangt. Und wiederum: Ein Teil des Staatsvolks bin ich selbst.

Zwischen allen Mühlsteinen: das Leiden der Angehörigen!

Wenig Rückhalt von einer auf Rationalität gepolten Philosophie und dem von ihr geprägten gesellschaftlichen Klima, schwindender Spielraum der Kirchen, die schwer mit der Erosion ihrer Basis zu kämpfen haben, limitierte Bereitschaft der Politik, wirksam Abhilfe zu schaffen: So sieht das Umfeld aus. Wobei aber mehr Mittel für die Pflege und Betreuung ohnehin nur materielle Not, aber kaum das persönliche Leid der betroffenen Familien kompensieren können.

Was könnte ich meinen Angehörigen noch tröstendes sagen, wenn ich dement wäre: Nichts mehr. Was würde/werde ich empfinden, wenn ich ihr Leiden sehe: Ich weiß es nicht, keiner kann es von außen sagen, und ich selbst kann mich dann nicht mehr verständlich machen.

Marc Aurel liefert jedoch mit seinem Hinweis auf die zwei Grenzpunkte, Tod und vorher Demenz, einen Ansatz zur Linderung! Für den Tod treffe ich Vorkehrungen: Zwar kann ich das Sterben nicht verhindern, aber mit einer Verfügung kann ich es regulieren, indem ich im Testament die Dinge nach mir bestimme, jedenfalls manche. Warum also nicht auch ein "Testament" für die Zeit, ab der ich in den Dämmer einer Demenz hinübergleite? Nicht um des Geldes oder materieller Dinge willen. Sondern zum Trost der Angehörigen. Gestaltet zum Beispiel als Brief, den sie jedes Mal sehen, wenn sie mit mir zusammen sind, weil er in meinem Zimmer an der Wand hängt:

Ihr meine Lieben …., wenn ihr diesen Brief lesen werdet, werde ich nicht mehr so sein, wie ihr mich kanntet.
Ihr werdet mitangesehen haben, wie ich mich in meinem Wesen langsam oder rapide verändert habe, wie ich vergesslich wurde, wie ich altbekannte Zusammenhänge verloren habe. Vielleicht kann ich nicht mehr verstehen, dass das, was ihr für mich veranlasst, zu meinem Besten ist. Vielleicht werde ich deshalb zornig sein. Zornig, dass ich trinken soll, zornig, dass ich mich bewegen muss, zornig auf alles. Das wird es euch schwer machen, mich immer wieder aufzumuntern und mir bei diesen alltäglichen Dingen täglich aufs Neue zuzureden.
Und irgendwann werde ich die lieben Menschen um mich herum nicht mehr erkennen, zuletzt vielleicht auch euch nicht mehr, meine engsten Angehörigen.
Und nicht nur das.
Ich werde euch wehtun, indem ich euch schlimme Dinge unterstelle und eure Liebe nicht erwidere oder sie sogar mit bösen, hässlichen Worten vergelte. Schlimmeres kann ich euch kaum antun, ich, der ich immer euer … gewesen bin!
Warum muss das sein?
Niemand kann vorher sagen, was die Krankheit mit mir anstellen wird. Ihr müsst aber wissen, dass das, was ich sagen werde, nicht etwas ist, was ich insgeheim schon immer dachte. Mein Gehirn wird Worte finden, deren Herkunft ich nicht kenne. Das macht mich heute, da ich es mir vorstelle, so traurig wie dereinst euch.
Ich kann euch dafür nicht um Verzeihung bitten, denn mich trifft daran keine Schuld. Aber ich kann euch um etwas anderes bitten.
Bitte denkt, wenn wir zusammen sind, an die guten Dinge, die wir zusammen erlebt haben. Denkt daran, wie wir damals im Jahr ….
Und wie ihr damals ….
(usw)

Nun, das mit dem testamentarischen Brief ist vielleicht doch keine so praktische Idee, denn dement, das sind ja die bekanntlich anderen, niemals ich – ich werde es daher wohl versäumen, diesen Brief rechtzeitig zu schreiben, weil ich nicht glauben werde, dass ich selbst dereinst betroffen sein kann.

Aber meine Angehörigen können es tun. Sie können ihn später, wenn es mit mir soweit kommen sollte, in meinem Namen schreiben und ihn dann aufhängen. Sie werden dann wissen, dass sie es in meinem Sinne getan haben. Und damit darf ich das Thema jetzt, da es mir gut geht, weiter verdrängen.

Alter Mann leidet an Demenz

Demenz: Ein Wort wie ein Hammer

Schwarz oder weiß, richtig oder falsch, gesund oder krank. Manchmal will Sprache präzise sein – selbst dort, wo das Leben überhaupt nicht präzise ist. Jemand ist willensstark, weil er sich um keinen Preis von einer schwierigen, aber objektiv lösbaren Aufgabe abbringen lässt. Jemand ist starrsinnig, weil er unbeirrt an einem objektiv unsinnigen Ziel festhält. Objektiv. Was, bitte, ist das, dieses "objektiv"? Vier Elefanten in einen Volkswagen zu bringen, ist objektiv unmöglich, auch wenn der Kinderscherz sagt, es sei ganz einfach (zwei vorn und zwei hinten). Die tausend Meter in drei Minuten zu laufen, ist objektiv möglich. Aber auch für mich? Wer, bitte, entscheidet, was "objektiv" ist?

Die Sprache ist an dieser Stelle scharf wie eine Rasierklinge. Sie will, dass wir uns entscheiden, ohne Wenn und Aber. Wer die tausend Meter als Neunzigjähriger unter drei Minuten laufen will, ist entweder ein Held, oder er spinnt. Wo aber hört der Held auf und der Spinner beginnt? Zum Glück gibt es auch milde und freundliche Wörter, die nicht polarisieren, zum Beispiel "verrückt".

•   Ich habe die tausend Meter unter drei Minuten geschafft – Whow Opa, du bist ja verrückt (irgendein anderer Opa muss das wohl sein….).
•   Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag! – Wahnsinn, du bist ja verrückt, dafür extra aus Australien herzukommen….
•   Opa ist verrückt geworden: Er hat aus seiner Rente kleine Papierflieger gemacht und sie aus dem Fenster geworfen.

"Verrückt". Ein ganzes Stück weit, oder auch nur ein paar Millimeter, jedenfalls weg von dem Punkt, wo jemand vermutet wird ("vermutet" mit leicht hochgezogener Augenbraue, ungefähr so wie bei "supposed to be"). "Verrückt" transportiert kein einheitlich vorgefertigtes Werturteil. Von Bewunderung bis Geringschätzung ist alles drin, und "ein bisschen verrückt" klingt sogar liebevoll.

Dagegen "Demenz": Ein Wort wie ein Hammer.

"Demenz": Weitgehende Unbekümmertheit im Alltag …

Dieser Text befasst sich mit dem Abstempelt- und Abgeschrieben-Werden der etwas verrückten, etwas vom Zentrum weggerückten Menschen. Auf sie ist das Wort von der Demenz als Hammer gemünzt. Dagegen: Menschen mit einer wirklichen, verantwortungsvoll gesicherten Diagnose Demenz. Das Abstempelt- und Abgeschrieben-Werden ist für sie nicht weniger dramatisch und inhuman. Personen, die demente Menschen pflegen und betreuen, berichten eindrucksvoll, wie bereichernd der Umgang mit ihnen ist – für beide Seiten.

Denken wir ab jetzt an die Grenzfälle, denen die Bequemlichkeit des Alltags einen Stempel verpasst, mittels dessen sich das Umfeld lossagt von der Pflicht, dem betroffenen Menschen mit allen seinen Limitierungen, aber auch Fähigkeiten immer wieder differenziert, empathisch, liebevoll und angemessen zu begegnen. Stellen wir uns vor, wie ein Mensch, wenn er älter wird, allmählich von dem Punkt wegrückt, an dem er früher gewesen ist. Das kann zunächst rein physisch bedingt sein. Jemand hört nicht mehr gut und gewöhnt sich an, etwas zu antworten, von dem er meint, es könnte passen – leider passt es manchmal überhaupt nicht: Klares Zeichen von beginnender Demenz? Oder seine Finger sind mit der Zeit immer krummer geworden, und derentwegen hasst er es, immer wieder mit diesen winzigen Figuren "Mensch ärgere dich nicht" spielen zu sollen. Aus Zorn über sein Handicap schmeißt er eines Tages alle Steine um: Klares Zeichen von Demenz?

Und dann die Menschen, bei denen sich zwar ein Teil des Denkens selbstständig macht, während jedoch andere Abteilungen weiterhin prima "funktionieren". Da ist der 90-jährige Mann, den plötzlich die Vorstellung übermannt, er sei berufstätig, und der sich von da an über Wochen mit einem Termin quält, den er nicht einhalten kann und der in seiner Welt unumstößlich real ist. Im Heim schmeißen sie ihm, so fühlt er es, nur Knüppel zwischen die Beine: Wir sind hier kein Büro, sagen sie, als er eine Schreibmaschine verlangt. Am nächsten Tag scheint alles vorbei zu sein: Der Mann erklärt er seinem Enkel eine Passage aus "Faust", klar und kenntnisreich. Doch einen weiteren Tag später beklagt er sich voll Zorn, dass sich immer noch niemand um seine Schreibmaschine gekümmert hat. Es ist so furchtbar bitter: Ich kann sein Problem nicht lösen, solange ich ihm meine Welt, die "normale" Welt, erklären will. Das zu lernen ist eine harte Schule. Ich muss die Sache mit ihm gemeinsam in seiner Welt lösen. Ich muss lernen, dass ich keineswegs seine Menschenwürde verletze, wenn ich sein Spiel mitspiele. Weil es doch für ihn keines ist, sondern unumstößliche, bedrängende Wirklichkeit. Beim ersten Mal ist das eine bittere Erfahrung, und doch ist es gut, wenn es uns beiden am Ende gelingt.

Demenz wird leicht zum Stigma, das nicht die Krankheit beschreibt, sondern den ganzen Menschen aus dem Spiel nimmt: Ich kümmere mich nicht darum, was genau mit deinem Denken und Fühlen los ist, was du kannst und was nicht, auch nicht darum, worunter du leidest, und wie ich dieses Leiden vielleicht ganz leicht lindern kann. Ich stemple dich als Person mit all deinen Facetten: Es lohnt sich nicht mehr, dich differenziert anzusehen, du bist ja dement. Es lohnt sich nicht mehr, deine Wünsche und Bedürfnisse zu erforschen, du bist ja dement (und ich gottlob normal). Das betrifft nicht nur die "Grenzfälle", sondern in gleicher Weise alle, die von einer schweren, ihr gesamtes Dasein bestimmenden Demenz betroffen sind. Die Haltung, mit der ihnen zu begegnen ist, bleibt gleich, nur Mittel und Ebene der Kommunikation können sich schrittweise ändern.

… und dagegen größtmögliche Zurückhaltung in der Philosophie!

Cogito, ergo sum! Ich denke, also bin ich. Käme je ein Nicht-Philosoph auf den Gedanken, sich seiner Existenz eigens zu versichern? Was folgt daraus, aus dem "Cogito, ergo sum"? Philosophisch folgt nicht einmal, dass auch du existierst. Es könnte ja sein, dass einzig mein Denken existiert, und ein bösartiger Geist mir den Rest nur vortäuscht: meinen Körper, meine Wahrnehmungen, mein Umfeld – einfach alles. Unfug? Na, ja, praktisch gesehen schon. Aber beweisen Sie doch mal, dass es Unfug ist! Sie werden erkennen: Es ist nicht möglich. Solipsisten heißen die Leute, die diesem Gedanken anhängen. Demenz? Weit gefehlt! In der Überlegung von René Descartes sehen wir ganz im Gegenteil einen Meilenstein der Philosophie-Geschichte. Sie zeigt uns, wie schwach die Fundamente sind, auf die wir unsere vermeintlichen Sicherheiten gründen.

Was wissen wir denn schon über uns und unser Denken! – Schau das frische Grün an den Bäumen an, ist es nicht wunderschön? – Ja! Wirklich schön! Der Haken ist nur: Ich werde niemals erfahren, welches Bild die Farbe Grün in deinem Kopf erzeugt. Vielleicht dasselbe wie bei mir Blau? Vermutlich nicht, aber beweisen? – Es braucht schon etwas Training, um zu erkennen, dass diese Frage eine Frage ist und dass sie sich nur pragmatisch, aber nicht philosophisch oder naturwissenschaftlich beantworten lässt: ein verstörender Gedanke. Das ist grün, ich sehe es doch mit meinen eigenen Augen! – Eben, darin liegt ja das Problem. Das Auge beliefert mein Gehirn mit messbaren Signalen. Aber was macht das Hirn damit? Mein Hirn? Dein Hirn? Tun beide Hirne wirklich genau dasselbe? Plötzlich sehen wir Dinge wanken, deren wir uns von Kindheit an so gewiss waren. Wir sind uns darüber einig, welche Farbtöne wir als "grün" benennen (auch hier: Grenzfälle ausgenommen …), aber wir wissen nicht einmal bei dieser banalen Sache, so wird uns jetzt bewusst, ob wir tatsächlich dasselbe empfinden! Ganz schön verrückt, nicht wahr?

Mit anderen Worten: Ich kann den Kosmos meines Denkens und Empfindens nur oberflächlich mit anderen teilen, so wenig, wie sie den ihrigen mit mir. Nehme ich daher einen bedachtsamen, philosophischen Standpunkt ein, wird es dadurch nicht nur noch schwieriger, "normal" auf eine vernünftige Weise von "verrückt" abzugrenzen. Auch die Behauptung, dass es überhaupt eine Norm gebe, und dass diese erkennbar sei, wird jetzt kompliziert. Erst, wenn wir René Descartes‘ methodische Zweifel zur Seite gelegt haben, können wir unser praktisches Leben ungestört weiterleben.

Wenn Sie zuvor die erste Kolumne gelesen haben, werden Sie einen (scheinbaren) Widerspruch bemerken. Dort war die Rede davon, dass die Fixierung auf die Rationalität als Leitstern unseres modernen Denkens einem freundlichen, verstehenden und liebevollen Umgang mit Menschen, die an Demenz leiden, nicht förderlich ist: Philosophie "auf dem hohen Ross". Hier nun argumentiere ich, dass die Philosophie sämtliche Grundlagen unserer Wahrnehmung und damit alle vermeintlichen Sicherheiten radikal in Frage stellen würde: Philosophie "in tiefer Demut". Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns vorstellen, dass sich die Fixierung auf Rationalität auf die logische Arbeit des Gehirns mit den von den Sinnen gelieferten "Daten" bezieht, während die hier angesprochene Verunsicherung die Frage betrifft, was von dem, was wir scheinbar/anscheinend sehen, tatsächlich so existiert. Die Angst wegen des drohenden Termins ist vom Gehirn autonom produziert – "irrational". Die Angst vor Indianern, die von draußen mit Pfeilen auf mich schießen, kann (muss vielleicht nicht) der (Miss)-Interpretation von Signalen aus dem Auge geschuldet sein.

Zwischen Philosophie und Bedenkenlosigkeit: liebevolle Pragmatik!

Ungestört? Unser praktisches Leben ungestört weiter leben? Philosophie als Popanz, der das reale Leben behindert, ist eine wohlfeile Figur. Sprechen wir deshalb, statt von Philosophie, ab jetzt von Liebe! Muss ich denn wirklich den Stempel "dement" zücken, wenn ich mit schlichten Worten beschreiben kann, wo genau der betreffende Mensch seine Schwierigkeiten hat (und damit auch: Wo er keine hat!). Meine Tante ist manchmal ein wenig verrückt, aber sie ist meine liebe Tante. Mein Opa braucht manchmal Schutz, wenn die Indianer ihn mit ihren Pfeilen jagen. Aber wenn wir sie gemeinsam vertrieben haben, ist alles wieder gut.

Neulich im Traum durchlebte ich eine besondere Phase meines Berufslebens. Aber nicht wie damals, mit mir als gefühlt autonomem Akteur, der über allen Dingen steht. Im Traum war ich gefangen in einer nicht endenden, auswegloskafkaesken Situation, die mich bis in die späten Vormittagsstunden hinein gefangen hielt. Niemand wird mir dafür "Demenz" zuerkennen, wenn mein Gehirn nachts spazieren geht und sich morgens nicht ganz pünktlich zum Dienst zurückmeldet. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, welche Geschichte ich vielleicht mit 90 im Pflegeheim erzählen werde. Träumend oder wach: Wo bitte wird der Unterschied liegen? – Ich werde, wenn es soweit ist, ein liebevolles Umfeld haben, das mich vor dem abgestempelt-Werden beschützt. Darauf darf ich bauen.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 17.03.2021

Dr. Christian Thieme
Gustav Adolph Spangenberg Der Zug des Todes

Gustav Adolph Spangenberg, "Der Zug des Todes", Ident. Nr.: AI242,
Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Foto Herkunft & Rechte: Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, FotografIn: Andres Kilger [CC BY-NC-SA]

Blicke auf die (Un-)Endlichkeit

Eine meiner großen frühkindlichen Sorgen galt der Ewigkeit oder Unendlichkeit. Was bitte soll ein Kind auch mit jener Ewigkeit anfangen, von der die Erwachsenen da reden! Irgendwie tröstlich war das ja, zu wissen, dass der Opa ab jetzt im Himmel ist, einerseits. Aber trotzdem hat mir die Sache Angst gemacht. Schließlich könnte das mit dem Himmel ja auch auf mich irgendwie mal zukommen, und was dann?! Nicht irgendwann, sondern irgendwie! Wie genau das geschehen könnte, war mir nämlich weitgehend unklar. War doch die objektiv stets bedrohte Endlichkeit meines Kinderlebens in meiner unbekümmerten Vorstellung grenzenlos, weder unendlich noch endlich, weder sterblich noch unsterblich. So trieb mich die sehr nachvollziehbare Angst um, dass mir im Himmel langweilig werden könnte, ohne dass ich genau verstanden hätte, wie es dazu kommen könnte, dass ich dort lande.

Weil ich aber noch nie etwas, das ich auch selbst in die Hand nehmen könnte, dem Zufall überlassen wollte, malte ich mir frühzeitig und höchst vorsorglich ein Modell für meine Rettung aus. Wie müsste der Himmel beschaffen sein, damit keine Langeweile aufkommen kann? Ich stellte ihn mir als ein Stufenmodell vor, bei dem auf jede durchlebte Stufe, bevor Langeweile einsetzen könnte, rechtzeitig eine neue Stufe folgen würde, die irgendwie anders war. Damit hatte meine kindliche Phantasie die wilde, diffuse Unendlichkeit durch eine Folge von bewohnbaren Endlichkeiten ersetzt, ohne sich jedoch darüber Rechenschaft zu geben, dass sie, die naive Kinderphantasie, das Problem der Unendlichkeit lediglich um eine Ebene verlagert hatte: Aus der "einfachen" Unendlichkeit bzw. Ewigkeit entstand in meinem Modell eine Folge von himmlischen Stufen, deren jede endlich war, also frei von Langeweile, so der Plan, und die Hoffnung war, dass ich mir diese Stufen selbst würde gestalten können. Die komplette Abfolge aller Stufen musste dann allerdings erneut unendlich sein, also potenziell langweilig, aber so weit wollte das Kind, das ich war, nicht denken.

Warum aber habe ich mir die Sache so lange gemerkt! – wohl kaum, weil mich die gefundene Lösung irgendwie befriedigt hätte. Tief innen habe ich wahrscheinlich genau gespürt, dass ich das Problem der Ewigkeit/Unendlichkeit mit meinem Ansatz nicht gelöst hatte. Im Mathematikstudium lernte ich später, dass meine gedachte Abfolge der himmlischen Stufen sogar noch die harmlose Form von Unendlichkeit darstellt: hübsch eine nach der anderen. "Abzählbar viele" sagen die Mathematiker dazu. Mit den Punkten auf einer Linie könnte man das nicht, sie einfach zählen, egal, wie kurz der Ausschnitt auch wäre – "überabzählbar". "Unendlich" und "unzählig" ist nicht dasselbe. Auch heute, gut 60 Jahre später, kostet es mich immer noch viel rationale und emotionale Energie, den Blick auf die Unendlichkeit nah an mich heranzulassen. Das Weltall dehnt sich mit rasender Geschwindigkeit aus – wohin? Wir entgehen dem Schrecken durch die genau gegenteilige Vorstellung vom abgeschlossenen, blauen Himmelszelt. Endlichkeit schafft Geborgenheit. So besorgte mich die Unendlichkeit lange bevor ich begann, mir Gedanken über die Begrenztheit der Endlichkeit zu machen. Solange letztere nämlich geräumig genug ausgestattet war, erschien sie mir, als wäre sie frei von Limitationen. Die Erkenntnis ihrer Janusköpfigkeit war meinem kindlichen Denken nicht zugänglich – wozu auch. Kinder erleben zwar die faktische Begrenztheit mancher Dinge, aber nicht die prinzipielle und unentrinnbare, alles überschattende Endlichkeit, mit der im Übrigen auch wir Erwachsene uns schwer tun. Wäre es anders, würden wir manchmal anders leben und jemanden, der uns mit Endlichkeit konfrontiert, nicht so leicht als Störenfried empfinden. Das mittelalterliche "Memento mori", bedenke deine eigene Sterblichkeit, ist kein populäres Motto.

Frieden schließen mit der Endlichkeit!

Wie wir es drehen und wenden: Endlichkeit ist die Startbedingung, unter der wir angetreten sind zu leben. Sie bewahrt uns vor der beängstigenden Unfassbarkeit des Unendlichen und konfrontiert uns im gleichen Atemzug mit dem unabwendbaren Elend der Vergänglichkeit. Und was heißt das schon, wir wären "angetreten"! Wer von uns wurde denn vorher gefragt, ob er unter dieser Bedingung antreten möchte?!

Philosophieren heißt sterben lernen. Der es gesagt hat, Michel de Montaigne, wusste durchaus, wie man lebt. Und doch hat er mit seinem Satz einen Nerv getroffen, sonst würde der ja nicht so häufig zitiert. Ist ja auch kein Wunder, denn schließlich lag der Nerv seit der Antike, aus der die Renaissance ihre Inspiration bezog, immer schon blank. Jenes "Erkenne dich selbst", Γνῶθι σεαυτόν, in Stein gemeißelt am Apollo-Tempel zu Delphi, bedeutet ja nichts anderes. Erkenne deine Sterblichkeit, die dich von den Göttern unterscheidet. Heute würde Montaigne den Essay, den er so betitelt hat, vielleicht anders schreiben. Würde vielleicht weniger Gewicht auf die jederzeitige Unberechenbarkeit des Todes legen, auf seine fast makaber anmutende Omnipräsenz. Mit seinem aktuellen Alter, 39 Jahre, habe er schon ein höheres Alter erreicht als viele um ihn herum, so schrieb er – eine Feststellung, die er heute vielleicht mit 70 treffen könnte. Der Unterschied zwischen 39 und 70 ändert zwar nichts am Prinzip Endlichkeit, und doch fühlt die sich anders an, wenn sich die statistische Lebenserwartung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt näher an die biologisch mögliche heranpirscht. Lebenserwartung ist zum Rechtsanspruch gegen das Schicksal geworden. Und das verändert natürlich unseren Umgang mit ihr.

Warum aber wollen wir denn möglichst alt werden? Ich glaube nicht, dass die pure Todesangst dabei besonders ausschlaggebend ist. Ginge es nur um den eigentlichen Vorgang des Sterbens, würden nicht wenige wohl lieber einen frühen Tod mit 60 wählen, wenn er sich quasi unbemerkt ereignete, als mit 90 langsam und mühselig einer chronischen Krankheit zu erliegen.

Sterben lernen. Für Montaigne bedeutete dieses "Sterben lernen" tatsächlich und vorrangig, sich mit dem Vorgang und den möglichen Umständen des Sterbens auseinanderzusetzen. Der durch den Tod erzwungene Zusammenbruch jeder weiteren Unterstützung der Kinder oder Verzicht auf andere gute Dinge, die ich vielleicht vor meinem Ende gern noch bewirken oder erleben möchte, spielt bei ihm lediglich eine marginale Rolle. Den Grund habe ich eben genannt: Niemand möge sich einbilden, solche Dinge halbwegs verlässlich planen zu können! Wahrscheinlich konnte die Vorstellung einer generationenübergreifenden Verantwortung erst ab jenem Wendepunkt stark werden, als eine "ordentliche" Lebenserwartung zunehmend als Norm und der zu frühe Tod dementsprechend als ungerechte Willkür des Schicksals wahrgenommen wurde. Mit der Umkehrung von Norm und Willkür, wie sie sich seit Montaigne vollzogen hat, ist die einstmals willkürliche Endlichkeit zumindest berechenbarer geworden. Das sollte uns den Friedensschluss mit ihr doch leichter machen als all unseren Vorfahren!

Mit dem eigenen Leben auf Augenhöhe

Warum also tun wir uns trotzdem so schwer, mit der Tatsache der Endlichkeit angemessen, um nicht zu sagen entspannt, umzugehen? Ich erinnere mit deutlich an den Tag, als mein betagter Vater mit mir zum ersten Mal ausführlich über sein irgendwann zu erwartendes Ende sprach – bzw. sprechen wollte. Ja, sprechen wollte. Auf dieses Gespräch war ich nämlich innerlich nicht vorbereitet. Ich, nicht er. Entgegen aller biologischen Vernunft bäumte sich etwas in mir auf: "Nein, du wirst nicht sterben!", hörte ich mich stumm rufen. Mit etwas Anlaufzeit jedoch haben wir es dann gut hinbekommen, er und ich, und irgendwann war ich dankbar dafür. Das war zugleich eine erste Lernerfahrung für mich: Dieses Thema geht, aber es braucht Zeit. Einmal allen Mut zusammennehmen und sagen "Lasst uns heute mal die Sache mit meinem Tod regeln", das klappt nicht.

Entspannt, sagte ich eben. Nach jenen Gesprächen hatten wir viele Jahre weitere Zeit – es war der Zwischenraum zwischen "betagt" und "hochbetagt". In meines Vaters Schreibtisch lag seit diesen Tagen eine Mappe, aus der zwar nicht alle, aber einige Blätter später wichtig wurden: Ein Stein vom Herzen und danach fröhlich weiterleben. An die eigene Sterblichkeit zu denken, bedeutet heute nicht (mehr), täglich konkret über den Tod zu sinnieren, wie Montaigne das getan hat.

Die Zeit schreitet fort, und irgendwann werde ich mich in der damaligen Position meines Vaters wiederfinden. Werde mit meinen Nachkommen darüber sprechen, wie Endlichkeit funktioniert, dass sie für jeden gilt, auch für mich. Es sind Banalitäten, Binsenweisheiten, so trivial, dass sie – scheinbar! – keiner weiteren Erwähnung bedürfen. Aber das stimmt nicht. Abstrakt im Kopf ist das alles Binse. Aber ins eigene Leben fügen will es sich trotzdem nicht, jedenfalls nicht freiwillig. Nicht ins eigene und nicht in das der Jüngeren.

Eine kleine Passage freilich gibt es in Montaignes Essay, die könnte man heute fast eins-zu-eins aufgreifen, und das will ich hiermit tun:

"Man ängstigt unsere Leute ja schon, wenn man den Tod nur beim Namen nennt (…). Da man aber nicht umhin kann, ihn wenigstens im Testament zu erwähnen, erwarte man bloß nicht, dass es einer in Angriff nimmt, ehe der Arzt ihm das letzte Stündlein verkündet hat. Wie groß ihre Urteilskraft dann noch sein wird, wenn sie es, zwischen Schmerzen und Entsetzen hin und her gerissen, euch notdürftig zusammenkritzeln, weiß Gott allein."

Na ja, manchmal geht es ja auch weniger chaotisch zu. Aber das "mentale" Problem hat er da schon treffend beschrieben. Dabei spielt es auch keine große Rolle, ob es um größere Vermögenswerte geht oder lediglich um kleine Dinge von großer ideeller Bedeutung oder um irgendetwas dazwischen. Egal was, der Übergang will rechtzeitig gestaltet sein, transparent und gerecht. Transparent und gerecht, das erklärt sich selbst. Was aber ist rechtzeitig? Keine allgemeine Antwort, nur ein paar Zahlen: Eltern 65, Tochter 30 und Enkel 2 Jahre, oder zehn Jahre später 75, 40 und 12, oder nach weiteren zehn Jahren 85, 50 und 22 Jahre. Ich will damit demonstrieren: zwischen 2 und 22 "tut sich" mehr als zwischen 65 und 85. Die Wahl des Zeitpunkts, die Frage was "rechtzeitig" bedeuten könnte, hat für die Älteren und die Jüngeren eventuell eine sehr unterschiedliche Wertigkeit! Darüber einmal gründlich nachzudenken kann die Entscheidung der Älteren vielleicht beschleunigen?

Und was ist mit den tausend Gegenständen, die sich ein Leben lang um mich herum angesammelt haben und weiter ansammeln? Teils vielleicht allein darum, weil sie sich schon im Haushalt der Eltern angesammelt hatten, und weil mir die Entschlossenheit fehlt, damit frei umzugehen? Will ich das alles einfach so weiterreichen, noch angereichert um meine eigenen Relikte? Oder will ich allmählich anfangen zu erklären, was für mich ggf. welche Bedeutung hat, und was überhaupt keine? "Nach mir" Dinge zu entsorgen, ist nicht pietätlos. Wenn ich rechtzeitig dazu helfe, es vorzubereiten, wird es für die nach mir, die es dereinst tun müssen, tausendmal leichter.

Denkanstöße, nicht mehr.

Der Kreis schließt sich

Endlichkeit und Ewigkeit/Unendlichkeit – bei ersterer geht es um nichts weiter als um den richtigen Umgang mit den unumstößlichen Tatsachen. Bei letzterer dagegen steht die Sache selbst zur Disposition: Soll das Thema Ewigkeit/Unendlichkeit für mich in Bezug auf mein eigenes Leben eine Rolle spielen, oder keine? Wenn ich an die Jahrzehnte meines bisherigen Daseins denke, höre ich im Stillen den freundlichen Spott: "Im Alter kommt der Psalter". Soll ich dagegen aufbegehren? Lieber will ich erklären, was da sein könnte. Als Kind habe ich begonnen zu denken, und nicht zufällig habe ich dem damaligen Empfinden hier so viel Raum gewidmet. Die Endlichkeit war unbegrenzt, das Leben konnte aus dem Vollen schöpfen. Der jeweils nächste Geburtstag wurde damals noch begrüßt mit einem entschiedenen "endlich!", und nicht, wie heute, so "uiuiui…". Danach die stürmische Zeit des Aufbaus. Das Leben zu gestalten und es zugleich zu leben kostete jede Menge Energie. Sollte man darüber auch noch nachdenken? – Na gut, ganz ohne Nachdenken habe ich nie gelebt. Aber die Themen wandeln sich, das ist so. Über Endlichkeit nachzudenken bietet sich umso heftiger an, je deutlicher sie als tatsächlich endlich, als begrenzt wahrgenommen wird. Und das ist nun einmal verbunden mit dem Lebensalter.

Dabei gibt es zwar einen Zusammenhang zwischen der Haltung zur Endlichkeit und der Mutmaßung über das Ewige, Unendliche. Der aber ist weniger stringent, als vielleicht anzunehmen wäre. Das "Memento mori" der mittelalterlichen Mönche hatte klar nur eine Botschaft zu vermitteln: Richte jede Sekunde deines irdischen Daseins auf die Ewigkeit aus. Das ist die eine Sicht. Stellen wir, um das ganze Spektrum der möglichen Sichtweisen zu skizzieren, Karl Marx ans andere Ende. Es könnten auch andere dort stehen, die allesamt den Zweck und die Erfüllung eines gelungenen Lebens in der Endlichkeit und nur in ihr sehen.

In der Januar-Kolumne (Glück und Erfolg im Neuen Jahr) habe ich von Solon erzählt, und von seiner Antwort auf des Kroisos Frage nach dem glücklichsten Menschen. Diese Geschichte hat auch Montaigne in einem seiner Essays. Er macht dabei einen Aspekt stark, den ich in meiner Version ziemlich auf die Seite geschoben hatte: Das (glückliche) Leben sei erst dann zu beurteilen, wenn es abgelaufen ist. Aber Montaigne macht seinen Punkt auf eine freundliche, vermittelnde Art und Weise, wie sie für ihn typisch ist, indem er rät,

dass man jenes wahre Glück unseres Lebens, das von der Ruhe und Zufriedenheit eines rechtschaffenen Geistes sowie der Entschlusskraft und Selbstsicherheit einer im Gleichgewicht befindlichen Seele ausgeht, einem Menschen niemals zuschreiben sollte, ehe man ihn den letzten und zweifellos schwierigsten Akt seiner Komödie hat aufführen sehen.

Marc Aurel hätte dem im Hinblick auf ein Jenseits, das für ihn ansonsten bedeutungslos war, glatt noch hinzugefügt, dass auch die Götter nicht mehr von jemandem erwarten würden. Und Gott im Singular? – Die Frage lässt sich nicht einfach in einer kurzen Kolumne behandeln. Mit Montaigne jedenfalls würde ich gern diskutieren wollen über sein Wörtchen "niemals" – einem Menschen niemals zuschreiben – und die damit geforderte Ausschließlichkeit. Einerseits schon im praktischen Hinblick auf die Erfahrungen der Psychiatrie, wie Menschen schrittweise und anfangs kaum spürbar die Kontrolle über das eigene Ich verlieren, aber vor allem auch diskutieren über die philosophische Botschaft! Trotzdem höre ich ihm, wie bei allem, was er sagt, gerne zu.

Anmerkung: Die Zitate von Michel de Montaigne habe ich dem Band "Essais", erschienen im Eichborn Verlag, Frankfurt, 1998, entnommen. Benutzt habe ich die Essays 19 und 20.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 12.02.2021

Dr. Christian Thieme

AdamGiovanni Pico della Mirandola – mein schillernder Held

Man kann sich die Zeit, in der man leben möchte, nicht aussuchen. Könnte ich es, so würde ich doch wieder meine wählen. Wobei, einen verstohlenen Blick nach nebenan, in eine andere Zeit, so etwas gönne ich mir schon ganz gern. Nicht aus Sehnsucht nach Utopia, sondern weil es mich inspiriert, Dinge, die schon gedacht wurden, neu zu denken, weil sie so, wie sie damals gedacht wurden, für uns vielleicht nicht mehr ganz passen. Oder weil der Blick auf Vergangenes helfen kann, das Gegenwärtige besser zu meistern, oder es wenigstens zu ertragen.

Pico ist nicht fürs Ertragen. Pico ist für die Inspiration. Auch, wenn er 1494 im Alter von nur 31 Jahren einem für seine Position vielleicht nicht häufigen, aber zumindest typischen Risiko erlag: Er wurde vergiftet, wohl aus Eifersucht. Sein früher Tod macht die Persönlichkeit für mich nur noch faszinierender: Ich blicke herab an mir und sehe Durchschnitt, Mittelmaß vom Scheitel bis zur Sohle – gottlob auch bei der Lebenserwartung… Er dagegen: Wie viele Köpfe mag einer schon bei Geburt größer gewesen sein, wenn er am Tag seines frühen Todes schon mehrmals größer war als ich je werden könnte? Schon an meinem früheren "Wohnort", der Mathematik, bin ich solchen Persönlichkeiten begegnet, die mit kaum dreißig schon die Welt bewegt hatten, um danach ihre Lebensbahn viel zu schnell zu beenden: Tuberkulose, Duell – so vermeidbar aus heutiger Sicht. Gerade die Mathematik ist reich an jugendlichen Genies. Was mag die Menschheit an Potenzial, an Inspiration schon verloren haben, weil manche ihre besten Köpfe so früh aufhören mussten! – Hier nun also Pico, ein Philosoph.

Exzentrisches Genie
Exzentrisch, das haben wir schon geklärt. Wer in der Liebe einen derart heißen Reifen fährt, dass er den 35sten Geburtstag schon nicht mehr erlebt, hat sich dieses Prädikat schon verdient. Auch wenn sich die Geschichtswissenschaft nicht ganz einig ist, ob sein Tod tatsächlich die spätere Revanche für die vorangegangene Entführung der verheirateten Frau war. Wie auch immer, lassen wir es auf sich beruhen. Für "Genie" braucht es einen genaueren Blick. Was macht ein blutjunger Adeliger, dem, frei von Geldproblemen, alle Möglichkeiten der Zeit offenstehen? Einer, der frei über seinen großen Besitz verfügen kann, wie manche auch heutzutage noch? Dessen "della" im Namen ungefähr so viel bedeuten kann wie "von", aber auch "zu"? Pico jedenfalls brennt für die Wissenschaft! Und er betrachtet sie nicht als Sprungbrett für andere Zwecke, sondern begehrt sie um ihrer selbst willen!

Die zweite Muttersprache der Intellektuellen in der Renaissance war Latein, und dort war das Wort für die Wissenschaften zugleich auch das Wort für die Literatur (litterae), wobei man sich unter ihr wiederum nicht das vorzustellen hatte, was sie heute liefert. Und so kamen Theologie, Naturphilosophie, Ethik, Literatur und Dichtkunst ganz organisch aus einer Hand. Auch die Medizin als Rubrik der Physik, also Naturphilosophie, gehörte dazu. Kein Wunder folglich, wenn der Vatikan nichts Gedrucktes durchlassen wollte, ohne seine ideologisch schützende Hand – und die war so breit, dass von oben wenig Licht durchkam – über jeder Seite ausgebreitet zu haben, egal, in welche Unterrubrik des Großen Ganzen sie einzureihen war.

Pico wollte Licht. Er war jung, selbstbewusst, redegewandt und intelligent. So verfasste er ein Werk mit sage und schreibe gut 800 Thesen und schickte sich an, dieses Opus, mit dem er vermeinte, die Welt in allen Aspekten zu erfassen, mit der gesamten wissenschaftlichen Welt bzw. deren versammelten Größen zu erörtern. Versammelt: damit sie auch wirklich kämen, ließ er überall per Aushang verbreiten, was er vorhatte, und lud die Wissenschaftler ein, zu diesem Event, ich würde es einen Weltkongress nennen, auf seine Kosten anzureisen.

Der Crash
Allerdings hat Pico die Rigorosität des Vatikans unterschätzt, die sich durch einen zwischenzeitlichen Wechsel auf dem Stuhl Petri obendrein verschärft hatte. These für These musste Picos Werk mit den Zensurbonzen durchgegangen werden, und das allein mag schon unsägliche Überwindung gekostet haben. Übrig blieben dabei etwa zwei Hände voll beanstandeten oder zweifelhaften Aussagen, von denen etliche noch auf dem Kompromissweg hätten geklärt werden können. Bei acht Kernthesen jedoch kam es zum nicht überbrückbaren Crash. Und so zog Pico alles zurück und der Weltkongress fiel ins Wasser. Diese Geschichte verführt vielleicht dazu, die 800 glatt durch die Zensur gelaufenen Thesen für interessanter zu halten, als sie aktuell gewesen sein mögen. Vielleicht war Pico ja einzig und allein von dem Bestreben beseelt, die "schützenden Finger" der Kurie an einer einzigen Stelle so weit auseinanderzubiegen, dass etwas Licht durchgekommen wäre? Vielleicht war das 800-fache Monster-Beiwerk einzig und allein dazu erforderlich, die besagten acht zu verpacken, und nicht etwa für sein exzentrisches Ego, das mit weniger als 800 nicht auskommen wollte? Dann wäre es zumindest folgerichtig gewesen, dass er den Kongress an den 8 Thesen platzen ließ, ohne die die restlichen 800 keine Bedeutung gehabt hätten? Fragen kann ihn das keiner mehr. Gesehen hätte ich die 800 jedenfalls gern. Leider gibt es keinen unkomplizierten Weg dorthin, nur die Vorrede zu den Thesen hat verlegerisch bis heute überlebt, und die hat es in sich. Bei Reclam ist sie zweisprachig erhältlich.

Historisch und insbesondere religionsgeschichtlich gesehen steht Pico am Beginn einer turbulenten Zeit. Der Blick darauf beleuchtet den Hintergrund, vor dem unser Held lebte, agierte und von dem er sich abhob. Einige Formulierungen habe ich in der obigen Einführung so gewählt, wie sie mir passend vorkommen, um Picos Mentalität abzubilden – freilich mit modernen Worten. Dabei habe ich meiner Subjektivität ziemlich freien Lauf gelassen – das Wort "Zensurbonze" wäre Pico sicherlich nicht eingefallen. Nun aber schwenkt unsere kleine Geschichte vom Historischen ins Philosophische.

Picos Vorrede
Den für mich schönsten Abschnitt will ich im Wortlaut präsentieren. Es ist die Ansprache des Schöpfers an Adam, sein höchstes Geschöpf:

So traf der beste Bildner schließlich die Entscheidung, dass der, dem gar nichts Eigenes gegeben werden konnte, zugleich an allem Anteil habe, was jedem einzelnen Geschöpf für sich selbst zuteil geworden war. Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an:
Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und die Gaben, die du dir selber wünschest, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, den ich dir überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenen Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hinein ins Tierische entarten, du kannst nach eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben hinein in das Göttliche.
(Quelle: Pico della Mirandola, De hominis dignitate, Über die Würde des Menschen, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9658, 1997, bibliographisch ergänzte Ausgabe 2009, S.7&9).

In den zurückliegenden Jahren habe ich Picos Bändchen so oft in der Hand gehabt, dass sich der schmale Buchblock in immer weitere Fraktionen diversifiziert hat, wobei sich zugleich die Anstreichungen und Notizen immer weiter verdichteten. Während sich so der materielle Rest-Wert meines Exemplars gegen Null bewegt, stieg sein ideeller Wert weit nach oben.

Das obige Stück Text empfinde ich zuerst einmal als wundervolle Poesie. Poesie nicht als Gegensatz zu Prosa, sondern als Wort für feine, kunstvoll gestaltete Literatur. Als philosophischen Text liest man ihn vielleicht am besten laut und auch mehr als einmal. Diese Handhabung bewährt sich immer wieder, um den Inhalt einer Passage im Detail zu erfassen. Wobei hier die Schwierigkeit vielleicht weniger beim Philosophischen als in der ungewohnten Sprache liegt. Aber egal. Gründlich lesen und nachdenken. Die nächste Regel zur Lektüre besagt, dass Kritik am Text sehr lange zurückzustellen ist – so lange, bin ich mir hinreichend sicher bin, den Text auch an mehrdeutigen Stellen im Sinne des Autors bestmöglich verstanden zu haben. Denken wir uns, dass wir beides erfolgreich absolviert haben, und sprechen wir nun über den Inhalt.

Pico und die Willensfreiheit
Ich sage es vorweg: Die Willensfreiheit ist nicht schuld daran, dass mich der Text so berührt. Klar, Picos Zeilen greifen mitten in einen Diskurs hinein, der die besten Geister schon vor Pico fesselte, während seiner Zeit und danach erst recht, und immer wieder bis heute. Wie frei ist der Mensch? Wieviel Spielraum, wieviel Freiheit wollte Gott ihm geben? Wie passt Freiheit zusammen mit göttlicher Allwissenheit und Vorbestimmung?

In der Gegenwart wurde die theologische durch eine naturwissenschaftliche Frage ersetzt: Was passiert denn in mir, wenn ich vermeintlich frei und unabhängig von "allem" zu denken anfange? Aber die Philosophie ist weiter dabei. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt beispielsweise untersucht die Zusammenhänge zwischen Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und dem Begriff der Person. Einzelheiten führen zu weit. Natürlich wurde die ursprüngliche, theologische Frage nicht ersetzt, sondern sie erscheint nur in einem anderen Licht: Wer regiert die biochemischen Mechanismen, an denen mein Denken hängt? Wie "versprochen" will ich den Aspekt der Willensfreiheit aus Picos Text nicht vertiefen. Die Frage der Willensfreiheit hat in meinem gelebten Alltag keine Bedeutung. Ich tue was ich kann, "fertig". Das, was jetzt kommt, berührt mich dagegen immer wieder.

Die Ambivalenz des Adam I
Keine bestimmte äußere Erscheinung (…) habe ich dir verliehen, Adam. Vielmehr habe ich es deinem Verstand anheimgestellt, dich zu behaupten.

Adam, nackt im Dschungel. Adam, bewaffnet mit Gewehr und Kettensäge.
Adam, nackt in der Wüste. Adam, bewaffnet mit Kleidung und Allrad.
Adam, nackt im Ozean. Adam, umgeben von Milliarden Tonnen Plastikmüll.
Stoff zum immer wieder neu Nachdenken.

Die Ambivalenz des Adam II
Du kannst nach unten hinein ins Tierische entarten, du kannst nach eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben hinein in das Göttliche.

Adam mit "A" wie Adolf Hitler.
Adam mit "A" wie Augustinus.

Es hätten auch andere Namen sein können. Die Botschaft ist klar: Es gibt gute und böse Menschen. Dazu allein müsste ich nicht Pico fragen.

Aber das springt ja auch zu kurz. Jonny Cash hat den Ambivalenz-Gedanken in seinen Song vom "Beast in me" auf den Punkt gebracht: Adams Ambivalenz steckt komplett in mir, steckt in jedem von uns. Wie gehe ich ganz persönlich mit dem bösen Tier in mir um? Manchmal kommt es zur Entscheidungsschlacht, manchmal zur friedlichen Koexistenz – wieder Stoff zum Nachdenken.

Die Ambivalenz des Adam III
Pico lässt offen, wo genau er die Person Adam (oder z.B. Christian Thieme) meint und wo die Gattung Mensch insgesamt. Ist das eine Schwäche im Text? Ich traue ihm genügend Raffinesse zu, dass er es exakt so haben wollte. Zu Picos Zeit und lange danach sah es so aus, als könne es bezogen auf die Gattung auf Dauer nichts anderes geben als jene Koexistenz von Gut und Böse. Heute ahnen wir, dass es zur Entscheidungsschlacht kommen könnte, und befürchten, wie sie ausgehen könnte. Als Person(en) wissen wir genau, was zu tun ist, um den schlimmen Ausgang zu vermeiden. Weiß es auch die Gattung?

Pico hat einem Gedanken, den man auch vorher denken konnte, eine besondere Kontur verliehen und ihn auf unnachahmliche Weise in Sprache umgesetzt. Die heutige Menschheits-Perspektive kannte er noch nicht, konnte sie nicht kennen.

Dinge, die schon gedacht wurden, neu zu denken, weil sie so, wie sie damals gedacht wurden, für uns vielleicht nicht mehr ganz passen: So beschrieb ich eingangs meine Triebfeder. Speziell zu Picos Text kann ich sagen: Ihn neu ins Licht stellen und seine Tiefe neu erkunden! Was also will Picos Text von mir: Mich packen, mich zum Nachdenken zwingen? – natürlich! Und dann zum Handeln. Zu tun haben wir genug, in der Welt und vor der eigenen Haustür.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 07.01.2021

Dr. Christian Thieme

dünnes EisPerikles von Athen und das dünne Eis der Demokratie

Wir befinden uns im Jahr 430 v.Chr., und Perikles, der Chef der Athener, hält die Gedenkrede für die Gefallenen des letzten Jahres – eigentlich eine Routineübung. Doch Perikles wollte mehr als nur Routine: Statt das Blutopfer der gefallenen Athener mit weiter nichts als mit tagespolitischen Interessen zu rechtfertigen, stellte er, bevor er die herkömmlichen Erwartungen bediente, die Grundwerte heraus, die Athen vor allen anderen Staaten auszeichneten. Dass sein Text (in der von Thukydides überlieferten Fassung) bis heute als Magna Charta der Demokratie gefeiert werden würde, konnte er freilich nicht ahnen. Und dass er sich nach 2500 Jahren wie ein spitzer Pfahl ins Fleisch einer scheindemokratischen Selbstgefälligkeit bohren würde, noch weniger. Mit dem folgenden Ausschnitt habe ich, ich gebe es zu, etwas auf die Tagespolitik geschielt:

Von dem Geiste aber, der uns dahin gebracht, von Staatseinrichtungen und Grundsätzen, denen wir unsere Größe verdanken, davon will ich zuerst reden (…). Wir genießen eine Verfassung, welche die Gesetzgebung anderer Staaten nicht nachahmt; im Gegenteil sind wir eher anderen ein Beispiel, als dass wir sie nachahmten. Und mit Recht wird sie, da die Gewalt nicht bei wenigen sondern bei der Gesamtheit ruht, Volksherrschaft genannt. Jedem gebührt nach den Gesetzen gleiches Recht mit den anderen in allen seinen Angelegenheiten (…)

In dem Abschnitt, den ich hier überspringe, führt Perikles aus, was Chancengleichheit und Freiheit von Diskriminierung bedeuten, um dann fortzufahren:

Während wir dergestalt unbeschwert von Mensch zu Mensch verkehren, widerstreben uns im öffentlichen Leben zumeist aus sittlicher Ehrfurcht Unbotmäßigkeiten gegen die ständige Obrigkeit und die Gesetze, vorzugsweise gegen die, welche zum Schutz der Schwächeren und Notleidenden bestehen und, wenn auch ungeschrieben, doch nach allgemeiner Denkart den Übeltäter brandmarken.

Anmerkung: Antikes Denken lässt sich manchmal nicht ohne weiteres in moderne Sprache fassen. Für den griechischen Terminus "Demokratie" hat der Übersetzer im Deutschen aus gutem Grund das neutralere Wort "Volksherrschaft" gewählt. Auch bei anderen abstrakten Begriffen ist Fingerspitzengefühl nötig, um für die antiken Konzepte moderne Begriffe zu finden, die den Punkt treffen, ohne sich von unangemessenem Wunschdenken leiten zu lassen. Man braucht nur verschiedene Übersetzungen zu vergleichen, um eine Vorstellung vom Problem zu bekommen, wobei ich bei "Geist" und "Grundsätze" mit der Wahl des Übersetzers ganz einverstanden bin.

Ob Perikles als Person für die Werte stand, die er in seiner berühmten Rede predigte, ist unter Historikern umstritten. Denken wir uns für heute, dass er vielleicht der erste Demokrat in der ersten Demokratie war, wenn auch mit allen notwendigen Einschränkungen. Das tut unserer geschundenen Demokraten-Seele gut. Gerade heute, wo sie unter dem Eindruck steht, um nicht zu sagen gezeichnet ist von jenen vier schicksalhaften Jahren, die dieser Tage mit Donner und Getöse zu Ende gehen – oder auch nicht? Vor dieser Erfahrung habe ich die Rede anders gelesen und mich auf den Teil konzentriert, den ich jetzt übersprungen habe. Ich meine den Teil, wo Perikles die Vorzüge von Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit preist. So aber muss ich den Blick zuerst auf einen scheinbar zweitrangigen Aspekt der Rede richten, dessen heutige Bedeutung vor vier Jahren kaum einer auf dem Schirm hatte: Die ungeschriebenen Gesetze. Solange sie unangefochten galten, bemerkte man sie kaum. Perikles aber hat ihren Wert schon vor 2500 Jahren gesehen: Ein funktionierender demokratischer Staat entsteht erst dann, sagt er, wenn wir neben dem Wortlaut auch den Sinn der Gesetze im Blick behalten und akzeptieren, dass sich nicht jedes kleinste Detail in Paragraphen fassen lässt.

Nichts ist so zerbrechlich wie Demokratie
Wer folglich den eigenen Staat zerlegen will und frei von Schamgefühl ist, wird genau hier ansetzen und gezielt auf die ungeschriebenen Gesetze losgehen. Denn da ungeschriebene Gesetze nirgends geschrieben stehen, sind sie nicht justitiabel, und wer sie zertrümmert, erntet zwar Fassungslosigkeit, damals wie heute, aber abgesehen vom Verlust der Ehre hat er nichts zu befürchten. Für Perikles war das ein "No Go". Heute gelten, so scheint es, andere Regeln, nämlich gar keine mehr. Der dieser Tage jenseits von Recht und Anstand um den Verbleib im Amt kämpft, hat vom ersten Tag an ein Tabu nach dem anderen gebrochen, und tat dies bereits, bevor er sein Amt überhaupt angetreten hatte. Endlich in Amt und Würden setzte er diese Strategie systematisch fort, immer hemmungsloser, immer bedrohlicher, bis zum letzten Tag.

Immerhin haben vier Jahre nicht ausgereicht, das in Jahrhunderten gefestigte System zu kaputt zu kriegen. Nicht nur die wichtigsten geschriebenen Gesetze haben standgehalten, sondern vor allem auch ein Teil der ungeschriebenen. Jetzt fragt sich die Welt, ob der Angriff nachhaltig abgewehrt ist oder wir es nur mit einer Atempause zu tun haben. Wir? Na ja, von Europa aus ist nichts daran zu tun, aber die Auswirkungen erfassen alle Weltregionen, und Europa in besonderer Weise.

Wie kapert man einen Staat
Demokratische Strukturen sind global gesehen die Ausnahme – heute und früher, und das ist eigentlich paradox. Denn warum, wenn es doch keine bessere, oder zumindest keine mit weniger Nachteilen behaftete Staatsform gibt, streben nicht alle Staaten begeistert zu ihr hin? Attraktiv muss sie ja irgendwie sein, sonst würden sich nicht so viele Staaten direkt im Namen mit ihr schmücken. Auf deutschem Boden hatten wir das auch schon. Wobei eben gerade dort, wo außen "Demokratie" draufsteht, innen keine drin ist. Warum ist das alles so?

Die Antwort ist leicht zu finden, und aktuell genügt dazu mal wieder die Beobachtung der Tagesschau. Trotzdem lohnt sich ergänzend ein Blick ins Geschichtsbuch auf eine Entwicklung, deren Wiederholung soeben im letzten Moment vermieden wurde - hoffentlich. Sie beginnt bei Matteo Palmieri, einem florentinischen Humanisten des 15. Jahrhunderts. Er beschreibt den Juckepunkt der Demokratie aus einer optimistischen, heute muss man sagen naiven Perspektive:

Jeder gute Bürger, der in einem öffentlichen Amt steht und darin ein wichtiges Glied des Staates verkörpert, soll sich vor allem anderen darüber im Klaren sein, dass er dort nicht als privates Individuum steht, sondern die Gesamtheit der Stadt verkörpert, also die personifizierte Republik darstellt. Er soll sich darüber im Klaren sein, dass ihm die staatliche Würde anvertraut und das öffentliche Wohlergehen seiner Redlichkeit anheimgestellt ist; Er soll sich den göttlichen Beistand wünschen und Gott demütig um Gnade bitten.

In seinem späteren Leben musste Palmieri erkennen, wie gnadenlos optimistisch seine damalige Beschreibung gewesen war. Als er 1475 starb, hatte Lorenzo de’Medici die einst freie Republik Florenz, für die Palmieri als quasi Demokrat brannte, bereits unumkehrbar auf Talfahrt geschickt. Wobei die einzelnen Schritte dorthin kaum bemerkt wurden, so subtil waren sie. Der Zeitpunkt, ab dem die Demontage nicht mehr umkehrbar war, lässt sich daher kaum dingfest machen, weder in der Retrospektive noch von den damaligen Zeitzeugen. Der Trick war denkbar simpel: Die Übergänge von einem Schritt zum nächsten waren jeweils so gering, dass keiner ausgereicht hätte, eine "revolutionäre Situation" auszulösen. Und heute? In aller Zurückhaltung möchte ich sagen: Schaut Euch um, nicht nur jenseits, sondern auch diesseits des Teichs.

Nach Palmieris Tod kam es doch noch zur Revolte. Allerdings nicht von wirklichen Patrioten, sondern von Großbürgern, die Lorenzo die "Erträge" seiner Diktatur neideten und es leid waren, anstelle einer Teilhabe an den Einnahmen mit immer neuen Steuern überzogen zu werden: Wenn schon Staat als Selbstbedienungsladen der Reichen, so ihr Kalkül, dann doch bitte auch für uns und nicht nur für Lorenzo! Die Revolte scheiterte, und die Anführer mussten hängen. Und wie, wie scheiterte sie? Ganz einfach: Lorenzo hatte sich mit der allerärmsten Schicht verbündet. Die hatten zwar wenig von seiner Diktatur profitiert, aber gefühlt waren sie begeistert: Viva Lorenzo, der uns unser Brot gibt! skandierten sie und stellten sich schützend vor seinen Palazzo. Ganz oben im Schulterschluss mit ganz unten – fallen Ihnen Parallelen ein? Sicherlich denken Sie jetzt spontan an die Gracchen um 200 v.Chr.? Na ja, Scherz beiseite – vielleicht gibt es ja auch näherliegende Beispiele.

Geschichte wiederholt sich nicht "eins-zu-eins". Trotzdem wurde damals in Florenz ein Drehbuch inszeniert, das wir heute zumindest in Bruchstücken wieder beobachten können. Soll ich, statt von Bruchstücken zu sprechen, sagen, es sei der erste Akt?

Nichts ist so launisch wie ein Staatsvolk?
Die aktuellen Entwicklungen sollten uns eines vor Augen geführt haben: Aller Konsens, auf dem unsere Demokratien fußen, ist entweder ungeschrieben, das hatten wir gerade, oder festgehalten auf Papier. Auf nichts als Papier. Papier jedoch kann nicht schießen. Und Stiefel, wenn sie erst anfangen, über das Papier zu trampeln, lesen nicht. Der Sturm auf das Kapitol bleibt hoffentlich für lange ein Einzelfall.

Der Bestand der Demokratie hängt davon ab, dass das Staatsvolk sie (noch) haben will und zu ihr steht. Die Warnungen, dass Corona die Demokratie gefährden kann, indem die Pandemie die soziale Schere noch weiter öffnet, sind begründet. Nehmen wir sie ernst genug? Handeln wir entsprechend – individuell und in der Sozialpolitik?

Sozialpolitik ist wichtig, aber hier nicht mein Thema. Auf der individuellen Ebene geht es um Zivilcourage. Sich bei jeder Gelegenheit zu diesem Staat bekennen. Zeigen, dass Demokratie und Freiheit Herzensangelegenheiten sind, oder wieder werden sollen! Demokratie will vorgelebt werden, gerade denen gegenüber, die sich von ihr abwenden. Zwar muss niemand die Meinung eines andern übernehmen. Aber die demokratischen Grundüberzeugungen müssen alle teilen. Das ist die Plattform, auf der wir unsere Gegensätze austragen.

Zwischen Sozialpolitik und persönlichem Engagement stehen die Kirchen. Wie lange schon bestimmt die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat die Agenden. Und es stimmt ja auch. Kirchen sollten sich nicht darauf verlassen, den staatlichen Machtapparat vor den Karren eigener Zwecke zu spannen. Angesichts der tatsächlichen Herausforderungen, denen wir begegnen müssen, ist das Thema nebensächlich geworden. Haben wir aber, wenn wir über Kirche und Staat sprechen, auch die Rückseite der Medaille im Blick? Oder ist es sogar die Vorderseite? Ist uns hinreichend bewusst, dass gerade die Kirchen über unzählige Projekte Kontakt zu jenen Teilen des Staatsvolks haben, und ich wähle diesen Ausdruck ganz bewusst, er soll zum Stolpern anregen --- nochmal von vorne: Gerade die Kirchen haben Kontakt zu vielen Menschen, denen die persönliche Notlage den Blick auf die staatspolitischen Fragen verstellt hat. Nicht nur "die da oben" müssen Demokraten bleiben, sondern auch wir, das Staatsvolk.

Post Scriptum: Für die Idee, die Entwicklung der letzten Wochen und Monate in den Kontext unserer 2500-jährigen Geschichte zu stellen, wollte ich mir etwas mehr Zeit nehmen. So traf es sich, dass ich die letzten Ergänzungen und vor allem Kürzungen just an dem Abend vornahm, als der entfesselte Mob in Washington DC das Kapitol stürmen wollte. Ungeachtet dieser Dramatik und der Risiken der letzten 13 Tage werde ich die Kolumne an diesem Punkt enden lassen.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 01.01.2021

Dr. Christian Thieme

Glück und Erfolg im Neuen Jahr!

Nachdem Solon, der Weise, seinen Athenern um 600 v. Chr. jene Gesetze, von denen wir bis heute zehren, verordnet und ihnen den heiligen Eidschwur abgenommen hatte, sie zehn Jahre lang nicht anzutasten, ging er für eben diese zehn Jahre ---- auf Dienstreise. Auf seiner langen Reise führte ihn der Weg auch zu Kroisos, dem wahrscheinlich reichsten Herrscher der damaligen Welt. Der Name Krösus ist ja bis heute der Inbegriff von maßlosem, vielleicht auch sinnlosem Reichtum. Was am Hof jenes Kroisos geschah, erzählt uns Herodot, der Geschichtsschreiber. Nach einigen Tagen nämlich, man hatte ja Zeit und war nicht aufdringlich, nahm der reiche Potentat den weisen Staatsmann mit in seine Schatzkammer, um ihm das Beste zu zeigen, was er angehäuft hatte: Seine weltweit einzigartige Sammlung von Modelleisenbahnen.

ModelleisenbahnenIn echt ging es natürlich nicht um Modelleisenbahnen. Kroisos hat sich für das interessiert, woran alle ordentlichen Potentaten bis heute hängen, wofür sie brennen: Reichtum und Macht. Und Reichtum konnte man damals noch besichtigen, weil er nicht wie heute aus Nummern in den Briefkästen irgendwelcher Steueroasen bestand. Also Schatzkammer.

Als nun Solon alle Schätze bewundert hatte, höflich und pflichtschuldigst, fragte Kroisos ihn, wen er, Solon, denn nun für den glücklichsten Menschen auf Erden halte. Da nannte ihm Solon seinen Favoriten und begründete seine Wahl. Natürlich fiel die Wahl nicht auf Kroisos. Bei Platz zwei das gleiche Spiel, und durch Nachfragen fing der Herrscher allmählich an zu begreifen. Eigentlich begriffen hat er aber nicht Solons Botschaft, sondern lediglich die Größe der Provokation – überrissen hat er sie, könnte man eher sagen. Die Konsequenz war klar: Nach dem dritten und letzten Versuch wurde Solon vom Hof gejagt.

Zwei Gründe hatte Solon ihm genannt. Der erste war etwas spitzfindig, nämlich dass man erst am Ende eines Lebens beurteilen könne, ob der betreffende Mensch glücklich war. Würde ich das teilen? Angesichts der Vergänglichkeit und der damals wie heute und immer drohenden Katastrophen darf sich Glück, so meine ich, im Jetzt bewegen, unbeschwert von allem, was kommen könnte, solange es sich mit Ethik und Verantwortung verbindet, nicht mit Leichtfertigkeit. Dies würde ich Solon zu seinem ersten Punkt zu bedenken geben.

Mit dem zweiten Grund immerhin hat er zu hundert Prozent Recht, und dafür hatte ich die Modelleisenbahn als Merkposten gesetzt. Denn wer auf der Welt wollte sich denn ernsthaft die Freiheit herausnehmen, für einen anderen Menschen zu bestimmen, was diesen glücklich macht, ihn also buchstäblich zu seinem Glück zwingen? Hat Kroisos das getan? Nein, aber er hat stillschweigend unterstellt, dass seine persönliche Vorstellung von Glück, nämlich Reichtum, auch die von allen anderen Menschen sein müsse. Denn ohne eine einheitliche Skala, mit der man das Glück aller Menschen messen könnte, wäre seine Frage, wer der glücklichste Mensch sei, sinnlos. Die Provokation bestand darin, dass Solon überhaupt einen Gegenentwurf hatte. Weil das bedeutet: Reichtum ist nicht die einzig mögliche Skala.

Von diesem Ende her aufgerollt sieht die Geschichte, wie ich sie bisher erzählt habe, schlüssig aus. "Wo ist denn das Problem", könnte man denken, "es ist doch klar, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Vorstellungen haben, was für sie Glück bedeutet!"

Wann ist der Mensch glücklich?

Das ist aber nur die eine Seite. Gleichzeitig bemühte sich die Philosophie damals und immer danach um Modelle für "das Glück des Menschen". Als ich vor langer Zeit von ganz weit außen anfing, mich für Philosophie zu interessieren, war Ludwig Marcuse mein erster schriftlicher Lehrmeister. Von ihm fand ich u.a. das Buch "Philosophie des Glücks" und besorgte es mir, in der festen Erwartung, dass dort umfassend erklärt würde, wie das denn nun alles so sei mit dem Glück. Was ich bekam, war eine Sammlung von Geschichten und ein einführender Text dazu. Obwohl ich befremdet war, habe ich es gelesen. Die Quintessenz, an die sich die Leser*in durch die Lektüre der unterschiedlichen Geschichten langsam heranarbeiten musste, war denkbar simpel: Jeder Mensch verfolgt sein individuelles Glückskonzept. Warum also ein ganzes Buch für etwas, das sich in einem Satz aus 6 Wörtern sagen lässt?

Mich begeistert immer wieder neu die Stärke, mit der Ludwig II seine sehr individuelle Vorstellung von Glück verfolgt hat. In keiner Weise begeistert mich der Weg, wie er seine Mittel dazu aufgebracht hat, denn bezahlen dafür musste sein Staatsvolk. Aus diesem Grund möglicherweise musste er ja auch sterben. Nein, mich begeistert nicht die Art und Weise, wie der König sich die Grundlage seiner Freiheit verschafft hat, sondern das Selbstbewusstsein, mit der er sie nutzte. Vielleicht ist es für einen König leichter, selbstbewusst zu sein, als für unsereinen. Mag sein. Vielleicht ist es auch nicht gut, die Aufbringung der Mittel so weit von deren Nutzung abzukoppeln, dass ich ersteres missbillige und letzteres mir zum Vorbild nehme. Trotzdem irgendwie… Ein erwachsener König wünscht sich ein "Tischlein, deck dich!", einen Tisch, der wie im Märchen plötzlich gedeckt vor ihm steht. Und er bekommt es. Unfassbar, und irgendwie unfassbar schön. Hätte es schon Modelleisenbahnen gegeben – Ludwig hätte, anders als Kroisos, seine Freude daran gehabt.

An dieser Stelle meldet sich der kleine Unterdrücker, der in jedem von uns steckt. Wie kann ein ernsthafter König nur!? Dabei ist doch klar: Weder Ludwig II noch einer der Oligarchen, deren Yachten weltweit die attraktivsten Häfen fluten, ist gezwungen, den ganzen Tag ernsthafter Arbeit nachzugehen. Und wenn er sein Glück dann in Golf und Yachten sucht (und findet????), dann finden wir das irgendwie normal. Würde er alle seine Tage in einem Museum für Teddybären verbringen, na? – wäre doch seltsam, oder?

Unsereins hat weniger Mittel, aber nicht weniger Freiheit (und verbunden mit ihr nicht weniger Verantwortung!), natürlich auf der – im Vergleich zum König bescheidenen – Ebene, auf der jede*r von uns lebt, träumt und handelt. Und damit bin ich wieder bei Ludwig Marcuse und seiner "Philosophie des Glücks". Die extreme Spannweite seiner Geschichten demonstriert tausendmal plastischer als der vorherige Satz aus 6 Wörtern ("Jeder Mensch verfolgt sein individuelles Glückskonzept"), worauf es ankommt. Deshalb füttert Marcuse nicht den analytischen Verstand, der die sechs Wörter tatenlos zur Kenntnis nehmen und weiter vor sich hin analysieren würde, sondern er appelliert an uns: Trau dich, tu was, scher dich zwar um deine Lieben und um alle, für die du Verantwortung übernommen hast, aber scher dich nicht um das Gerede der anderen. Dein Glück gehört dir!

Mein eigenes Glück finden!

Im Alltag hören und reden wir häufiger vom Erfolg als vom Glück. Klar, in Finnland (oder war es Dänemark?), leben die glücklichsten Menschen. Das Internet ist überhaupt voll von "glücklichsten" Menschen und Völkern, und glücklich ist der der Gewinner im Lotto. Klar lebe ich in der Südsee glücklicher als in einem Kohlebergwerk, überspitzt gesagt. Mit diesem Kontrastpaar verletze ich garantiert niemanden und Sie verstehen, was ich meine. Solche Faktoren können in jeder Glücksstudie zweifelsfrei abgefragt werden. Aber nicht alle Kriterien sind so unzweifelhaft. Nicht hinter jedem würden sich alle Menschen zustimmend versammeln. Deshalb immer im Auge behalten: Jedes statistische Glück ist ein Stück weit ein normiertes, ein an durchschnittlichen Empfindungen gemessenes, und damit ein "repressives" Glück, nämlich Glück, das sich nicht nach meiner eigenen Skala richtet, sondern zu dem die Statistik mich verführen will. Mein eigenes Glück finde und suche ich selbst!

"Finde und suche?" Findet man nicht vielmehr das, was man vorher gesucht hat und nicht umgekehrt? Natürlich ist das so. Aber das erste Finden ereignet sich im Kopf. Das ist hier gemeint und dazu will Ludwig Marcuse ermutigen. Im Kopf das Ziel finden, nach dem ich anschließend im Leben suche – und das sich dort dann hoffentlich erfüllt.

Wir hätten das ganze Thema ebenso gut mit dem Kriterium "Erfolg" besprechen können, denn die Fragen sind fast deckungsgleich. Aber zum Erfolg gibt es weniger gute Geschichten, und die, die es gibt, gehören meistens in die Rubrik Business. Für große Unternehmerpersönlichkeiten bedeutet der Erfolg des eigenen Unternehmens vielleicht tatsächlich die Erfüllung ihres Lebenstraums. Aber gilt das auch für jedes schlaflose Mitglied des mittleren oder oberen Managements, das vom Umfeld für seinen "Erfolg" bewundert und vielleicht beneidet wird? Und von dieser Bewunderung immer weiter vorangetrieben wird? Verfolgt jeder dieser Manager wirklich noch SEIN Ziel?

Lassen Sie sich nicht irre machen. Wenn maximales berufliches Fortkommen für Sie Erfolg bedeutet, weil es das Ziel ist, nach dem Sie streben, und damit Glück, wenn sie es erreichen, dann sage ich: GO FOR IT! Hold on, bleiben Sie dran! Freuen Sie sich über das Erreichte, oder besser: an dem Erreichten. Der nächste erfolgreiche Schritt bedeutet für Sie ja dann nicht eine weitere Kerbe im Colt, sondern dient der Gestaltung ihres Lebens.

Und wenn das Ziel, nach dem Sie streben, und damit ihr Glück, wenn sie es erreichen, ein ganz anderes ist, was vielleicht außer Ihnen kein einziger Mensch auf der ganzen Welt verstehen kann, denn sage ich: GO FOR IT! Hold on, bleiben Sie dran! Freuen Sie sich über das Erreichte, oder besser: an dem Erreichten. Auch wenn niemand versteht, wie glücklich Sie sind. Was schert es Sie!

Mit so viel Vorrede ist mein Wunsch für Sie ganz einfach: Glück und Erfolg in 2021!

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 03.12.2020

Dr. Christian Thieme

Advent zu Hause

Wenn du verreisen willst, sagt der römische Philosoph Seneca, egal wohin, egal wie weit, sogar über das weite Meer, dann bedenke: Es gibt eine Sache, von der du niemals loskommst. Du hast dich nämlich immer selbst dabei. Über das weite Meer! Die Maßstäbe haben sich seit Seneca verändert, aber die Sache selbst ist geblieben. Wer weg will, um etwas hinter sich zu lassen, sei es Weihnachten oder gleich sein ganzes "ich", wird vermutlich keinen großen Erfolg haben. Jedenfalls keinen nachhaltigen. Das nächste Weihnachten kommt bald, und Sorgen und Probleme lassen sich in der Regel nicht so leicht abschütteln. Spätestens auf dem Rückflug sind sie alle wieder da. Aber vielleicht ist ja eine kurze Atempause manchmal auch schon etwas.

Weihnachten in SüditalienBei "meinem" ligurischen Dorf ist das anders. Dort will ich hin, um dort zu sein. Nicht um weg zu sein oder vor etwas zu fliehen. Normalerweise wären wir gerade jetzt, Anfang Dezember, für eine kurze Zeit dort. Zu schön sind die weihnachtlich dekorierten Palmen, jeder Wedel ein Fächer aus hundert Lichtern, hoch oben am Stamm. Und die Raubkatze, geformt aus noch mehr Lichtern, wie sie am Baum hochspringt, ohne je die Beute zu erreichen, die sich vielleicht oben in den Wedeln versteckt hält. Über Geschmack kann man streiten, aber in diesem Fall bin ich gar nicht zum Streiten aufgelegt – ich finde es einfach schön. Wobei die Palmen an der Küste, um der Wahrheit die Ehre zu geben, seit etlichen Jahren schon dunkel bleiben. Keine weihnachtlichen Lichter mehr, keine Raubkatze, und auch der Santa Claus, geformt aus noch mehr Lichtern, der mit seinen Rentieren jedes Jahr auf der Verkehrsinsel Rast hielt, umgeben von einem stetigen Strom zwei-, drei- und vierrädriger Stinker, muss sich wohl ein anderes Plätzchen suchen, wo er sich vom Flug erholen kann, bevor er anfängt, die Konsumgüter auszuliefern. Das Geld ist alle in Italien, egal, aus welcher Kasse die tausend Lichter einst gespeist wurden. Leer sind sie alle. Was bisher blieb, war die von Jahr zu Jahr schwindende Hoffnung, dass Santa Claus samt Raubkatze und strahlenden Palmen eines Tages plötzlich zurück sein könnte. Nun also statt der schwindenden Hoffnung die Pandemie.

Aber ernsthaft. Santa Claus aus Lichtern ist natürlich kein hinreichender Grund, an die Ligurische Küste zu wollen. Das kleine Dorf ein Stück oberhalb aber schon, und das ganzjährig. Ich tue dort Dinge, die ich daheim auch mache, aber anders. Schreiben zum Beispiel. Geschichten schreiben über Dinge, die ich dort beobachte. Und über Menschen. Genauer: Darüber, was das alles mit mir macht. Was es zum Beispiel macht, wenn ich plötzlich nicht der bin, der Integration gewährt (oder ablehnt?), sondern einer, der sie sucht, und sei es auch nur auf Probe, ohne die letztverbindliche Notwendigkeit. Eine dieser Geschichten erzähle ich hier. Sie spricht eigentlich für sich, aber trotzdem werde ich danach noch ein paar Sätze anhängen.

Messe im Bergdorf

Es spielt keine Rolle, wie schlecht ihr Zustand ist. Einmal im Jahr wird in der Kapelle von Bellezza* (in Wirklichkeit heißen die Dörfer anders, aber ein wenig Verfremdung bin ich den Menschen wohl schuldig, wenn ich so einfach von ihnen erzähle) die heilige Messe gefeiert. Was sich in den Stunden davor abspielt, beschreibt man am besten durch den Vergleich mit Weihnachten. So kahl und schmucklos der Christbaum vor der Bescherung noch dasteht, erstrahlt er vor den Kinderaugen doch himmelsgleich, wenn das Christkind erst da gewesen ist. Und ein wenig auch in den Augen der Erwachsenen, die ihn vorher Stück für Stück und eigenhändig herausgeputzt hatten und es eigentlich besser wissen: Es war nicht das Christkind. Egal.

Kahl und schmucklos wirkt auch die kleine Kirche, bevor der Trupp zur Verschönerung anrückt. Sie besitzt kaum noch eigenes Innenleben: Die Fresken sind übertüncht oder abgebröckelt, ebenso der Altar, und das Altargemälde wurde sicherheitshalber ausgelagert. Viel Schönheit erkennt man da nicht mehr. Vier Stunden später sieht man etwas anderes.

Der "Trupp", das ist ein Bauer aus dem Nachbardorf, derselbe, der später auch aus der Bibel lesen wird, mit kariertem Hemd, groben Schuhen und einem feinen, freundlichen Wesen. Alles von Gewicht (nicht in Kilogramm, sondern auch im übertragenen Sinn) erledigt er. Da ich gerade zugegen bin, habe ich die Ehre, ihm zu helfen, und das mit der Ehre ist keine Ironie. Vervollständigt wird der Trupp von zwei alten Frauen, die die Blumen und den Rest besorgen.

Da erst fällt es mir auf. In der Kapelle steht ein Schrank, der normalerweise verschlossen ist, und der die reinsten Wunder birgt. Uralte, hölzerne Kerzenständer, größere und kleinere. Die Fassungen sind so hinfällig, dass man neue Kerzen kaum noch befestigen kann, doch wen stört‘s. Am Ende stehen sie an ihrem Platz und halten eine Messe lang durch. Wie viele von den Leuchtern soll man nehmen, die größeren oder lieber die kleinen, alles wird so genau überlegt, als wäre es die erste Messe, die je mit diesen Utensilien vorbereitet wurde. Dabei kommt das Beste erst noch.

Der nächstgelegene Punkt, den man mit dem Traktor erreichen kann, liegt 200 m hinter der Kapelle. Von dort an muss jedes Stück getragen werden: Stühle, Bänke und Tische. Nicht alles wird getragen: Im Schubkarren darf fahren, was der Pfarrer für die Messe braucht. Welche Fuhre: das Messgewand, die sakralen Utensilien, die weißen Tücher und die große Bibel gemeinsam in einem profanen Schubkarren.

Die Stühle werden in der Kapelle gebraucht, für die mehrheitlich älteren und hochbetagten Besucherinnen. Die zugehörigen Männer, soweit noch am Leben, halten sich draußen auf. Die Tische und Bänke sind ohnehin für draußen bestimmt, für das Fest. Später werden die Gäste ihre Mitbringsel auspacken: Kuchen, Salate, Pizza, Bruschetta, dazu Wein, roten und weißen, auch Wasser und Säfte. Für alles, was Küche und Keller zu solchen Anlässen bereithalten, wird gesorgt sein, später, denn noch ist es nicht so weit.

Die weißen Tücher bedecken inzwischen den Altar mit all seinen schadhaften Stellen, auch die Blumen und Kerzen stehen an ihrem Platz, der Weihnachtsbaum-Effekt kann beginnen. Und jetzt tritt er auf, der Pfarrer, in voller purpurner Pracht, mitten im Grünen, in dieser winzigen Kapelle. Für praktizierende Katholiken mag der Anblick vertraut sein, in der Stadt wenigstens. So wie hier, zwischen den Oliven und fern von allen Fahrstraßen, erleben auch sie das vielleicht nicht alle Tage, stelle ich mir vor. Die Predigt passt sich in Tempo, Lautstärke und Anspruchsniveau dem Vermögen der Anwesenden an, zum Glück für mich Ausländer. So kann ich der Geschichte folgen.

Über das anschließende Fest ist fast schon alles gesagt. Überflüssig zu ergänzen, dass es ein gutes Fest wird. Gut auch für uns, die wir so selbstverständlich mitfeiern und nach Kräften mitreden dürfen, als würden wir ganzjährig dazugehören – wobei am ligurischen Dialekt jedes Bemühen zerschellt, und zwar, wie ich fürchte, für immer. Aber das wissen unsere Freunde, und lassen uns nicht im Regen stehen – ein Stück Integration. Manche Unterhaltung ist sich selbst genug, manch andere berührt mich tiefer, wie zum Beispiel diese hier: …und, ach ja: ich war von 1963 bis … in Deutschland. Ja, in Erne ist es gewesen (das "H" muss man sich dazu denken), ja, es war gut. (War es wirklich gut, mein lieber Alter? Wie werden sie dich behandelt haben dort, dich Gastarbeiter?) Nein, sagt er, es war gut. Rückblick auf ein halbes Leben, Zeitraffer. Er wohnt seit seiner Rückkehr in Bonissimo, das von Bellezza einst zehn oder fünfzehn Gehminuten entfernt war. Für ihn sind es heute dreißig und noch mehr geworden, die von Jahr zu Jahr beschwerlicher werden.

Nach dem Fest wandern alle Utensilien auf demselben Weg zurück bis zum Traktor. Die Bibel, die Tücher und die Gewänder dürfen wieder im Schubkarren fahren. Der Pfarrer ist schon weg, nur sein ein-Mann-Trupp wird noch eine Weile beschäftigt sein, um alles heil hinunter zu bringen und aufzuräumen. Morgen früh steht er wieder in den Oliven.

Leben unter Freunden

Wenn ich wollte, könnte ich die Geschichte verlängern. Ich könnte schildern, wie sich der Pfarrer bei einem dieser Feste den Schubkarren geschnappt und in seiner langen, schwarzen Soutane die quiekende und johlende Kinderschar reihum durch die feiernde Gesellschaft kutschiert hat. Oder wie ich ihn einmal vor seiner Kirche kniend auf dem edlen Marmorboden fand, ganz so, als wollte er justament dort meditieren. Mitnichten wollte er das. Eine kleine Schaufel hatte er in der Hand, mit der er, tief hineingebeugt, das offenbar verstopfte Gully ausgeräumt hat. Oder, oder, oder … – ich tue es nicht. Vielleicht ein andermal.

Hier in "meinem" Dorf versuche ich, wenn ich da bin, so gut es geht am Leben derer teilzunehmen, die dort zuhause sind – viele sind das ja nicht (mehr). Dabei ist es nicht so, als wollte ich mich hineindrängen. Wie genau es ist – der Versuch, es zu beschreiben, macht es nur kompliziert. Jedenfalls spielt dabei "unsere" kleine Kapelle für die Brüder Cosma und Damiano, zwei Ärzte aus Syrien, an deren Gedenktag auch die Messe stattfindet, eine wichtige Rolle. Mein Freund Franco verwaltet den gewaltigen Schlüssel, alte Schmiedearbeit, und der Weg in die Kapelle, die fast ganzjährig verschlossen ist, führt über ihn. Katholisch zu sein ist für ihn auf eine unspektakuläre Weise Teil des Lebens. Fast würde ich behaupten, Teil des Alltags, auch wenn man meist nichts davon sieht. Wie sollte man auch. An der Kapelle sieht man es dann doch. Sie ist ihm zugleich geliebtes Baudenkmal und ein katholisch-sakraler Ort. Wenn ich dort bin, versuche auch ich, mich ihr auf diesen beiden Ebenen zu nähern. Vielleicht beschreibt das irgendwie, was ich mit "teilnehmen" sagen wollte.

Dezember, im Corona-Jahr 2020. Wir werden das Dorf vermissen, wie schon das ganze Jahr über, und in ihm vor allem die Menschen, die dort so an uns in Starnberg denken wie wir hier an sie in Bellezza. Und das ist dann schon fast wieder tröstlich, nicht nur im Advent.

Von Dr. Christian Thieme

 

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Thiemes Zettel vom 26.11.2020

Dr. Christian Thieme

Vorurteile

Ein alter Mann spielt Schach im Park. Unbesiegt seit Jahr und Tag steht er und wartet auf Gegner. Er gewinnt, aber er ist kein Sieger. Jeder im Park kennt ihn, aber ein Freund ist nicht dabei. Heute nun wird er seinen Meister finden, endlich, sagen die Leute. Der da kommt, ist zielstrebig, locker, lässig gekleidet, einfach durch und durch überlegen.Alter Mann spielt Schach im Park Das sieht man schon von weitem. An dem wird er scheitern, der zerknitterte Alte. Und da steht er auch schon. Sie wechseln einen kurzen Blick, der Sieger und der Alte, und schon wird wortlos aufgebaut. Es ist, als ginge ein stummes Raunen durch den Park. Die Zahl der Umstehenden wächst. Das Drama beginnt.

Mit welcher Leichtigkeit der Fremde seine Figuren zieht, unfassbar. Eben ein Sieger, endlich. Der Alte hört die stumme Begeisterung, die nicht ihm gilt, so wie sie nie ihm gegolten hat. Er fühlt die Einsamkeit, die ihn und sein Spiel umgibt, und spielt bedächtig, wie stets, Zug für Zug. Der Sieger verliert eine Figur um die andere – und mit jedem Verlust rast die stumme Menge lauter. Welche Überlegenheit. Wie zielstrebig er vorgeht! So viel Risiko nimmt er in Kauf, wahrlich ein ganz Großer.

Wahn und Wirklichkeit: Immer weiter öffnet sich die Schere. Erst im allerletzten Moment lässt Patrick Süskind sie zuschnappen und alles zerschneiden, was vorher war. Der vermeintliche Sieger kickt seinen König locker um und verlässt den Schauplatz so strahlend, wie er ihn betreten hatte. Der Alte wird nie mehr Schach spielen, und zurück bleibt eine düpierte Menge. Ein Kampf heißt diese wunderbare Geschichte.

Zum Glück passiert mir sowas nie. Zum Glück falle ich nie auf Leute rein, denn zum Glück erkenne ich Stärken und Schwächen auf den ersten Blick – und handle danach. Von Äußerlichkeiten lasse ich mich weder blenden noch abschrecken. Würden Sie mir das glauben? – Ich mir selber auch nicht, obwohl ich es so gerne so hätte.

Menschenkenntnis und Vorurteil hängen zusammen wie die zum Beten gefalteten Hände. Versuche, sie mit dem Messer zu trennen, und du bekommst ein Blutbad, egal, wo und wie du den Schnitt ansetzt. Wobei es manchmal nur darum geht, auf welchen freien Platz in der S-Bahn ich mich setze, und ein andermal hängt von meinem (Vor?)Urteil so viel ab. Manchmal habe ich effektiv nur diesen einen Augenblick, und ein andermal gibt (oder gäbe) es zusätzliche Informationen. Urteile von Dritten, wie z.B. Zeugnisse oder Gerede, Personalakten, Bewerbungsmappen usw. Soll ich ihnen vertrauen? Oder lieber meinem eigenen Urteil? Schwierig.

Wahlunterricht Italienisch, gut 50 Jahre ist das her. Ich war in dieser Zeit kein netter Schüler, das muss ich unumwunden zugeben. Aber Italienisch wollte ich wirklich lernen. Dann kam ein Diktat, und es ging um die Blumen in meinem Garten. Rosa heißt Rose, und tulipano ist das Wort für Tulpe. Und was würden Sie sagen, wenn Sie die Lösung nicht kennen, was bedeutet virgola? In meinem Diktat war es eine Blume, die immer zwischen zwei anderen stand, zwar etwas komisch, aber was sonst sollte es denn sein?! Virgola heißt Komma.

So weit, so gut. Das dicke Ende kommt jetzt: Für sowas bist du ja bekannt, hörte ich die junge Lehrerin sagen. So lernte ich indirekt meine Schülerakte kennen. Wie gesagt, ich war nicht immer nett als Schüler. Und doch fühlte ich mich hier getroffen. Ich wollte doch wirklich nur Italienisch lernen und nicht blödeln. Hätte sie die Akte vorher nicht gelesen, hätte sie wohl gelacht. Wieder schwierig.

Zweimal in meinem Berufsleben habe ich mich bei einer Einstellung über mein "Bauchgefühl" hinweggesetzt. Es wäre doch schlimm, wenn es mir als Vorgesetztem nicht gelingen sollte, zu dieser Person trotz meines Vorurteils ein positives Verhältnis aufzubauen! Beide Male ist das gründlich schiefgegangen. Wieder schwierig.

Vorurteil bedeutet, nicht alle Information zu nutzen, die man hätte oder bekommen könnte. Wobei, das muss man sehen, jedes Urteil, wirklich jedes, auf einer mehr oder weniger lückenhaften Information besteht. Auch wenn wir das so und so oft nicht wahrnehmen, weil wir den Teil der Information, den wir sehen können, als hundert Prozent wahrnehmen und den fehlenden Rest ausblenden. Dabei ist es egal, ob ich eine Tüte "Bio-Milch" kaufe oder einen anderen Menschen beurteile. Allerdings sprechen wir nur dann von einem Vorurteil, wenn wir es mit Kritik verbinden. Im anderen Fall finden wir andere Vokabeln dafür, wie etwa Erwartung, Sorge, Erfahrung, Eindruck, Wissen, Ablehnung, Vertrauen, Meinung, Wissenschaft, Pragmatismus u.a. Was natürlich nicht heißen soll, dass beispielsweise Wissenschaft und Vorurteil gleichzusetzen wären.

Ich meine das übrigens keineswegs defätistisch. Bert Brecht lässt seinen Herrn Keuner auf die Frage nach dessen aktueller Beschäftigung antworten: Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor. Wenn ich die Fehlbarkeit meines (Vor)Urteils jederzeit in Rechnung stelle und bessere Einsicht nicht als Niederlage erlebe, habe ich viel gewonnen. Dann darf ich auch weiterhin und ungeprüft an dem Grundsatz festhalten, dass ich zu wenig wohlhabend bin, um Billigprodukte zu kaufen, wohl wissend, dass vereinzelt der Testsieger auch mal vom Discounter stammt.

So viel zum Umgang mit meinen eigenen Urteilen und Vorurteilen.

Apropos bessere Einsicht: Im politischen Diskurs, falls man ihn manchmal noch so nennen möchte, erleben wir immer öfter die Heiligsprechung der Meinung. Es scheint, als stünde Meinung für manche Menschen über der banalen Wahrnehmung, erst recht über komplexeren wissenschaftlichen oder empirischen Zusammenhängen, auch über den Gesetzen der Logik und vielleicht auch über der subjektiven Wahrheit. Gut, dass ich das vielleicht noch eingefügt habe! Hätte ich es nicht, --- Vorurteil. Warum soll ich meinem Gegenüber, nur weil ich seine Ansichten idiotisch finde, unterstellen, dass er sich selbst belügt?

Schauen wir uns um auf der Welt. Wir sehen zunehmende Polarisierung, nicht nur in USA. Wir sehen die Entfremdung vieler von den Werten und Institutionen unserer Gesellschaft. Wir erleben die zunehmende Schwierigkeit, mit Menschen, die sich in ihrer Vorurteils- und Wohlfühlblase verschanzt haben und aus ihr heraus nach allem, was sich rührt, mit Meinung werfen, einen angemessenen Dialog zu führen.

Die meisten von uns sind keine Sozialarbeiter. Aber kaum einer kann von sich sagen, er oder sie hätte niemals Begegnungen, die zu dieser Beschreibung passen. Was tun wir dann? Mischen wir uns ein, beziehen wir Stellung, wenn sich die Situation bietet? Finden wir den angemessenen Ton? Geht es uns, wenn wir agieren, um die betreffende Person selbst oder/und ggf. auch um Umstehende, die vielleicht interessiert zuhören?

Und was leitet uns, wenn wir nicht agieren? Ich glaube, es ist nicht immer die Angst vor körperlichen Attacken oder rüden Beschimpfungen. Nicht selten, so scheint mir, und ich schließe dabei von mir auf andere, steckt dahinter eher Hilflosigkeit. Wie reagiere ich, wenn jemand über mir einen Kübel voll von Vorurteilen und Ressentiments ausleert? Wie finde ich Worte, die zugleich freundlich, aber unmissverständlich in der Abgrenzung und verständlich in der Botschaft sind?

Viele Gelegenheiten habe ich nicht. Aber ich habe mir zum Vorsatz genommen, von den wenigen keine mehr vorbeigehen zu lassen, ohne ein angemessenes Wort wenigstens versucht zu haben. So bediene ich zumindest nicht das bequeme Vorurteil, dass ja sowieso nichts zu machen sei.

Vorurteile – das Thema ist uferlos! Haben wir noch Lust zu einem letzten Gedanken? Na dann.

Tempora mutantur, et nos mutamur in illis. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Das ist nicht wirklich antik, sondern nur ein paarhundert Jahre alt, aber irgendwie natürlich doch aus der Antike. Ovid hatte einen ähnlichen Vers, und von ihm hat jemand den obigen Satz abgeleitet. Eigentlich geht es um das Altern. Darum, wie wir auf der Zeitachse beständig weitergeschoben werden, ob es uns gefällt oder nicht. Aber manchmal bleiben wir auch einfach stehen und bemerken nicht, wie sich die Zeit heimlich an uns verbeischleicht. Als mittlerweile einer der Älteren kann ich das beurteilen ….

Da habe ich mich also vor Jahr und Tag intensiv und sorgfältig über ein Thema schlau gemacht und mir ein Urteil gebildet. Schließlich war mir die Sache wichtig, und ich wollte keine halben Sachen machen. Gut, dass ich das jetzt für immer weiß! – Wirklich für immer? Oder ist es nicht manchmal so, dass sich die Tatsachen, die damals maßgebend waren, ganz allmählich oder auch ruckartig verändert haben, ohne dass ich mir das bewusst gemacht hätte?

Die Anbieter von Handy- oder Stromtarifen nützen das systematisch aus, indem sie mir einmal das Gefühl geben, ich hätte jetzt ganz doll verglichen und damit die Frage des günstigsten Angebots (für immer) geklärt. Und dann hoffen sie, dass ich möglichst lange in diesem Glauben verharren möge. Das ist ein Beispiel, aber es geht nicht nur um die paar Euro für den Handyvertrag.

Der gleiche Effekt ist nämlich auch im Spiel, wenn ich versuche, meine mühsam gesammelten Lebenserfahrungen an die nächste oder übernächste Generation weiterzugeben. Das kann gut gehen, und nichts ist schöner als ein geglückter Generationen-Dialog. Damit er aber Chancen hat zu gelingen, bin ich als der Ältere gefordert, sorgsam zu prüfen, ob denn das Umfeld, in dem meine eigenen Erfahrungen gewachsen sind, noch zu dem passt, was heute auf die Jüngeren einwirkt. Kann ich mit JA antworten, ist es einfach. Bei einem klaren NEIN ebenso, nur umgekehrt. Dann braucht es die Größe, das vor mir selber einzugestehen.

Meistens ist es vielleicht ein "halb und halb". Das öffnet die Tür zu einem Dialog, von dem am Ende beide etwas haben. Damit nicht aus dem begründeten Urteil von damals allmählich ein Nach-Urteil wird, als spezielle Form des Vorurteils: Vom Zeitablauf ins Unrecht gesetzt. Aus dem gleichen Grund warnen Historiker davor, Gegenwartsprobleme mittels historischer Analogien lösen zu wollen. Freilich sind dort noch viel größere Zeitintervalle im Spiel, und das Problem verschärft sich entsprechend. Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, verbünde dich mit ihm. So lebe ich recht friedlich mit meinen Vorurteilen und ihrer Verwandtschaft, solange sie sich anständig benehmen und an meine Regeln halten. Wenn sie aber zudringlich werden und mich in den Sumpf locken, weise ich sie scharf zurecht – bilde ich mir wenigstens ein.

Von Dr. Christian Thieme

 

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