Thiemes Abschied zum 07.12.2022

„Philosophie für heute“ – ein Rückblick.
Nach gut dreißig Ausgaben von Thiemes Zettelkasten soll jetzt Schluss sein. Besser müsste ich sagen: will jetzt Schluss sein, aber das passt sprachlich nicht. Ah, endlich! – wird vermutlich kaum jemand sagen, aus einem einfachen Grund: Das Lesen war ja sozusagen freiwillig, und wer bis hierher ab und zu mitgelesen hat, fand meine Texte vermutlich nicht total daneben, sonst hätte sie oder er sie ja nicht weitergelesen. Methodisch gesehen ist das ein Beispielfall für den sogenannten Volunteer-Bias. Bias ist das Wort dafür, wenn in der Planung oder Durchführung einer Studie oder Erhebung etwas systematisch falsch läuft. Hier speziell geht es um den systematischen Fehler, der z.B. entsteht, wenn bei einer Sache nur die berücksichtigt werden, die sich spontan zu Wort melden. Deswegen habe ich keine rechte Vorstellung davon, bei wie vielen oder wenigen Menschen die Themen insgesamt welche Reaktionen ausgelöst haben. Wer mir dazu etwas schreiben möchte, ist weiterhin herzlich eingeladen! Ich freue mich darauf (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!). Rückwirkend kann ich natürlich nichts mehr besser machen. Aber solange das Leben weitergeht, geht auch das Denken weiter, und vielleicht ja auch immer wieder irgendwo das Schreiben.
Philosophie für heute war das Motto, das nebenbei gesagt nicht ich selber so formuliert hatte. Aber ich fand es schon einigermaßen passend, vielleicht etwas anmaßend. Und jetzt in der Rückschau?
Komischerweise hat sich der Zusatz für heute als der schwierigere Teil der Mission entpuppt. Denn kaum waren die Zettel halbwegs in Gang gekommen, fing die Welt an, verrückt zu spielen. Die Gefahr, ins Tagesaktuelle abzugleiten, lauerte immer wieder an jeder Ecke. Doch für das, was jeden Tag auf der Welt passiert, gibt es jeden Tag kluge und lesenswerte Kommentare, zu denen mein Zettelkasten nicht sporadisch alle vier Wochen einen weiteren hinzufügen muss. Das braucht niemand, einerseits. Aber kann ich denn andererseits über irgendeines der „unpolitischen“ oder „philosophischen“ Themen schreiben, sei es Quittenernte, Freundschaft oder Mathematik, während gleich nebenan die Bomben regnen, oder ein außer Rand und Band geratener Ex-Präsident mit der Spitzhacke auf seine eigene Demokratie losgeht, oder sich in Bergamo die Kühlhäuser mit den frühen Corona-Opfern füllen, um nur drei Beispiele zu nennen. Ich habe versucht, mit den Themen und mit meiner Art, sie aufzubereiten, die schwierige Gratwanderung zu bestehen. Damit hat der Zettelkasten ein etwas anderes Gesicht bekommen, als ich das anfangs erwartet hatte.
Philosophie für heute – mit dem Anspruch bzw. der Vorgabe, Philosophie zu treiben, hatte ich dagegen erstaunlich wenige Probleme. Das liegt nicht etwa an einer Überschätzung meiner Beiträge, sondern eher am Umgang mit dem Begriff Philosophie. Eine platte und fast resigniert scheinende Definition habe ich einst in einem Seminar gehört: Philosophie findet demnach statt, wenn diejenigen, die etwas betreiben, das, was sie tun, als Philosophie bezeichnen. Das ist zwar provokant überspitzt, aber trotzdem nicht ganz so doof, wie es sich zuerst anhört. Natürlich ist damit nicht die „Philosophie“ des Bordellbesitzers gemeint, wenn er etwa die Methoden, wie er seinen Machtbereich „sauber“ hält, als seine Philosophie bezeichnet. Aber es gefällt mir, wenn ich erzählt bekomme, wie die Erzieherin im Kindergarten mit den kleinen Enkelkindern philosophiert, und wie viel Freude die daran haben. Philosophie ist nichts Abgefahrenes und kein Minderheitenprogramm. Philosophie profitiert davon, wenn sie sozusagen demokratisiert wird.
Zugegeben, mit meiner Freude daran, immer wieder den Spuren und Wurzeln der Gegenwart nachzuspüren und sie zurückzuverfolgen bis in die Antike, habe ich meine gerade proklamierte Parole wahrscheinlich immer wieder Lügen gestraft. Insofern wäre ich vielleicht nie ein guter Angler geworden, weil ich an den Haken zu oft Köder gehängt hätte, die (nur) mir schmecken und nicht den Fischen. Aber das passt ja auch wieder nicht, denn ich wollte ja niemandem einen Haken ins Maul schmuggeln, an dem er oder sie hängenbleiben möge, wie es beim Angeln der Fall ist. Eher schon wie Bert Brecht in seiner Erzählung Der verwundete Sokrates über diesen sagt, dass er als Sohn der Hebamme seinen Gesprächspartnern lieber zu eigenen Kindern verhelfen wollte, als ihnen Bastarde anzuhängen, ihnen also fremde Gedanken unterzujubeln, die mit deren eigenem Denken nichts zu tun haben. So gesehen wäre ich lieber Sokrates geworden als Christian Thieme, aber jeder muss halt mit dem auskommen, was er hat.
Eines jedenfalls gehört zur Philosophie, und das ist die Wurzeltriebigkeit. Nicht Meinungen sollen im Vordergrund stehen, sondern die Wege des Denkens, aus denen ganz am Ende vielleicht fertige Meinungen resultieren. Oder neue Wurzeln, denn was ist denn beim Denken jemals „fertig“… Und dazu ein eigener, zuverlässiger ethischer Kompass, dessen man sich beim Denken in jeder Situation immer wieder bewusst wird. Das ist manchmal schwerer als gedacht.
Ich wünsche Ihnen ein gutes Jahr 2023, oder wenigstens ein so gut es geht Jahr – oh je, wie macht man aus so gut es geht ein Adjektiv?! Na, Sie wissen schon, was gemeint ist.
Alles Gute also!
Ihr Christian Thieme
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